Die Kirchen als gesellschaftspolitischer Dialogpartner

48. Essener Gespräche

Der folgende Vortrag wird - zusammen mit den übrigen beim 48. Essener Gespräch zum Thema Staat und Kirche gehaltenen Vorträgen (Professor Dr. theol. Dr. h.c. Wolfgang Huber: "Glaube als Option". Der kirchliche Auftrag im Pluralismus der Gesellschaft; Professor Dr. iur. Dres. h.c. Paul Kirchhof: Der kirchliche Beitrag zu Freiheit und Demokratie; Professor Dr. iur. Stefan Muckel:Das deutsche Staatskirchenrecht als Rahmen für den Auftrag der Kirchen im freiheitlichen Verfassungsstaat) - veröffentlicht in der Schriftenreihe "Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche", hrsg. von Burkhard Kämper und Hans-Werner Thönnes (bzw. ab Band 48 von Burkhard Kämper und Klaus Pfeffer), die im Aschendorff Verlag in Münster erscheint (http://essenergespraeche.jimdo.com/schriftenreihe). Einen Tagungsbericht über das 48. Essener Gespräch findet sich unter: http://essenergespraeche.jimdo.com/aktuelles/


Sehr geehrte Damen und Herren,

Böswillige unter Ihnen – und dies ist natürlich eine rein rhetorisch motivierte Unterstellung, denn sie wird auf niemanden hier im Raum zutreffen – nur also unter der Annahme der an Unmöglichkeit grenzenden Unwahrscheinlichkeit, dass es solche gäbe, wiederhole ich also: Böswillige unter Ihnen könnten mir mit Blick auf den Titel meiner heutigen Ausführungen Ungenauigkeit unterstellen. „Die Kirchen als gesellschaftspolitischer Dialogpartner“. Nein, ich ziele nicht darauf ab, dass in dieser Überschrift beide großen Kirchen als ein Dialogpartner bezeichnet werden. Die hier grammatikalisch bestechend leicht erzeugte Einheit der Kirchen hat – das wissen Sie alle – nichts mit dem tatsächlichen, langjährigen und immer wieder zähen ökumenischen Ringen zu tun. Sie mag aber in den uns heute interessierenden Zusammenhängen ausnahmsweise und gern angenommen sein.

Im Verdacht des Pleonasmus stehen könnte allerdings die im Titel meines Beitrags gewählte Formulierung „Dialogpartner“. Denn der Dialog, so mögen Sie mit Recht einwenden, ist jeder Partnerschaft inhärent. In der Tat ist er das. Und er ist mehr als das, nämlich konstituierendes Element von Partnerschaft. Und als solches gebührt ihm die Hervorhebung in der Überschrift meines Beitrags. Denn nach den langen Jahren der selbstverständlichen Partnerschaft zwischen Kirche und Staat, in denen andere Elemente einer Partnerschaft zum Tragen kamen: Vertrauen, selbstverständliches gemeinsames Handeln oder auch gelassenes „Nebeneinanderherleben“ – nach diesen langen Jahren wird die Selbstverständlichkeit dieser Partnerschaft allenthalben in Frage gestellt. Sie werden es vielfach wahrgenommen haben: Die historisch gewachsene Beziehung zwischen Kirchen und Staat ist zunehmend erklärungsbedürftig. Ich sehe darin eine große Chance. Denn diese von außen nach innen wirkende Infragestellung nötigt die Partner zum Dialog – zum erneuten Dialog untereinander und zum nicht nachlassenden Dialog in und mit der Gesellschaft.

Ausgehend von der neuen Notwendigkeit die guten Gründe für die bestehende Partnerschaft zwischen Kirche und Staat in Erinnerung zu bringen, werde ich im Folgenden zunächst darlegen, wie diese Partnerschaft beschaffen ist und wie vielfältig, segensreich und, ja, einzigartig die Kirchen in der Gesellschaft wirken. Vor diesem Hintergrund möchte ich in einem zweiten Schritt am Beispiel meiner Tätigkeit als Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union entfalten, wie die Kirchen ihre Rolle als gesellschaftspolitische Dialogpartner wahrnehmen.

1. Die Kirchen als Partner des Staates

1.1 Juristische Grundlagen

Ungeachtet der grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche (Art. 140 Grundgesetz [GG] i.V.m. Art. 137 Absatz 1 Weimarer Reichsverfassung [WRV]) ist unser Grundgesetz von einem Kooperationsverhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften geprägt. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein säkularer, aber kein laizistischer Staat; die Wirkungsbereiche von Kirche und Staat sind nicht streng getrennt, sondern vielfach miteinander verwoben. Das Bundesverfassungsgericht spricht von "fördernder“ Neutralität. Das Zusammenspiel von Staat und Kirche zeigt sich besonders in Artikel 7 Absatz 2 und 3 des Grundgesetzes und in den Artikeln 137 Absatz 5 ff., 138, 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung, auf die Art. 140 GG verweist.

Mit der in Artikel 7 festgeschriebenen Religionsfreiheit ist ein wesentliches Menschenrecht benannt. Das Grundgesetz geht davon aus, dass zur Verwirklichung der Religionsfreiheit von Eltern und Schülern grundsätzlich auch der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen gehört. Dabei sieht das Grundgesetz ein enges Zusammenwirken von Staat und Religionsgemeinschaften vor. Anders ließe sich weder das staatliche Aufsichtsrecht verwirklichen noch der Unterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft erteilen.

Als weitere Schnittstellen im Verhältnis von Staat und Kirche nenne ich: Seelsorge in der Bundeswehr, in Krankenhäusern, Gefängnissen und anderen öffentlichen Anstalten, den öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus, Staatsleistungen, Kirchensteuer. In der öffentlichen Debatte wird oft vergessen, dass dies keine "Privilegien" der großen Kirchen sind, sondern Rechte, die grundsätzlich allen Religionsgemeinschaften und auch den Weltanschauungsgemeinschaften offenstehen. Ich erinnere nur an die Steuern, die kleine christliche und auch jüdische Gemeinden erheben, und an den Lebenskundeunterricht, den humanistische Verbände an öffentlichen Schulen verantworten.

Neben dem Grundgesetz enthalten zahlreiche Länderverfassungen eigene Regeln zum Verhältnis von Staat und Kirche, die sich vielfach am Grundgesetz orientieren. Zur näheren rechtlichen Ausgestaltung dienen die Staatskirchenverträge des Bundes und der Länder, angefangen beim Reichskonkordat (1933), dem Militärseelsorgevertrag von 1957 bis zu neueren Verträgen, wie zum Beispiel dem Evangelischen Kirchenvertrag mit dem Land Berlin (2006) oder dem Vertrag Schleswig-Holsteins mit dem Heiligen Stuhl (2009). Dass Staat und Kirche miteinander öffentlich-rechtliche Verträge schließen, bringt die partnerschaftliche Beziehung zwischen beiden besonders zum Ausdruck. Es zeigt sich auch in einzelnen Formulierungen dieser Verträge: So spricht die Präambel des Berliner Staatskirchenvertrages von der "Überzeugung, dass das Verhältnis von Staat und Kirche gleichermaßen von Unabhängigkeit und Kooperation geprägt ist". Die Verträge enthalten außerdem gewöhnlich so genannte "Freundschaftsklauseln", nach denen man etwaige Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung des Vertrages auf freundschaftliche Weise beseitigen will. Die Verträge mit den Ländern erstrecken sich nicht nur auf die im Grundgesetz genannten Bereiche, sondern auch auf viele weitere, wie zum Beispiel Hochschulen, diakonische Einrichtungen, Friedhöfe, Polizeiseelsorge, Denkmalpflege und den Rundfunk. Sie entfächern die ganze Bandbreite staatlich-kirchlichen Zusammenwirkens.

