Sachor - Gedenke: Der Zukunft ein Gedächtnis geben
Festvortrag zur Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sachor – Gedenke!
„Wenn du auf deinem Acker geerntet und eine Garbe vergessen hast auf dem Acker, so sollst du nicht umkehren, sie zu holen, sondern sie soll dem Fremdling, der Waise und der Witwe zufallen, auf dass dich der HERR, dein Gott, segne in allen Werken deiner Hände. Wenn du deine Ölbäume geschüttelt hast, so sollst du nicht nachschütteln; es soll dem Fremdling, der Waise und der Witwe zufallen. Wenn du deinen Weinberg abgelesen hast, so sollst du nicht nachlesen; es soll dem Fremdling, der Waise und der Witwe zufallen. Denn du sollst daran denken, dass du Knecht in Ägyptenland gewesen bist. Darum gebiete ich dir, dass du solches tust.“ (Text 5. Mo 24,19-22)
Sachor – Gedenke! Das Jahresthema der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit ist in diesem Jahr eine Aufforderung, ein Imperativ. Mitten in unsere schnelllebige Zeit hinein werden wir aufgefordert, inne zu halten. Doch warum, bedarf es dieser Aufforderung? Sie ist wichtig, weil wir vieles Vergessen. Im Alltag gerät so vieles aus dem Blick und geht uns verloren. Das ist nicht immer tragisch, aber mitunter drohen auch Ereignisse von fundamentaler Bedeutung, in Vergessenheit zu geraten. Die Aufgabe, zu gedenken, ist daher von grundsätzlicher Wichtigkeit. Gedenken bedeutet die Erinnerung an etwas oder jemanden wachzuhalten und zu pflegen. Das Gedenken gibt uns zudem Möglichkeiten, unser eigenes Leben zu verorten, es als Teil der Geschichte Gottes mit den Menschen zu begreifen.
Aus fast allen Kulturen kennen wir verschiedene Formen des Totengedenkens. Gott selbst behält uns zwar auch dann noch im Gedächtnis, wenn alle anderen uns vergessen haben oder selbst gestorben sind: Aber auch das Totengedenken gibt dem menschlichen Leben einen Wert über die Lebenszeit hinaus. Es verbindet uns mit Menschen, die wir persönlich gekannt haben, auch wenn der Tod uns voneinander trennt. Es hält die Erinnerung an Menschen wach, die etwas für uns getan haben und die bedeutsam für unser Leben geworden sind. Persönliche Erinnerungen können sich mit denen anderer Menschen auch zu einer kollektiven Erinnerung verbinden, eine ganze Gemeinschaft formen und ausmachen. Als Juden, Christen und Muslime erinnern wir uns gemeinsam an die Geschichten der Taten Abrahams. Und wir haben einen je eigenen Blick auf die Geschichten und Taten Moses, Jesu und Mohammeds. Es sind Geschichten, die uns eine Identität geben, die eine Gruppe von der anderen unterscheidbar machen, die uns manchmal auch scheiden und dennoch miteinander verbinden. Es sind Geschichten, die unser Leben bereichern und unsere Kultur prägen. Die biblischen Geschichten zu kennen, ist eine grundlegende Voraussetzung, um einen Großteil unserer (europäischen) Literatur, Musik und bildenden Kunst zu verstehen.
