DEKALOG - Ökumenische Vesper
Predigt in der St. Matthäus-Kirche Berlin
Micha 6, 1-8
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus…
Liebe Schwestern und Brüder,
„Tim soll mal ein anständiger Mensch werden.“ „Julia soll lernen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.“ Sätze wie diese habe ich oft aus dem Mund von Eltern gehört, die ihr Kind taufen lassen wollten. Und wenn diese Väter und Mütter ihren Sohn oder ihre Tochter später zum Konfirmandenunterricht anmeldeten, hieß es nicht selten: „Unser Kind soll erfahren, was die christlichen Werte sind. Vor allem soll es die zehn Gebote kennenlernen.“
Solche Erwartungen mag man korrigieren oder doch mindestens ergänzen wollen. Die Taufe ist ja mehr als die Aufnahme in eine Gemeinschaft, die sich bestimmten moralischen Prinzipien verpflichtet weiß. Und auch der Konfirmandenunterricht ist mehr als die Vermittlung der zehn Gebote. Der elterliche Wunsch offenbart aber zweierlei: Zum einen, dass nicht immer schon ausgemacht ist, was gut ist und was böse. Das muss man lernen. Heute wohl in viel stärkerem Maße als noch vor einigen Jahrzehnten, da es oft hieß „Das tut man nicht.“ Für unsere Eltern und erst recht für die Großeltern war einigermaßen klar, was „man“ tut und was „man“ lässt. Heute versteht sich das nicht mehr von selbst; die Gründe dafür sind vielfältig. Zugleich aber – das ist das zweite - vermuten Menschen, dass die christlichen Kirchen die benötigte Orientierung geben können – auch und gerade in einer immer unübersichtlicher gewordenen Welt. Und sie vermuten richtig. „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist…“ So haben wir es eben in dem Abschnitt aus dem Buch des Propheten Micha gehört. Diese Worte waren nicht zufällig auch einmal die Losung eines Evangelischen Kirchentages…
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ So klingt das in der zum Reformationsjubiläum revidierten Bibelübersetzung Martin Luthers. Hören wir daneben auch die ebenfalls gerade neu bearbeitete Einheitsübersetzung. Nicht nur, weil dies eine ökumenische Vesper ist, sondern weil die Einheitsübersetzung an dieser Stelle genauer übersetzt als die Lutherbibel es tut. Und auf Genauigkeit kommt es ganz besonders an, wenn es um die Frage nach Gut und Böse geht: „Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott.“
Gut ist es, „achtsam mit(zu)gehen mit deinem Gott.“ Das ist überraschend. Es ist also nicht so, als gäbe es eine Liste von Lebensregeln, die man nur alle beherzigen müsste, um ein guter Mensch zu sein. Das Gute ist vielmehr ein Prozess, ein Weg, ein Voranschreiten, allerdings kein einsamer Weg und kein einsames Voranschreiten: „…achtsam mitgehen mit deinem Gott.“
Was nimmt der Mensch wahr, wenn er achtsam mitgeht mit seinem Gott? Gott selbst gibt durch den Propheten Micha die Antwort. Sie ist an das Volk Israel gerichtet, dass offenbar gerade eine erhebliche Sehschwäche hat: „Was habe ich dir getan, mein Volk, und womit habe ich dich beschwert? Das sage mir! Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir hergesandt Mose, Aaron und Mirjam…“ Und wir Christen hören, wie Gott fortfährt: „Denkt doch daran, wie ich es nicht ertrug, euch fern von mir zu sehen. Habe ich mich nicht zu euch aufgemacht und bin Mensch geworden? Habe ich nicht für euch gelitten und für euch den Tod besiegt? Habe ich nicht meinen Geist über euch ausgegossen?“ Der Weg Gottes führt also zu seinem Volk Israel und in Jesus Christus auch zu uns. Es ist der Weg seiner unfassbaren Liebe. Diesen Weg achtsam mitzugehen, heißt schlicht: sich Gottes Liebe gefallen zu lassen. Für sich wahr sein zu lassen, was Gott schon Israel zusagte: „Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“ (Jer. 31,3). Wer so geliebt und beschenkt ist, wem so viel Gutes widerfahren ist, der ist dazu prädestiniert, aber auch angehalten, seinerseits Gutes zu tun.
„Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott.“ Gut ist es, „Recht (zu) tun“. Das ist wohl wahr und leuchtet angesichts massenhaften Unrechts in der Welt unmittelbar ein. Dabei müssen wir unsere Blicke gar nicht in die Ferne richten, etwa nach China oder Russland oder zu den Philippinen. In der Türkei, die nicht wenige bis vor kurzem für ein künftiges Mitglied der Europäischen Union hielten und wo viele Deutsche Urlaub machten und noch machen, werden regierungskritische Stimmen systematisch unterdrückt und missliebige Journalisten kurzerhand verhaftet. In unserem Nachbarland Polen wird daran gearbeitet, die dritte Gewalt im demokratischen Rechtsstaat, die Judikative, zu entmachten. In Ungarn werden Geflüchtete systematisch drangsaliert…
Die aktuelle Liste von Menschenrechtsverletzungen weltweit ließe sich mühelos verlängern, doch müssen wir auch uns selbst in den Blick nehmen. Dazu leiten uns die zehn Gebote an, die die Achtung elementarer Rechte einfordern. Das DEKALOG-Projekt nimmt jetzt das neunte Gebot in den Blick: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.“ Mit dem Wort „Begehren“ rührt das Gebot an eine Wurzel von Menschenrechtsverletzungen: die Gier. Die Gier nach Besitz, nach Macht, nach Ansehen. Gier gibt es nicht nur in großen Automobilkonzernen, die ihre Kunden betrügen und Vertrauen verspielen. Gier und ihre Schwester, die Missgunst, wohnen in vielen Herzen. Das neunte Gebot nötigt zur Selbstprüfung: Habe ich, was ich zum Leben brauche? Neide ich anderen ihren Besitz oder ihren Einfluss? Will ich mehr haben und was und warum? Zugleich leitet das neunte Gebot dazu an, für das Recht anderer einzutreten. Darauf weist Martin Luther hin, wenn er im Kleinen Katechismus erklärt: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten nicht mit List nach seinem Erbe oder Hause trachten und mit einem Schein des Rechts an uns bringen, sondern ihm dasselbe zu behalten förderlich und dienlich sein.“
„Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott.“ Gut ist es, „Güte (zu) lieben“. Warum nun noch die Güte hinzugenommen wird, erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Man kann ja mit Fug und Recht fragen: „Genügt es nicht, Recht zu tun, für das Recht einzutreten, dem Recht zur Herrschaft zu verhelfen? Wenn das alle täten, dann müsste doch eigentlich alles gut sein.“ Leider stimmt das nicht. Leider kann die strikte Anwendung des Rechts manchmal unbarmherzig und lebensfeindlich sein. Darauf hat Jesus in seinen Predigten und mit seinem Handeln unermüdlich hingewiesen. Ja, die Frau, die beim Ehebruch ertappt wurde, hätte nach damaligem Recht und Gesetz gesteinigt werden müssen. Aber wäre das gut gewesen? Deshalb sagt Jesus zu ihr: „Geh hin und sündige in Zukunft nicht mehr!“ Nein, nach dem jüdischen Gesetz hätte er die gekrümmte Frau nicht am Sabbat heilen dürfen. Aber wäre das gut gewesen? Deshalb weist Jesus seine Kritiker zurecht und macht die Frau gesund. Und ja, die Jünger Jesu hätten am Sabbat die Ähren stehen lassen und hungern müssen. Aber wäre das gut gewesen? Deshalb lässt Jesus sie gewähren und entgegnet den Pharisäern: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“
Es ist gut, Recht zu tun, doch kann die strikte Anwendung des Rechts manchmal unbarmherzig und lebensfeindlich sein. Richterinnen und Richter wissen das und wägen ab. Manche Kirchengemeinden gehen einen besonderen und nicht unumstrittenen Weg zwischen Recht und Güte. Sie nehmen Geflüchtete, die auf Grund einer rechtsstaatlichen Entscheidung zur Ausreise aus Deutschland verpflichtet sind, in ihre Räume auf. Sie tun das nicht, weil sie den Rechtsstaat nicht achten oder sich gar über seine Entscheidungen hinwegsetzen. Sie tun das, weil sie fest davon überzeugt sind: Wenn dieser konkrete Mensch Deutschland verlassen muss, droht ihm Unrecht. Deshalb verzögern sie die Abschiebung und bitten die zuständige staatliche Behörde, ihre Entscheidung noch einmal zu überprüfen. Mit diesem so genannten „Kirchenasyl“ versuchen Christen, Recht und Güte zueinander in Beziehung zu setzen, weil sie vom Propheten Micha gehört haben, dass zum Gutsein beides gehört: Recht zu tun und die Güte zu lieben.
„Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott.“ Das sind klare Worte, die wir da vom Propheten Micha hören, und zu Recht erwarten die Menschen von den Kirchen, dass sie das weiter sagen – nicht nur im Konfirmandenunterricht.
Und der Friede Gottes…