1.2 Aufgaben der Kirchen in der Gesellschaft

Als Partner des Staates erweisen sich die Kirchen im Blick auf die res mixta, die gemeinsamen Angelegenheiten, sowie durch die subsidiäre Wahrnehmung von Aufgaben im Sinne des Gemeinwohls. Das Ordnungsprinzip der Subsidiarität wird zu Recht als „Kompetenzanerkennungsprinzip“ übersetzt. Ohne Zweifel haben sich die Kirchen im sozialen Bereich eine hohe Kompetenz erworben. Auf die evangelischerseits von rund 18.000 Gemeinden der Landes- und Freikirchen mit getragene diakonische Arbeit als Form der karitativen Dimension kirchlichen Handelns und genuin kirchlichem Mandat werde ich später eingehen; und auch wenn Sie alle gewiss Kenntnis haben von den vielfältigen Formen des sozialen Engagements der Kirchen, seien diese ihrer herausgehobenen gesellschaftlichen Bedeutung wegen am Beispiel der Diakonie Deutschland trotzdem in aller gebotenen Kürze ausgebreitet[1]. Die Diakonie bietet – wie die katholische Caritas selbstverständlich auch - Unterstützung zum Beispiel für Pflegebedürftige und Kranke, für Menschen mit Behinderungen, für Kinder, Jugendliche und Familien, für Menschen mit Migrationshintergrund, oder Menschen mit Suchtproblemen. Sie tut dies in fast jeder größeren Stadt und auch im ländlichen Raum. Kaum eine andere Institution in unserem Land ist in der Fläche so präsent wie Diakonie und Caritas; insgesamt bieten beide Verbände jeweils etwa eine Million Betreuungsplätze und Betten an.

Mit 453.000 hauptamtlich Beschäftigten ist die Diakonie einer der größten Arbeitgeber in Deutschland – bei der Caritas sind es übrigens sogar 560.000. Ihre Kompetenzen stellt die Diakonie rund 10 Millionen Menschen zur Verfügung. Mit fast 11.000 Angeboten und knapp 544.000 Plätzen ist die Jugendhilfe das umfänglichste Arbeitsfeld. In der Wohnungslosenhilfe ist die Diakonie der größte deutsche Anbieter. Während die Herausforderungen des demografischen Wandels auch im politischen Raum nicht selten als Schreckensgespenst wahrgenommen werden, ist die Altenpflege in der Diakonie seit langen Jahren einer der wichtigsten und am besten ausgestatteten Bereiche. Von den etwa 27.100 diakonischen Einrichtungen und Diensten gehören mehr als 10 Prozent in dieses Tätigkeitsfeld: Wohnheime, voll- und teilstationäre Einrichtungen, Beratungsstellen und ambulante Dienste.
In der Behindertenhilfe gibt es 2400 Einrichtungen. Die Diakonie ist darüber hinaus Trägerin von Krankenhäusern, Beratungsstellen und Sozialstationen. Neben der Allgemeinen Sozialberatung zählen dazu auch Flüchtlings- und Migrationsberatungsstellen, sozialtherapeutische Wohngemeinschaften, Familienerholungsstätten, Frauenhäuser oder Hospize. Nicht zuletzt bietet die Diakonie den organisatorischen Rahmen für etwa 3.400 Selbsthilfegruppen.

Die Liste, Sie ahnen es sicher, ließe sich weiterhin fortführen, aber Sie werden mir sicher zustimmen -schon um verhindern, dass ich meine Rede- und Ihre Zuhörzeit allzu sehr ausdehne -, dass der erwünschte starke Eindruck als einigermaßen erzielt gelten kann. Hinzuweisen habe ich indes unbedingt auf ein Charakteristikum des diakonischen Engagements, das nicht hoch genug geschätzt werden kann, und das ein Schlaglicht wirft auf die Bedeutung des christlichen Glaubens für unsere Gesellschaft: die kraftvolle Unterstützung der hauptamtlich Tätigen durch eine atemberaubend große Zahl von Freiwilligen. Einer repräsentativen Studie der Diakonie zufolge waren im Jahr 2010 etwa 700.000 Menschen ehrenamtlich in diakonischen Einrichtungen tätig[2], dazu kommen rund 500.000 Ehrenamtliche, die in den Diensten und Einrichtungen der Caritas betreuen, pflegen und beraten.[3]

Eine besondere Partnerschaft zwischen Kirchen und Staat besteht im Hinblick auf das kirchliche Engagement in der Bildung. Die Evangelischen Kirchen in Deutschland und die Diakonie betreiben 8.495 Kindertagesstätten und Horte – das sind 17 Prozent aller Einrichtungen dieser Art. Sie tragen darüber hinaus 1.100 evangelische Schulen aller Schularten[4][5] und 17 evangelische Fachhochschulen. Übergemeindliche Angebote leisten Familienbildungsstätten und Akademien. In den 16 evangelischen Akademien wirken etwa 140 hauptamtliche Studienleiterinnen und Studienleiter. Jährlich werden mit rund 2000 Veranstaltungen mehr als 100.00 Teilnehmende erreicht.[6]

Nachgerade selbstverständlich scheint das Mit-Wirken der Kirchen im Blick auf Kultur. Umso dankbarer nehmen wir wahr, wenn die kirchlichen Leistungen in diesem Bereich gewürdigt werden, wie es der Staatsminister für Kultur und Medien, Bernd Neumann, anlässlich des Kulturkongresses der EKD im vorvergangenen Jahr getan hat. [7] Zurecht wies er darauf hin, dass die beiden großen Kirchen jährlich zwischen 3,5 bis 4,8 Milliarden Euro für Kultur aufbringen – soviel also wie alle Bundesländer zusammen.[8]

Als „gute Partner“ gerieren sich Bund und Kirchen - das liegt nahe - beim Denkmalschutz. Die 20.660 Kirchen und Kapellen, die die evangelische Kirche unterhält[9] - die Zahl der katholischen Gotteshäuser liegt sogar bei 24.500[10] - stellen einen großen, kulturellen Schatz dar. Sie sind, um einen wunderbaren Begriff des ehemaligen leitenden Geistlichen der hannoverschen Landeskirche, Eckhart von Vietinghoff, zu entleihen „Orientierungskunstwerke“: „Sie orientieren durch ihre Baugeschichte und ihre Ausstattung über den Gang der Zeit, über unendlich viel Gelungenes, aber auch über manche Irrtümer und manches Versagen von Kirche und Staat. Sie erinnern, dass vor uns Menschen lebten und nach uns andere kommen werden und wir daher nicht die Weisheit gepachtet haben. Sie bezeugen unübersehbar, dass unsere Gegenwart nicht das endgültige Maß aller Dinge darstellt. Dieses Erlebnis der eigenen Relativität führt aus dem kurzatmigen Alltag hin zu fundamentalen Perspektiven[11]. Der Erhalt dieser Kirchen als Orte der Gewinnung solcher „fundamentalen Perspektiven“, als Orte der Kultur, ist für die verfassten Kirchen mit enormen finanziellen Anstrengungen verbunden; die EKD gibt bereits jetzt gut eine Milliarde Euro dafür aus. Der Bund nimmt seine Mitverantwortung durch die Förderung von Sanierungsprojekten in Denkmalschutzprogrammen wahr. Ob dies langfristig genügt, mag hier und heute dahingestellt sein.