Eine solche Geschichte wird auch von Josef, dem Sohn Jakobs, der auch Israel genannt wurde, erzählt. Als junger Mann wurde Josef von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft. Viele Jahre später, während einer Hungersnot, suchten die Brüder ihn dort auf, um Getreide von ihm zu kaufen. Eine lange Zeit war vergangen, seit sie ihn verkauft hatten. Zu diesem Menschenhandel war es gekommen, weil die Brüder verärgert waren über die Träume Josefs, von denen er ihnen erzählt hatte. Josef hatte geträumt, er habe mit den Brüdern auf dem Feld Garben gebunden und dann hätten sich die Garben der Brüder vor seiner Garbe verneigt. Und in seinem zweiten Traum neigten sich elf Sterne, die Sonne und der Mond vor ihm. Dies verärgerte die elf Brüder so sehr, dass sie Josef zunächst töten wollten. Doch dann kam eine Karawane vorbei, die auf dem Weg nach Ägypten war, und kaufte Josef den Brüdern ab. Das war seine Rettung, aber auch die Rettung der Brüder und ihrer Familien. Denn, wie Sie wissen, wurde Josef auf einigen Umwegen ein wichtiger Beamter des Pharaos und organisierte die gesamte Nahrungsmittelversorgung während der Hungersnot. Durch kluge Vorsorge während guter Erntejahre hatte er einen Vorrat für knappe Jahre geschaffen. Getreide aus diesem Vorrat wollten seine Brüder nun, Jahre später, kaufen. Sie erkannten Josef selbst dann nicht, als sie direkt vor ihm standen. Aber er erkannte sie und gedachte der Träume, die er von ihnen geträumt hatte.
Wie oft wird Josef wohl in der Fremde an seine Familie gedacht haben? An den geliebten Vater und den Lieblingsbruder Benjamin? Der Autor der wunderschönen Josefsgeschichte, in der die Worte so behutsam ausgewählt sind, setzt in diesem Zusammenhang bewusst das Wort “sachor“: „Und Josef gedachte der Träume, die er von ihnen geträumt hatte“ (Gen 42,9a) – dieses „sachor“ schlägt eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart, so wie jede Erinnerung – und sei sie noch so kurz. Der Traum Josefs ist wahr geworden und die einst geträumte Konstellation – damals schien sie ihnen so schrecklich - schafft nun eine Zukunft für Josefs Geschwister. Diese siedeln anschließend gemeinsam mit dem Vater, die Mutter Josefs ist bereits verstorben, in Ägypten an und werden dort zu einem großem Volk.
Die Familie Josefs ist so beliebt und hat solch einen großen Einfluss in dem Land, dass alle Ägypter für vierzig Tage trauern, als Jakob-Israel stirbt. Der Leichnam wird unter Begleitung der Ehrengarde des Pharaos in das Land der Vorfahren gebracht, um dort begraben zu werden. Die Geschwister bleiben weiterhin in Ägypten und ihre zahlreiche Nachkommen. Doch dann geschieht etwas Schreckliches: Ein neuer Pharao kommt an die Macht. Die Bibel beschreibt ihn als geschichtsvergessenen Mann. Er erinnert sich nicht der Taten Josefs und stimmt Beratern zu, die zur Unterdrückung des Gottesvolkes aufrufen. Die Israeliten müssen von nun an harte Fronarbeit leisten – bis sie, angeführt von Mose, das Land verlassen.
Josefs Lebensgeschichte ist sicher eine außergewöhnliche, auch deshalb erinnern wir uns an sie. Vielleicht erinnern Sie sich ja noch daran, wie sie die Geschichte zum ersten Mal gehört haben. Ich meine noch zu wissen, dass ich sie als kleiner Junge erzählt bekommen habe - im Kindergottesdienst in Berlin Wilmersdorf, als ich etwa 5 Jahre alt war. Es gibt Ereignisse, die für das eigene Leben und Erleben bedeutsam werden. Das kann eine erste Begegnung mit einer Geschichte sein, ein besonderes Wort, das zu uns gesagt wurde oder ein anrührendes Ereignis. Es gibt besonders dichte Momente in unseren Lebensgeschichten, die uns lange begleiten. Dazu kann der Tod eines nahen Menschen gehören, aber auch die Geburt eines Kindes, oder die eigene Eheschließung. Und während des Heranwachsens gibt es besondere Tage: Einschulung, Erstkommunion, Konfirmation, Bar oder Bat mizwah. Die Feier solcher Tage und die Erinnerung an solche Tage, wie auch die Feier unseres eigenen Geburtstags, strukturieren unser Leben mit seinen unterschiedlichen Phasen. Die Erinnerung trägt dazu bei, dass wir unser Leben als kontinuierliches Geschehen begreifen und nicht nur als Aneinanderreihung von Einzelmomenten. Gedenktage, wie beispielsweise Ehejubiläen, leben von der Kraft der Erinnerung und geben Halt und Vergewisserung für die Zukunft.