Unter der Überschrift „Kultur“ seien auch die zahlreichen Gedenkstätten und Erinnerungsorte genannt, die überall im Land auch von kirchlicher Seite gestützt, eine lebendige Gedenkkultur begründen. Ganz besonders ausdrücklich ist schließlich die Musik zu benennen, jener wunderbare Teil auch und gerade der Kirchenkultur, über den zu sprechen (und dessen Lobgesang anzustimmen) ein gesonderter Vortrag nötig wäre. Erlauben Sie mir heute nur soviel der Schwärmerei: Mit dem Gemeindegesang nahm das Evangelische seinen Anfang; Martin Luther hatte zentrale theologische Einsichten in Lieder übersetzt und forderte, dass im Gottesdienst nichts anderes geschehen solle „denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“.[12] Heute reichen die Schwingungen der Kirchenmusik weit über den Bereich des Gottesdienstes hinaus und es verwundert nicht, dass der Deutsche Kulturrat die Kirche als Kulturträgerin auf dem Gebiet der Musik hervorgehoben hat.[13]

Subsidiär und als eigenständige Partner tätig sind die Kirchen nicht zuletzt im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. 1962 wurden die Katholische Zentralstelle und die Evangelische Zentralstelle für Entwicklungshilfe (KZE und EZE) gegründet, um Bundesmittel in Empfang zu nehmen und Projekte in Partnerländern zu fördern. Die Katholische Zentralstelle ist mit dem Bischöflichen Hilfswerk Misereor verbunden, die Evangelische Zentralstelle ist Bestandteil unseres Werks Brot für die Welt - Evangelischer Entwicklungsdienst. Beide Werke erhalten derzeit jährlich jeweils über 100 Millionen für ihre Projektarbeit. Die evangelische Kirche bringt ihrerseits jährlich noch einmal rund 120 Millionen Euro über Kirchensteuereinnahmen und Spendenmittel auf.

Mit über 3000 Partnerorganisationen in Afrika, Asien und Lateinamerika können Brot für die Welt und Misereor auf eine globale Infrastruktur zugreifen. Die Entwicklungsarbeit kommt wie die humanitäre Hilfe ohne jede Vorbedingung allen Bedürftigen zugute. Unsere Partner und erst recht die Kirchen sind oft noch in abgelegenen Dörfern und Regionen präsent. Sie bleiben dort, auch wenn kriegerische Auseinandersetzungen ausbrechen oder Hilfsorganisationen abziehen, so zum Beispiel in Konfliktregionen wie dem Süd-Sudan oder dem Ost-Kongo. Kirchliche Partnerorganisationen können mit Zielgruppen arbeiten und diese mobilisieren, die staatliche Organisationen nicht ohne weiteres erreichen. Nicht zuletzt können Kirchen über den christlichen Glauben Menschen im wahrsten Sinne des Wortes bewegen und zum Handeln und zur Übernahme von Verantwortung ermutigen.

((Bundespräsident Joachim Gauck hat bei der Feier des 50jährigen Bestehens dieser bewährten Zusammenarbeit am 6. September 2012 in Bonn festgestellt: „Trotz aller Frustrationen über Misserfolge der Entwicklungszusammenarbeit, die immer wieder aufkommen, können gerade die Kirchen den Willen, die Ursachen von Armut zu bekämpfen, am Leben erhalten. Die Kirchen lassen sich nicht entmutigen - so verwundert es nicht, dass die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit bisweilen ein höheres Ansehen genießt, als die staatliche.“))

2. Erschütterte Selbstverständlichkeiten

Ich hoffe, ich habe damit hinreichend dargelegt: Die Kirchen erweisen sich in den vielfältigsten Lebensvollzügen als verlässliche Partner des Staates in unserer Gesellschaft. Während diese konstant-kooperative Haltung sich seitens der Kirchen im Laufe der Jahre allenfalls verstetigt hat, ist nicht festzustellen, dass christliche Bindekräfte ein vergleichbar konstantes Niveau in unserem Gemeinwesen zeitigten.

Ich möchte diese zunehmende Religionsvergessenheit an einem Beispiel veranschaulichen, das die christliche Glaubenspraxis zwar nur mittelbar betrifft, das aber seiner Aktualität und schmerzhaften Deutlichkeit wegen geeignet ist, die derzeitige religiöse Gestimmtheit im Land zu illustrieren. Ich meine die Debatte um die Beschneidung. Dass es ein Zeichen tief empfundener elterlicher Fürsorge sein kann, ein Ritual zu bejahen, mit dem ein Kind in eine religiöse Gemeinschaft aufgenommen wird und den unzerstörbaren Bundes Gottes mit dem Menschen erfährt, ist für viele in Deutschland offenbar kein ernst zu nehmendes Argument. Und schon gar keines, das neben medizinischen, physiologischen und hygienischen Argumenten bestehen könnte. Die tiefgreifende Entfremdung eines Teils unserer Gesellschaft von religiösen Lebensformen zeigt sich auch in Auseinandersetzungen etwa um die religiöse Erziehung von Kindern.[14]

Die abnehmende Plausibilität des Religiösen ist in unserem Land zweifellos auch der deutschen Wiedervereinigung geschuldet, mit der sich das Zahlenverhältnis von konfessionell Gebundenen zu Nicht-Gebundenen deutlich verschoben hat.[15] Dies hat Folgen auch für die Rolle der Kirchen in der Gesellschaft insgesamt. Die besondere Nähe der Kirchen zum Staat, die aus ihrer vormals fast flächendeckenden Präsenz als „Volkskirchen“ resultierte, wird erklärungsbedürftig.

Darüber hinaus ist aus soziologischer Sicht ein grundlegender Mentalitätswandel virulent: Die gegenwärtige Situation der Kirchen ist auch Konsequenz eines umfassenden gesellschaftlichen Veränderungsprozesses hin zu einer „Erlebnisgesellschaft“. Der Theologe und Sozialethiker Günther Wilhelms beschreibt diesen Prozess zutreffend: „Das Grundmuster der Beziehung von Mensch und Welt ändert sich, weg von einem sachorientierten, zweckdienlichen Umgang mit dem Lebenswichtigen hin zu einer subjektbezogenen, aktionsorientierten Einstellung.“[16] Die Kirchen, ihre Botschaften, Ansprüche und Vollzüge müssen in einem solchen Zusammenhang als sperrig und unzeitgemäß wahrgenommen werden. Auch vor diesem Hintergrund ist die zunehmende Infragestellung der gewachsenen Partnerschaft zwischen Kirchen und Staat zu sehen; die Selbstverständlichkeit dieser Partnerschaft verliert an Plausibilität.

Anfechtungen ist das Verhältnis von Kirche und Staat zudem durch Vorkommnisse ausgesetzt, die, wie jüngst die schrecklichen Fälle von sexuellem Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen, dazu angetan sein können, die Tauglichkeit der Kirchen als Partner insgesamt in Frage zu stellen. Mit dem Vertrauensverlust in die Institutionen kommt auch das Vertrauen in die Richtigkeit der Partnerschaft abhanden.

Die Auswüchse dieser Entwicklung kennen Sie so gut wie ich. Das Scheitern des Volksentscheids über den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in Berlin gehört dazu, und – besonders spürbar seit 2010, dem Beginn der Aufdeckung zahlreicher Fälle sexuellen Missbrauchs – eine Serie von Anträgen auf Bundes- und Länderebene, die sich mehr oder minder hartnäckig an den Themen der Staatsleistungen, des Religionsunterrichts und der Kirchensteuer abarbeiten.

Nicht verwundern darf es, dass die Vorreiterin dieser Bewegung „DIE LINKE“ ist. Die Fraktion hat zuletzt im Februar vergangenen Jahres einen Entwurf eines „Staatsleistungsablösegesetzes“ in den Bundestag eingebracht. Sowohl in der SPD und bei Bündnis 90/Die Grünen besteht auf Bundes- wie auf Landesebene in Teilen ebenfalls das Interesse, das System der Staatsleistungen zu verändern. Dies äußert sich in Diskussionsbeiträgen, in kleinen und großen Anfragen an die Bundes- oder Landesregierung.[17] Auch in der FDP werden zuverlässig immer wieder Stimmen laut, die die Ablösung von Staatsleistungen und die „Trennung von Staat und Kirche“ fordern.[18]

Die dergestalt in Zweifel gezogene Partnerschaft zwischen Kirchen und Staat und die gemeinsamen Angelegenheiten bestehen indes aus guten Gründen. Der bedeutendste liegt in dem Wesen des freiheitlichen Staates selbst.

3. Kirchen als Garant für Grundwerte/Stabilisierung der Demokratie

Wir verhalten uns oft so, als sei die Demokratie eine Regierungsform, die die Garantie ihres Erfolges in sich trägt“, heißt es in dem Gemeinsamen Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens. Die Demokratie, so wird der Gedanke fortentwickelt, „werde es schon schaffen, wie auch immer wir mit ihr umgehen. Die Vorstellung, in einer Ordnung der Freiheit könne jeder ohne Rücksicht auf das Ganze seinen Interessen nachgehen, weil die Regeln aus eigener Kraft im Stande seien, einen vernünftigen Ausgleich zu bewirken, ist zwar weit verbreitet… aber sie ist illusionär.“[19] Einer Untersuchung der Bertelsmann-Wissenschaftsstiftung für den Club of Rome zufolge ist die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft von der Entwicklung und Erhaltung gemeinsamer Wertvorstellungen abhängig. Umgekehrt bedeutet dies: Gelingt es nicht, einen solchen grundlegenden Wertekonsens aufzubauen, droht die Desintegration der Gesellschaft.[20] Die Regeln und Verfahren der Demokratie bilden einen Rahmen, der auf die emotionale Verankerung und handlungsmotivierende Kraft von Seiten der Bürgerinnen und Bürger angewiesen ist. Die Demokratie braucht die Orientierung ihrer Bürger – und natürlich auch der politischen Akteure – an Grundwerten, die diese Staatsform tragen; nur dadurch wird die freiheitliche Ordnung stabilisiert; sie selbst kann diese Stabilisierung nicht leisten. Die Verständigung über diese Grundwerte ist zentrale Aufgabe aller Glieder der Gesellschaft.

Ernst-Wolfgang Böckenförde, dessen Beschreibung dieses Sachverhaltes als das so genannte Böckenförde-Diktum bestens bekannt ist, hat seinen schon im Jahr 1976 publizierten Gedanken vor drei Jahren noch einmal präzisiert: „Vom Staat her gedacht, braucht die freiheitliche Ordnung ein verbindendes Ethos, eine Art „Gemeinsinn“ bei denen, die in diesem Staat leben. Die Frage ist dann: Woraus speist sich dieses Ethos, das vom Staat weder erzwungen noch hoheitlich durchgesetzt werden kann? Man kann sagen: zunächst von der gelebten Kultur. Aber was sein die Faktoren und Elemente dieser Kultur? Da sind wir dann in der Tat bei Quellen wie Christentum, Aufklärung und Humanismus.“[21]

Dass die hier angesprochene moderne Verantwortungsethik ohne religiöse Fundierung funktionieren könne, bezweifelt auch der ehemalige Bundesminister des Auswärtigen, Joschka Fischer. Er äußerte sich überzeugt, dass „eine Ethik, die sich nicht auf die tiefer reichende, normative Kraft einer verbindlichen Religion … stützen kann, … es schwer haben [wird], sich in der Gesellschaft durchzusetzen und von Dauer zu sein[22]. Weniger zurückhaltend formuliert Bundestagspräsident Norbert Lammert: „Aufgeklärte Religionen als herausragende Vermittler ethischer Standards – wer anderes als sie könnte für Prinzipien wie Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Gewaltlosigkeit oder Gleichberechtigung im eigentlichen Sinne des Wortes ‚glaubhaft‘ einstehen? Wenn diese nicht von Religionen vermittelt werden, ist die Wahrscheinlichkeit überschaubar gering, dass sie überhaupt dauerhaft vermittelt werden können[23].

Der Anspruch, der unter dieser Maßgabe den christlichen Kirchen als „wichtigste und wahrlich größte und bedeutendste Gemeinschaft“[24] in der Gesellschaft zuwächst, ist hoch, aber er entspricht dem Anspruch, den die Kirchen an sich selber richten. Ausgehend von der Überzeugung, dass die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes „in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild entspricht“[25] haben der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und der Ratsvorsitzende der EKD 1997 es als zentrales Anliegen der Kirchen benannt, „zu einer Verständigung über die Grundlagen und Perspektiven einer menschenwürdigen, freien, gerechten und solidarischen Ordnung von Staat und Gesellschaft beizutragen und dadurch eine gemeinsame Anstrengung für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit möglich zu machen“.[26]

Im Bewusstsein dessen, was sie für die Stärkung und Stabilisierung des freiheitlichen demokratischen Staates in die Waagschale zu geben haben, ziehen die Kirchen sich mithin nicht in die „Entweltlichung“ zurück; sie suchen vielmehr den gesellschaftspolitischen Dialog. Dieser muss vor dem Hintergrund der beschriebenen Erklärungsnotwendigkeiten intensiviert werden. Gleichzeitig ist auch die staatliche Seite gefordert, neu in diesen Dialog einzutreten und sich für eine Stärkung der Partnerschaft zu den Kirchen und die Vermittelbarkeit dieser Partnerschaft einzusetzen. Der Staat ist diese besondere Partnerschaft eingegangen, weil Kirchen und Religionsgemeinschaften sich von anderen zivilgesellschaftlichen Kräften und Gemeinschaften unterscheiden, indem sie Sinn stiften. Die grundgesetzlich festgeschriebene Anerkennung und Förderung der dergestalt wirkenden Kirchen (und Religionsgemeinschaften) ist oft mit Mühen verbunden; aber sie ist, um ein vielzitiertes Wort zu verwenden, alternativlos. Daher sollten die Mühen der Ebene nicht gescheut werden.

4. Die Bedeutung der kirchlichen Grundvollzüge

Die Kirchen nehmen in unserem Gemeinwesen einen besonderen Platz ein. Durch die lebendige Erfüllung ihrer Grundvollzüge: Verkündigung, Diakonie, Seelsorge und Liturgie unterscheiden sie sich wesentlich von allen zivilgesellschaftlichen Gemeinschaften. Sie sind also weit mehr als nur demokratienützliche Wertelieferantinnen. Gleichzeitig können sie als solche nur fungieren, wenn sie ihre ureigenen, wesentlichen Aufgaben erfüllen.

Von allen anderen Gemeinschaften unterscheidet die christliche Gemeinde sich dadurch, dass sie Gottesdienst feiert. Von der Lebensgestaltung anderer Menschen unterscheidet sich die Lebensgestaltung von Christen zu allererst dadurch, dass sie beten“.[27] Diese Worte werden Ihnen, lieber Wolfgang Huber, auffällig bekannt vorkommen, Sie haben sie 2007 in Nürtingen vorgetragen, und sie richten unsere Aufmerksamkeit trefflich auf den signifikantesten Wesenszug von Kirche, auf die Liturgie.

Mit Gottesdienst und Gebet bringen Christen ihre Beziehung zu Gott symbolisch zum Ausdruck. Zur Liturgie (Leiturgia) gehören auch die Sakramente. Die rituelle Begleitung an den hohen Festtagen und zu den großen Zäsuren des Lebens scheint tatsächlich die am weitesten verbreitete Identifikationsform mit den Kirchen zu sein. Fast 1,9 Millionen Menschen nahmen 2010 an einem evangelischen Erntedankgottesdienst teil, an Heiligabend waren es fast acht Millionen. (Die zahlreichen Zuschauer, die sich die Fernsehgottesdienste im heimischen Wohnzimmer anschauten, sind da noch nicht mitgezählt; es ist davon auszugehen, dass dies gemeinhin rund 670.000 Menschen tun; am 24. Dezember sind es fast doppelt so viele.)