Gelegentlich dürfen oder müssen wir so genannte große Ereignisse von Bedeutung für die Weltgeschichte miterleben. Sie ermöglichen es uns, unser Leben als in den Lauf der Geschichte eingebettet zu begreifen. Vor drei Wochen gab der Papst bekannt, dass er zurücktreten werde. An diesen Tag werden sich viele Menschen noch lange erinnern, sicherlich wird dieses Datum in die Geschichtsschreibung eingehen – genauso wie Wahl Barack Obamas zum ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben dieses geschichtlich bedeutsame Ereignis miterlebt.
Wissen Sie noch, was Sie am 11. März 2001 getan haben? Nur wenige werden sich wohl daran erinnern. Aber der gleiche Tag ein halbes Jahr später dürfte sich in das Gedächtnis der meisten von uns eingebrannt haben: Die terroristischen Anschläge des 11. September 2001 haben unsere Welt verändert. Ich kann mich noch gut an die Situation erinnern, in der ich erfahren habe, dass die Türme des World Trade Centers eingestürzt sind, weil zwei Flugzeuge hineingeflogen sind. Die Fernsehbilder habe ich – wie wir wohl alle - bis heute vor Augen. Ich erinnere mich an den Staub und die Flammen. Zunächst konnte ich es gar nicht glauben – es kam mir vor, wie im Film.
Neben schönen Ereignissen spielen für unser Gedenken auch schreckliche Ereignisse eine Rolle. Am Sabbat vor dem Purimfest wird aus dem 5. Buch Mose folgendes gelesen:
„Denke daran, was dir die Amalekiter taten auf dem Wege, als ihr aus Ägypten zogt: wie sie dich unterwegs angriffen und deine Nachzügler erschlugen, alle die Schwachen, die hinter dir zurückgeblieben waren, als du müde und matt warst, und wie sie Gott nicht fürchteten.“ (5.Mose 25, 17f). Man erinnert sich an die Gefahr, in der man einst war, und an Menschen, die ihr Leben lassen mussten aufgrund eines feigen Angriffs. Dieser Rückblick zu einem Moment der Gefährdung und der Niederlage scheint keine Geschichte zu sein, mit der man in die Woche eines so fröhlichen Festes gehen kann, wie es das Purimfest ist. Bei fröhlichen Festen klammern wir das Traurige und Erschreckende oft aus. Wenn es jemand zur Sprache bringt, sagen wir: Das muss doch nicht sein, lasst uns doch jetzt fröhlich sein und das Vergangene hinter uns lassen. Doch das gelingt nicht. Denn auch die Vergangenheit ist ein Teil von uns. Unsere eigene Vergangenheit bleibt ein Teil unseres Lebens, sowie vergangene Ereignisse ein Teil unserer Geschichte bleiben. Die Erinnerung an vergangenes Unheil bietet wichtiges Orientierungswissen. Schlechte Erfahrungen machen uns vorsichtiger und hoffentlich auch sicherer und klüger.
Die Identität einer Familie, einer Gemeinschaft, eines Volkes wird oft auch von Ereignissen geprägt, die nicht alle Mitglieder dieser Gemeinschaft selbst miterlebt haben. Damit diese Ereignisse im Gedächtnis bleiben, bedarf es der Auskunftsbereitschaft von Zeitzeugen – sofern es sie gibt – und es bedarf bestimmter Orte und Zeiten, die zur Vergewisserung des Geschehenen beitragen. Diejenigen, die das Ereignis miterlebt haben, können davon erzählen.