Gefragt sind nach wie vor auch die Kasualien: Rund 190.000 Menschen sind in 2010 evangelisch getauft worden, mehr als 230.000 Jugendliche haben sich konfirmieren lassen; 15.000 davon empfingen die Taufe. 13,6 Prozent aller Eheschließungen wurden mit einer evangelischen Trauung vollzogen; im selben Jahr gab es mehr als 290.000 evangelische Beerdigungen.[28]

Eine besondere Bedeutung haben Gottesdienste darüber hinaus in besonderen – meist besonders bedrängenden – Zeiten. Dies lässt sich sicherlich von den Montagsgottesdiensten behaupten, die während der friedlichen Revolution 1989 in der Leipziger Nikolaikirche stattfanden. Überwältigend viele Menschen strömten auch nach Katastrophen wie dem 11. September 2001 oder den Amokläufen in Erfurt und Winnenden in die Kirchen.

Die Anziehungskraft des Rituellen, die darin erkennbar ist, ergibt sich aus dessen heilsamer Zweckfreiheit. Wie auch die Musik bietet sie die einzigartige Möglichkeit, das Befangensein im Hier und Jetzt zu überschreiten. Dadurch eröffnet sie die Chance, die (Kon)Zentriertheit auf das je eigene zu überwinden.[29] Religiöse und christliche Symbole und symbolhafte Handlungen verweisen auf das ökonomisch und technisch gerade nicht Erfassbare. Sie bürsten die laue Gewohnheit, die Erfüllung großer Hoffnungen durch das „Kleinformat des Konsums“[30] zu erwarten, gegen den Strich. Ja, sie wirken anachronistisch und genau darin liegt ihre heilsame Stärke, wie Günther Wilhelms feststellt: „Die religiöse Symbolwelt in ihrer sinnlichen Fülle und Erlebnisqualität vermag das Andere der Gesellschaft wachzuhalten, das Andere gegenüber den ausdifferenzierten Sachzwängen, gegenüber dem Zwang zur Flexibilität und Mobilität, gegenüber Informationsflut und Erlebnissucht[31] Ganz offensichtlich entspricht die Liturgie damit den Wünschen und Sehnsüchten vieler.

Während sich die (Überzeugungs-)Kraft der Liturgie den christlichen Glauben in ihrer symbolhaften Sinnlichkeit begründet, wirkt die Verkündigung als kognitive Vermittlerin des Evangeliums. Klassische Formen der Verkündigung – auch Martyria, Kerygma oder Zeugnis genannt – sind zum Beispiel Predigt, Religions- und Konfirmandenunterricht und im weiteren Sinne die kirchlichen Bildungsangebote und die Medienarbeit.

Derzeit nehmen wöchentlich rund drei Millionen Kinder und Jugendliche am evangelischen Religionsunterricht teil.[32] Die schulartenübergreifende und inklusive Konfirmandenarbeit als ein Feld non-formaler Bildung erreicht mehr als 30 Prozent eines Jahrgangs; das sind gegenwärtig mehr als 230.000 Jugendliche in Deutschland.[33] Gerade die Debatte über den Religionsunterricht – ein zentraler Bestandteil des kirchlichen Grundvollzugs der Verkündigung - indiziert das abnehmende Bewusstsein für die Bedeutung des Religiösen. Als symptomatisch ist die erwähnte Situation in Berlin anzusehen. Obwohl die Verankerung im Grundgesetz den Religionsunterricht als gesellschaftlich erwünscht und nutzbringend kennzeichnet, ist der Dialog über die Bedeutung der religiösen und ethischen Erziehung von Kindern und Jugendlichen dort – auch mit Vertretern des Staates – im Ergebnis gescheitert.

Manchmal wird religiöse Bildung bloß als eine Form der Werteerziehung angesehen. Aus evangelischer Sicht geht jedoch mit dem Bezug auf Gott die Wahrheitsfrage allen Werten voraus. Der Glaube beruht nicht auf Werten, sondern umgekehrt folgen Werte aus dem Glauben. Werte lassen sich auch ohne Bezug auf Religion begründen. Ebenso richtig bleibt aber, dass Religion in Geschichte und Gegenwart zu den wichtigsten Quellen der ethischen und normativen Orientierung zu zählen ist.“ Mit diesen Worten begründete der Rat der EKD im Jahr 2006 die Bedeutung des Religionsunterrichtes. Mit der Publikation von zehn Thesen zielte er darauf, die Diskussion darüber zu befördern. Unvermindert aktuell ist seine Analyse; ich zitiere weiter: „Politik und Wissenschaft gewinnen in der Gegenwart neu Achtung vor der ethischen Motivationskraft von Glaubensüberzeugungen, die ein verantwortliches Handeln begründen. Neu bewusst geworden sind insbesondere die religiösen Wurzeln von Freiheit, Verantwortung und Toleranz sowie der gesellschaftlichen und globalen Solidarität von Menschen, die sich im biblischen Schöpfungsglauben über alle Grenzen hinweg als Brüder und Schwestern erkennen können.“[34] Nur durch die Gewährleistung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach kann das durch speziell dafür ausgebildete Religionslehrerinnen und -lehrer zu erbringende hohe Niveau dieser religiösen Bildung authentisch aufrechterhalten bleiben.[35]

Dieses Niveau stellen entsprechend ausgebildete Lehrkräfte an den Theologischen Fakultäten der Universitäten sicher. Die dort Tätigen müssen sich im Kontext der übrigen Wissenschaften bewegen und behaupten. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften ihre Glaubensinhalte der Gesellschaft gegenüber und in sie hinein plausibel kommunizieren. Hier gilt, was auch außerhalb der Universitäten im Blick auf die Verkündigung Gültigkeit hat: Indem sich die Vertreter der (christlichen) Religionen den Fragen der Menschen stellen, bleiben sie zeitgenössisch und notwendig mit der Gesellschaft verwoben.

Die Grundvollzüge der Verkündigung und Liturgie, die die Kirchen zu gewährleisten haben, dienen auf ihre je eigene Weise der Ausbildung und Fortentwicklung eines Glaubens, der sich verstehen lässt „als eine Form und Kraft der Stellungnahme zu den Grunddimensionen des Lebens, die sich am Willen Gottes als dem Inbegriff des Guten und des gelingenden Lebens orientiert“[36].

Christlicher Glaube weckt die Sehnsucht nach einem Leben in Fülle und gibt dem Streben nach Freiheit eine Richtung. Er bewegt die Gläubigen zu einer „radikalen Befragung der weltlichen Verhältnisse“[37] und lässt das Bedürfnis wachsen nach einer Stärkung allen Handelns und aller Formen des Zusammenlebens und der Kommunikation, die auf gelingendes Leben für alle Menschen zielt. Indem sie für den Einzelnen Sinn stiften, stärken die Kirchen seine Identifikation mit dem Ganzen. Idealerweise erwachsen daraus – den offenkundigen Individualisierungstendenzen zum Trotz - Verbindlichkeit und Solidarität.

Damit ist deutlich, warum die christliche Religion sich weder in die Spiritualität zurückziehen kann noch zur „persönlichen Glückserzeugerin“ taugt. Sie vermag nicht im Individuellen und auch nicht im Privaten verbleiben, sie nimmt immer die Beziehung, das soziale Geschehen der Menschen untereinander in den Blick. Der dritte Grundvollzug des kirchlichen Handelns, die Diakonie, trägt dem Rechnung.

Zum christlichen Menschenbild gehört die Überzeugung, dass Menschen verletzlich sind und der Zuwendung und Versöhnung bedürfen. In der Seelsorge erfahren wir Gottes heilenden Zuspruch durch sein Wort. Die cura animarum zeigt die Beziehung Gottes zum Menschen auf. Die Diakonie (auch Diakonia, Caritas) ist die helfende, solidarische Zuwendung zu Notleidenden. Sie macht sich – motiviert durch Verkündigung und gestärkt durch die Liturgie - die Anliegen und Nöte von Menschen zu eigen. Diakonia wird in der evangelischen Kirche maßgeblich getragen von den Einrichtungen und Diensten der Diakonie Deutschland. Untersuchungen zeigen, dass der Diakonie hohes Vertrauen entgegengebracht wird. Sie verwirklicht ihren Auftrag in praktischer Hilfe und unternehmerischer Gestaltung, sowie in anwaltschaftlicher Interessenvertretung benachteiligter und sozial ausgegrenzter Menschen. Diakonia ist also Ausdruck der christlichen Verantwortung, die sowohl individuell als auch auf politisch-gesellschaftlicher Ebene zum Tragen kommt.

Wie Verkündigung und Liturgie, so wird auch Diakonie niemals überflüssig sein. Denn gleichgültig, wie gut und gerecht die staatlichen Strukturen eines fernen Tages sein mögen: Der Mensch wird über die Gerechtigkeit hinaus immer Liebe brauchen.

Die besondere Herausforderung für die Kirchen besteht darin, karitatives Handeln als ihren wesentlichen Lebensvollzug erkennbar zu machen. Sie haben die Aufgabe, die Verbindung ihres sozialen Engagements mit den Wurzeln des Glaubens, mit Predigt und Sakrament, Bildung und Seelsorge, und, auf der Ebene des Dialogs, mit direktem Gespräch und öffentlichen Äußerungen wach zu halten und zu erneuern. Diese Verbindung mit den Wurzeln des Evangeliums ist es, die die kirchliche Verantwortung von der Verantwortung des Sozialstaats unterscheidet.

5. Die Kirchen als gesellschaftspolitische Dialogpartner am Beispiel meines Dienstes als Bevollmächtigter

Die beiden Kirchen nehmen diesen Gestaltungsauftrag seit 2000 Jahren wahr, und sie tun dies, wie hoffentlich bereits deutlich geworden ist, auf vielfältige Weise. Trotzdem möchte ich in aller Bescheidenheit an dieser Stelle auf das Wirken des Bevollmächtigten des Rates der EKD zu sprechen kommen. Genau wie mein Kollege Prälat Dr. Karl Jüsten, der Leiter des Kommissariats der Deutschen Bischöfe in Berlin, dies katholischerseits unternimmt, so bin auch ich durch mein Amt berufen, die Aufträge, die sich aus dem bisher Genannten für die Kirche ergeben, als Dialogpartner in die politische und gesellschaftliche Öffentlichkeit zu tragen. Diese Aufgabe – die immer auch Herausforderung ist - erweist sich angesichts der zunehmenden Notwendigkeit des gesellschaftspolitischen Austauschs als gleichermaßen zunehmend wichtig. Daher unternehme ich dieses alltägliche Abenteuer auch nicht allein: Sowohl in meiner Berliner Dienststelle wie auch in der Brüsseler Dependance unterstützen mich jeweils eine Handvoll kundiger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die zumeist juristisch oder theologisch ausgebildet sind. Um die uns übertragene „Botschafterrolle“ so effektiv und effizient wie möglich ausüben zu können, befinden sich die Büros in Berlin und Brüssel jeweils an zentraler Stelle: In Berlin am Ihnen sicherlich bekannten (und sehr schönen) Gendarmenmarkt, in Brüssel in unmittelbarer Nähe der Europäischen Kommission fast am Place Robert Schumann.

Anhand von vier Wirkungsbereichen möchte ich Ihnen mit der Tätigkeit des Bevollmächtigten die Beschaffenheit des Dialogs von Kirche mit Politik und Gesellschaft vorstellen.

5.1 Kirche im politischen Raum

Zuvörderst ist mein Mandat ein pastorales. Für Abgeordnete des Deutschen Bundestages, die sich für einen Großteil ihrer jährlichen Arbeitszeit fern ihrer Heimatgemeinden in Berlin aufhalten, für die Mitglieder des Bundeskabinetts sowie für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesbehörden stehe ich als Gesprächspartner, Seelsorger und Prediger zur Verfügung.[38] Diese besondere politische Gemeinde hat zwar kein eigenes Kirchengebäude als geografisches Zentrum, doch es gibt genügend Orte, in denen die Botschaft des Evangeliums, Gottes Gegenwart und kirchliche Vollzüge Raum greifen können. Für ein vertrauliches Vieraugengespräch ist jedes Büro hinreichend tauglich; die Morgenandachten, die in den Sitzungswochen des Bundestages zwei Mal wöchentlich in fruchtbarer Partnerschaftlichkeit von Abgeordneten, dem Leiter des Kommissariats der Deutschen Bischöfe Prälat Jüsten und mir und meinen Mitarbeitern im Wechsel gestaltet werden, finden im Andachtsraum des Bundestages statt. Mehrmals im Jahr lade ich die Parlamentarier auch zu Gebetsfrühstücken in meine Dienststelle am Gendarmenmarkt ein. Auch zahlreiche Berliner Kirchen stehen der politischen Gemeinde offen. Die ökumenischen Gottesdienste, die vor dem Beginn offizieller Staatsakte wie zum Beispiel bei der Konstituierung des Bundestages oder bei der Wahl des Bundespräsidenten veranstaltet werden, finden beispielsweise in der katholischen St.-Hedwigskathedrale oder in der reformierten Französischen Friedrichstadtkirche statt.

Die Präsenz der liturgisch handelnden Kirche im politischen Raum wird ganz überwiegend positiv aufgenommen, das ist der allgemeinen Resonanz wie auch unzähligen Begegnungen im Besonderen abzuspüren. Der Wunsch nach geistlicher Begleitung wächst und wird zunehmend nachgefragt: So nehmen Prälat Jüsten und ich in diesem Zusammenhang nicht nur Taufen, Trauungen und Beerdigungen vor, wir bieten beispielsweise auch einen Dank- und Segensgottesdienst zum Abschluss der Legislaturperiode an, der 2009 auf Anregung einer ehemaligen Bundesministerin zustande kam. 2011 wurden wir um Mitwirkung bei der Einweihung eines neuen Gebäudes des Bundeslandwirtschaftsministeriums gebeten, fast schon Tradition sind die jährlichen Passions- und Adventsandachten im Konrad-Adenauer-Haus.

Dieser wichtige Teil meiner Tätigkeit ist aufs Engste mit wesentlichen kirchlichen Grundvollzügen verbunden, er kann sich nur unter diesen Bedingungen vollziehen. Gleichwohl bildet er die Grundlage für die Fruchtbarkeit der übrigen Tätigkeitsfelder, die meine Mitarbeiter und ich „bestellen“.

5.2 Erinnerung an die Grundwerte im politischen Alltag

Während der gerade beschriebene Teilbereich meiner Aufgabe von Elementen der Seelsorge, Verkündigung und Liturgie bestimmt ist, und ich in Entsprechung dieser Funktionen zumeist mit Talar und Lutherrock angetan bin, geht es in einem zweiten darum, die kirchliche Mitverantwortung für die strukturellen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unseres Gemeinwesens als die überindividuelle Spielart von Diakonie mit Leben zu füllen – dafür ist meist der weltliche Anzug das Kleidungsstück der Wahl.