Mir ist noch jetzt die Stimme von Marcel Reich Ranicki im Ohr, der im letzten Jahr zum Holocaust-Gedenktag vom Leben im Warschauer Ghetto erzählt. In diesem Jahr sprach Inge Deutschkron, die im Nachkriegsdeutschland immer wieder den Satz hören musste „Nun vergessen Sie doch“ (aus der Rede vom 30.1.2013), ein Satz der sie sprachlos machte. Ich bin froh, dass sie dennoch ihre Stimme erhebt und das Gedenken an die Opfer der Schoa wachhält. Es sind schwächer werdende Stimmen zweier in die Jahre gekommenen Menschen. Noch dürfen wir sie hören, noch überzeugt sie uns und fesselt Hörerinnen und Hörer, noch hält sie die Erinnerung wach.
Eine andere, aber sicher nicht weniger verständliche Sprache sprechen die Orte des Gedenkens. Authentische Orte besitzen die Kraft, dieses Gedenken immer wieder anzumahnen und im Fluss zu halten. Sie halten Erinnerungen wach. Ein besonderer Ort der Erinnerung an die Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft wird für mich und sicher auch für viele andere immer das Konzentrationslager Bergen-Belsen sein. Es ist das erste Konzentrationslager, das ich als Jugendlicher besucht habe. Über die brutale und systematische Ermordung von Juden hatte ich vorher schon einiges gehört. Es war ein Thema nicht nur des Geschichtsunterrichts. Ich wusste, dass 6.000.000 Juden und von den Nationalsozialisten als Juden definierte Menschen ihr Leben lassen mussten aufgrund einer menschenverachtenden Ideologie, die in unserem Land erschreckenderweise mehrheitsfähig geworden war. Doch obwohl ich all dies zuvor wusste, veränderte sich etwas in meinem Leben, als ich nach Bergen-Belsen kam. Ich stand an einem Ort, an dem einige Jahre zuvor unsagbar Schreckliches geschehen war. An diesem Ort schossen mir viele Fragen durch den Kopf und immer wieder diese eine: „Ist jemals wieder Versöhnung möglich, nach diesen furchtbaren Taten?“ Und bitte, glauben Sie mir, Anrede, ich freue mich über jedes der vielen Zeichen der Versöhnung und über gewachsene Freundschaften, wie ich sie auch im Kontext unserer christlich jüdischen Zusammenarbeit erfahre.
In den folgenden Jahren als Pfarrer im Gemeindedienst und im Konsistorium habe ich immer wieder authentische Orte der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, Orte des Leidens unschuldiger Opfer aufgesucht. Mit Konfirmandinnen und Konfirmanden habe ich das Konzentrationslager Sachsenhausen regelmäßig besucht und später mit Vikarinnen und Vikaren das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Für die Vikarinnen und Vikare war es selten der erste Besuch eines Konzentrationslagers und trotzdem veränderte sich unser Nachdenken über unsere Geschichte nocheinmal. Das Wissen um die schrecklichen Morde wurde am authentischen Ort ein anderes Wissen, es berührte nicht länger vorranging den Intellekt, es berührte die Emotion, unser Empfinden als einzelne und als Gruppe. Aus Fakten-Wissen wurde existentielles Wissen: Uns wurde bewusst: Was an diesem Ort geschah, geht uns unmittelbar an. Es gehört zu unserer Geschichte, und zu unserer Identität muss es gehören, sich dazu zu verhalten, damit umzugehen – auch wenn wir erst nach 1945 geboren sind.
Die Erinnerung an die Shoa und ihr Grauen, das unsere Vorstellungskraft übersteigt, bedarf solcher Orte: Für die Flut der Gefühle, für das Erahnen des Ausmaßes des Bösen, für das Wissen um Opfer, Täter und Schreckensorte. Und nicht zuletzt: um nicht zu vergessen und sich an die Verantwortung zu erinnern, die aus dieser unserer Geschichte resultieren muss. Die Verantwortung, einzustehen für Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung zwischen Menschen, die unterschiedlich sind. Und die Verantwortung, zu erinnern, zu gedenken. Das alles hat nichts damit zu tun, eine Wunde nicht verheilen lassen zu wollen, im Gegenteil.