Und obwohl ich mich somit in diesen Fällen „textiltheologisch“ von den klassischen Lobbyisten, die im politischen Berlin und Brüssel tätig sind, nicht unterscheide – mein Auftrag ist trotzdem nicht mit den ihren zu vergleichen. Denn anders als andere Institutionen und Verbände, anders als Nichtregierungsorganisationen oder Selbsthilfegruppen trägt die diakonisch handelnde Kirche Sorge für den ganzen Menschen. Noch einmal möchte ich Wolfgang Huber zitieren, der diesen besonderen Auftrag der Kirche anschaulich ausgedrückt hat: „In der Erwachsenengesellschaft bringt sie die Lage der Kinder, in der Arbeitsgesellschaft die Lage der Arbeitslosen, in der Leistungsgesellschaft die Stimme der Leistungsunfähigen, in einer Gesellschaft der Jugendlichkeit die Stimme der Alten zu Gehör. Die Kirche als Gemeinschaft ist nicht auf einen einzigen Bereich der gesellschaftlichen Öffentlichkeit begrenzt.“[39] Letztlich geht es den Kirchen darum, im gesellschaftspolitischen Dialog Rahmenbedingungen zu schaffen, die jedem die verantwortliche Teilnahme am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben ermöglichen.[40] Mit den Kirchen der Welt erinnert die EKD immer wieder daran, dass die Lebenssituation der Schwachen und Benachteiligten den Erfolg einer Gesellschaft indiziert.

Gemäß dem biblischen Vers, der meiner Berufungsurkunde überschrieben ist: „Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind“[41] sind meine Mitarbeiter und ich Vermittler der Ermutigung, Erinnerung und Ermahnung, die von Seiten der evangelischen Kirche im Blick auf die Belange derjenigen, die im politischen Raum zu wenig Fürsprache erfahren, an Politik und Gesellschaft herangetragen werden sollen. Dieses sozialanwaltliche Mandat ergreifen wir etwa für Migranten, Pflegebedürftige, Alleinerziehende, Geringverdiener, Menschen, die – in Deutschland oder anderswo auf der Welt – in Armut leben. Für diese und viele andere marginalisierte Gruppen treten wir in den politischen und gesellschaftlichen Dialog, wo immer es uns möglich ist.

Stetigen Diskussionsbedarf gibt es etwa beim Thema Flüchtlingsschutz. Ausgehend von dem unmissverständlichen Gebot: "Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland[42] haben sich die Kirchen mit präziser Argumentation für Humanität und Menschenwürde stark gemacht. Erfreulicherweise ist es (gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen) 2011 gelungen, die Aufnahme von 2.501 Flüchtlingen aus dem Irak in Deutschland zu erwirken. Wir sind froh, dass sich die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern entscheiden hat, dieses Engagement zu verstetigen und zumindest bis 2014 jeweils 300 Personen Aufnahme in Deutschland zu gewähren. Nichtsdestotrotz plädieren wir für ein dauerhaftes und auf größere Aufnahmezahlen ausgerichtetes Resettlementprogramm.

Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in Syrien zeigt sich, dass die Frage, ob unsere Gesellschaft Menschen in Not auch durch Aufnahmen Schutz gewähren sollte, aktuell bleibt. Angesichts von inzwischen fast einer Million Menschen, die aus Syrien geflohen sind, setzen sich die Kirchen derzeit dafür ein, dass die formalen Anforderungen für den Familiennachzug zu Syrern, die sich in Deutschland aufhalten, gesenkt werden. Adressaten unserer mündlich wie schriftlich, öffentlich und hinter verschlossenen Türen getätigten Appelle für nachhaltige Solidarität und Menschlichkeit sind dabei vorrangig die innenpolitisch tätigen Mitglieder des Parlaments und die Mitglieder der Innenministerkonferenz.


Auf der Basis des Bewusstseins, „dass der Mensch nicht sein eigener Schöpfer ist, sondern dass sich alles Leben Gott verdankt“, treten wir als kirchliche Vermittler auch für die nicht verzweckbare Würde eines jeden Menschen und damit in die aktuellen ethischen Diskussionen in Politik und Gesellschaft ein.[43] Ein Beispiel dafür, wie wir evangelische Positionen in politische Prozesse einbringen, ist die Debatte um die Beihilfe zum Suizid: Den Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums, kommerzialisierte Formen der Suizidhilfe unter Strafe zu stellen, hat die EKD mehrfach öffentlich kommentiert.[44] Demnach ist jede Form des organisierten Suizids abzulehnen. Meine Mitarbeiter und ich haben die entsprechende Stellungnahme allen mit dem Thema befassten Akteuren zugleitet und bei Gebetsfrühstücken, vielen formellen wie informellen Gesprächen und einer Anhörung im Ministerium und vor den Fraktionen thematisiert. Auch haben wir zu einer Diskussionsveranstaltung in die Dienststelle am Gendarmenmarkt eingeladen, bei der die Ministerin der Justiz mit dem Ratsvorsitzenden und einem Sozialethiker über das Thema debattierte. Nicht zuletzt aufgrund der Intervention der Kirchen wurde der Gesetzentwurf verworfen und harrt einer Neuauflage. Sobald diese erfolgt ist, werden wir uns erneut gefragt und ungefragt als Dialogpartner positionieren und in die Debatte einmischen.

Auf diese Weise sucht der Bevollmächtigte, die Antworten, die sich unserer Kirche aus der angesprochenen „radikalen Befragung der weltlichen Verhältnisse“ ergeben, als hoffentlich zivilisatorisch domestizierte zur Sprache zu bringen. Obwohl stets im Sinne eines offenen, konstruktiven Austauschs geäußert, sind die kirchlichen Ansprüche und Positionen nicht immer bequem. Trotzdem spricht Norbert Lammert vermutlich für viele politische Akteure, wenn er an die Kirchen gerichtet fordert, sie sollten „ihre Botschaften einbringen in die Geschäftigkeit der Gesellschaft. Das muss knirschen  – nicht ständig, aber es muss knirschen dürfen“.[45] Das kirchliche „Knirschendürfen“, so führe ich diesen lautmalerisch einprägsamen Gedanken weiter, ist ein Gütesigel für die Verfassung unseres Staates. Die Kompetenz zum „Knirschenkönnen“ ist eine Auszeichnung für die Kirchen, die ihren Auftrag ernst- und wahrnehmen, den von Böckenförde beschriebenen „Gemeinsinn“ als Fundament unseres freiheitlichen demokratischen Staats in der Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft zu stiften und zu erhalten.

5.3 Interessenvertretung um der Partnerschaft von Staat und Kirche willen

Staat und Kirchen in Deutschland stehen in einem Verhältnis „wechselseitiger Zugewandtheit und Kooperation" – so die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts.[46] Gerade weil es viele Berührungspunkte zwischen staatlichem und kirchlichem Wirken gibt – ich werde gleich einige Beispiele nennen –, hat sich der partnerschaftliche Ansatz des deutschen Staatskirchenrechts bewährt. Durch wechselseitige Zugewandtheit und Kooperation gelangen wir zu einem gedeihlicheren Wirken, als wenn sich beide Seiten weitgehend ignorieren würden. Durch partnerschaftliche Verträge kommen wir weiter als in einem strikten Über-Unterordnungsverhältnis. Sie dienen der Konfliktverhütung.

In vielen Bereichen können die Kirchen staatliche Arbeit ergänzen, wo der Staat an seine Grenzen stößt. Ich denke etwa an die schon beispielhaft erwähnten Katastropheneinsätze im In- und Ausland. In Notfällen ist häufig Seelsorge vonnöten, die der Staat nicht leisten kann. Das zeigte sich beim Bahnunglück in Eschede wie nach dem Tsunami in Asien. Auch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wird, wie gesagt, sinnvoll ergänzt durch Kooperation der Kirchen mit lokalen Partnern, zu denen unser Staat nur schwer Zugang fände. Hier kommt ebenfalls das partnerschaftliche Zusammenwirken zwischen Staat und Kirchen dem gemeinsamen Ziel zugute.