Die Aufgabe oder Pflicht zur Erinnerung stellt sich nicht nur den direkt von der Shoa betroffenen Menschen. Sie betrifft uns alle, weil die Ausmaße der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft so grausam waren, dass wir seitdem gefordert sind, anders über den Menschen, über Gott und über die Möglichkeiten menschlichen Handelns nachzudenken. Immer wieder müssen wir uns diesem Nachdenken stellen, das auch die dunkelsten Seiten menschlichen Handelns in den Blick nimmt. Immer wieder braucht es deshalb neben den Orten auch Zeiten des Erinnerns: regelmäßig wiederkehrende Gedenktage, die das öffentliche Leben prägen und mitbestimmen.
Seitdem ich Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union bin, nehme ich jährlich an der bereits erwähnten Gedenkveranstaltung zum Holocaust-Gedenktag, dem Jom haShoa teil, den wir in Deutschland am 27. Januar begehen, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 1945. Bundespräsident Roman Herzog hat diesen Tag 1996 zu einem nationalen Gedenktag erklärt, und im Oktober 2005 hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution angenommen, die alle Mitgliedstaaten dazu aufruft, an diesem Tag der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken. In Israel wird dieser Tag etwas später gefeiert, am 27. Nisan, also nach dem Pessachfest. Wann auch immer sie begangen werden: An solchen Gedenktagen, und ganz besonders an diesem, wird das Diktum, Geschichte werde von den Siegern geschrieben, gebrochen. Geschichte ist hier, um es mit den Worten von Nelly Sachs zu sagen, als „Landschaft aus Schreien“ wahrzunehmen. Die Erinnerung, die sich auch der dunklen Seiten der Geschichte annimmt, wachzuhalten, mahnt uns das Sabbatgebot, das im fünften Buch Mose mit dem Gedenken an die Knechtschaft in Ägypten begründet wird:
„Am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Rind, dein Esel, all dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt, auf dass dein Knecht und deine Magd ruhen gleichwie du. Denn du sollst daran denken, dass auch du Knecht in Ägyptenland warst und der Herr, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit mächtiger Hand und ausgestrecktem Arm. Darum hat der Herr, dein Gott, geboten, dass du den Sabbattag halten sollst.“ (5.Mose 5,15f)
Anrede, das Wort sachor – gedenke kommt noch häufiger in der hebräischen Bibel vor. Fast 300-mal wird es in verschiedenen Kontexten gebraucht, oft im Imperativ – als Aufforderung zur Gestaltung gelingenden Lebens. Im Buch Josua heißt es gleich zu Beginn: „Denkt an das Wort, das euch Mose, der Knecht des Herrn, geboten hat: Der Herr, euer Gott, hat euch zur Ruhe gebracht und euch dieses Land gegeben“ (Josua 1, 13 – Luther).
Die Beziehung Gottes mit seinem Volk Israel findet ihre Gestalt im wechselseitigen Gedenken. Gottes Gedenken drückt sich in helfender Zuwendung aus (Schottroff 514), sie ist ein Segen für den Menschen. Gottes Gedenken wird in der hebräischen Bibel als folgenreich beschrieben. Wenn Gott des Menschen gedenkt, wendet sich sein Schicksal zum Guten. Gottes Gedenken ist dem Menschen unbegreiflich – „Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst?“ fragt der Psalmbeter und deutet damit die herausragende Stellung des Menschen in Gottes Schöpfung an. Das Motiv der Bundestreue spielt eine wichtige Rolle. Gott ist immer wieder einen Bund mit dem Menschen, mit seinem Volk eingegangen. Die Erinnerung an den Bund führt dazu, dass Gott dem Menschen beisteht.
Die Psalmbeter erbitten einerseits dieses Gedenken Gottes und danken andererseits für erfahrenes Gedenken. So kann ein Betender klagen: „Gedenke deiner Gemeinde, die du vorzeiten erworben hast“ (Ps 74,2) und anderer loben: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, denn seine Güte währet ewiglich. Der uns gedachte, als wir unterdrückt waren, denn seine Güte währet ewiglich.“ (Ps 136, 1.23).
Wechselseitig ist dieses Gedenken, weil die Bibel auch das Gedenken der Menschen kennt. Es geschieht als vergegenwärtigendes Gedenken der Heilshandlungen Gottes: „Darum denke ich an die Taten des Herrn, ja ich denke an deine früheren Wunder und sinne über alle deine Werke und denke deinen Taten nach“ (Ps 77,12f). Hier wird Vergangenes lobend aufgegriffen, weil es für die Gegenwart von Bedeutung ist. Die Beziehung zum rettenden Gott wurzelt in guten Erfahrungen, wie zum Beispiel in der Erfahrung der Befreiung aus der Unterdrückung oder der Bewahrung vor Übel.
Eine der prägendsten Menschheitserfahrungen ist die des Exodus aus Ägypten, an die sich Jüdinnen und Juden jedes Jahr zum Pessachfest erinnern. An diese Erfahrung knüpften auch die zumeist christlichen schwarzen Sklaven Nordamerikas an. In der eigenen Situation der Unterdrückung fanden sie Kraft in der Erinnerung an die Taten Gottes, der sein Volk aus Ägypten führte. „Ihr sollt diesen Tag als Gedenktag haben und sollt ihn feiern als ein Fest für den Herrn, ihr und alle eure Nachkommen, als ewige Ordnung“ (Ex 2,12), so heißt es im 2. Kapitel des 2. Buch Moses. Von diesem Ereignis her wurde immer wieder Leben verstanden und gedeutet: Von den Israeliten im eigenen Land, von den Sklaven in Amerika und von Menschen auf der ganzen Welt. Die Erinnerung blieb nicht folgenlos. Die Gesetzgebung des Volkes Israel bezüglich der Fremden im Land ist durchdrungen von der eigenen Fremdheitserfahrung. In Erinnerung an die eigene Unterdrückung werden Schutzbestimmungen für Fremde, Waise und Witwen erlassen: „Du sollst das Recht des Fremdlings und der Waise nicht beugen und sollst der Witwe nicht das Kleid zum Pfand nehmen. Denn du sollst daran denken, dass du Knecht in Ägypten gewesen bist und der Herr, dein Gott, dich von dort erlöst hat. Darum gebiete ich dir, dass du solches tust.“ (Dtn 24,17f.).
Und auch für uns bedeutet das: Die Erfahrung, dass Menschen unser Land verlassen mussten, um ihr Leben zu retten, muss zur Konsequenz haben, dass wir in Deutschland eine besondere Offenheit für Menschen zeigen, die zu uns fliehen, weil sie an Leib und Lebend bedroht sind.
Anrede, Gedenken im jüdisch-christlichen Kontext ist mehr als eine Selbstvergewisserung, mehr als eine Verortung in dieser Welt. Sicherlich bietet es uns Orientierung und hält unser Leben zusammen. Aber aus dem Gedenken heraus wächst eine Haltung des miteinander und füreinander Lebens. Unser Umgang wird ein anderer, unsere Verantwortung wird uns bewusst: sowohl weil wir Gutes erfahren haben, das wir weitergeben wollen, als auch weil wir schlimme Erfahrungen gemacht haben, vor denen wir andere bewahren wollen, und die uns helfen, uns in die Not anderer Menschen hineinzuversetzen. Erinnerungswissen ist immer existentiell und bringt uns deshalb ganz nah an den anderen Menschen heran. Gedenken hat Konsequenzen für unser Leben und für das Leben der Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Ihnen sind wir verpflichtet, damit aus dem Gedenken Zukunft erwächst.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.