 

Als Bevollmächtigter darf ich gerade hin zu unseren Ansprechpartnern in der Politik nicht müde werden zu betonen: Auch die Einziehung der Kirchensteuer ist eine so genannte win-win-Angelegenheit: Die Kirchen nutzen bei diesem Verfahren staatliche Infrastruktur und vermeiden unnötige Bürokratiekosten. Umgekehrt profitiert der Staat finanziell von diesem Verfahren zur Einziehung kirchlicher Mitgliedsbeiträge, denn der Anteil der Kirchensteuer, den die Bundesländer für sich behalten – zwischen zwei und vier Prozent je nach Landeskirche –, deckt die zusätzlichen Kosten der Steuerverwaltung. Ohne die Kirchensteuer würden den Kirchen auch die Mittel fehlen, um ihre weitreichenden diakonischen Aufgaben wahrzunehmen.

 

Ich könnte noch viele weitere Beispiele nennen, die zeigen, was wir der Zugewandtheit und Kooperation von Staat und Religionsgemeinschaften verdanken. Es sei noch erwähnt, dass unser historisch gewachsenes Staatskirchenrecht sich nicht nur in Deutschland bewährt hat. Es findet auch Nachahmung, etwa in skandinavischen Staaten, die nicht mehr an der Staatskirche festhalten wollen. Es ist gewissermaßen der „Dauerauftrag“ meiner Dienststelle, auf die Vorzüge unseres Religionsverfassungsrechts hinzuweisen und daran mitzuwirken, dass die Partnerschaft von Staat und Kirche mit Leben gefüllt wird.

 

Wir müssen für dieses partnerschaftliche Verhältnis werben – Sie können diese Aufgabe auch „Lobbyarbeit um der Partnerschaft willen“ nennen. Ein konkretes Beispiel, die Debatte um eine Ablösung der Staatsleistungen: Als Kirche verschließen wir uns nicht einem ernsthaften Ablösebegehren zu rechtsstaatlich fairen Bedingungen – Enteignung gegen Entschädigung. Wir erwarten aber, dass der Bund (wenn es um das Grundsätzegesetz nach Art. 138 Abs. 1 WRV geht) und die Länder (bei Ablösungen im Einzelfall) auf die Kirchen zugehen und mit ihnen nach einer partnerschaftlichen Lösung suchen. Dies haben meine Mitarbeiter und ich in vielen Gesprächen mit Politikern deutlich gemacht. Dass wir damit in vier Bundestagsfraktionen Gehör gefunden haben, hat die Debatte über den Gesetzentwurf der Linksfraktion zur Ablösung der Staatsleistungen vor zehn Tagen gezeigt.

 

5.4 Interessenvertretung in eigener Sache


Nicht nur die Partnerschaft mit dem Staat verlangt Pflege und die offensive Vertretung der gemeinsamen Interessen. Die Kirchen müssen auch für das eigene, institutionelle Wohlergehen Sorge tragen, um den Anforderungen von Staat und Gesellschaft dauerhaft entsprechen zu können.

Dazu gehört zum Beispiel die Frequenzbereichszuweisungsplanverordnung, die uns Kirchen sprachlos zu machen droht, und zwar nicht des monströsen Begriffs wegen: Künftig sollen Frequenzen, die bisher von drahtlosen Mikrophonen genutzt wurden, für das Breitbandinternet in ländlichen Regionen, das so genannte LTE-Netz, genutzt werden. Das neue Internetangebot hat zur Folge, dass ein im Gottesdienst eingesetztes Mikrophon absehbar so stark gestört wird, dass es nicht mehr verwendet werden kann. Für die Anschaffung neuer Mikrophone hat die Bundesregierung zwar finanzielle Unterstützung zugesagt – immerhin hat sie durch die Versteigerung der Frequenzen für das LTE-Netz über vier Milliarden Euro eingenommen. Bislang ist die Entschädigung aber nur für solche Anlagen zugesichert, die zwischen 2006 und 2009 angeschafft wurden. Viele Gemeinden nutzen ihre Mikrophonanlagen aber schon wesentlich länger. Hier haben wir hartnäckig verhandelt, um die Verkündigung des Evangeliums auch künftig bis in die letzte Reihe des Kirchengestühls hörbar sein zu lassen.

Seit zwei Jahren ist meine Dienststelle auch im Bereich des Datenschutzes wieder für die Interessen der EKD aktiv. Im Oktober 2011 verdichteten sich die Hinweise, dass die Datenschutzrichtlinie der EU von 1995 durch eine Verordnung ersetzt werden solle, um ein einheitliches Datenschutzniveau in der Europäischen Union zu erreichen. Kirchlicherseits besteht die Befürchtung, dass den staatskirchenrechtlichen Besonderheiten in Deutschland dabei nicht Rechnung getragen würde: Hierzulande haben die beiden großen Kirchen ein eigenes Datenschutzrecht, eigene Datenschutzbeauftragte und es gibt einen geregelten Datenaustausch zwischen den staatlichen Meldebehörden und den Kirchen. Diese Möglichkeiten auch künftig sicherzustellen, würde entsprechende Ausnahmeregelungen in der künftigen EU-Verordnung erfordern. Die damit im Zusammenhang stehenden Fragen haben wir nachhaltig vorgetragen: Ende 2011 bei einem Gespräch zwischen Kommissarin Viviane Reding, der Leiterin meines Büros in Brüssel, Frau Hatzinger, mir und den katholischen Kollegen, danach auf der Arbeitsebene durch das Brüsseler Büro. Gegenwärtig sind wir zuversichtlich, dass sich die Situation der Kirchen durch eine künftige europaweite Verordnung nicht verschlechtert.


Die in vielen Teilen konstruktive Zusammenarbeit mit den politischen Akteuren in Berlin und Brüssel lässt keinen Zweifel daran, dass die staatlichen Ansprechpartner ihre Verantwortung ihren kirchlichen Partnern gegenüber immer wieder wahrzunehmen bereit sind. Am Beispiel meiner Tätigkeit als Bevollmächtigtem wird deutlich, dass es – in dieser wie auch in allen anderen entfalteten Hinsichten - immer wieder des Austauschs mit Staat und Gesellschaft bedarf, und wie die EKD diesen Dialog in der Praxis gestaltet. Selbstredend ist das Wirken meiner Dienstelle nur eine Facette des kirchlichen Engagements in diesem Zusammenhang, aber sie ist – das hoffe ich deutlich gemacht zu haben – eine wichtige.

Ebenfalls deutlich gemacht habe ich hoffentlich, dass die Kirchen aus der gesellschaftspolitischen Diskussion nicht wegzudenken sind. So überzeugend ihr Handeln in der Öffentlichkeit indes sein mag – nachhaltig glaubhaft wirken sie nur als Vorbilder. Authentizität aber kommt ihnen ausschließlich in der Rückbindung an ihre Wesensmerkmale der Verkündigung, Liturgie und Diakonie zu. Unter der Voraussetzung, dass diese Rückbindung von Seiten der Kirchen kultiviert und von Seiten des Staates und der Gesellschaft befördert wird, kann der christliche Glaube zum Movens werden für die Übernahme individueller Verantwortung für den Nächsten, als auch für das Bewusstsein struktureller Verantwortung für die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. Daher sind die Kirchen die richtigen Adressaten des Anspruchs, die politische Kultur als Verbindung der Grundwerte der Demokratie mit den Qualifikationen und Kompetenzen von Bürgerinnen und Bürgern zu befördern. Unsere Gesellschaft braucht den Dialog, den die Kirchen in diesem Sinne immer wieder generieren und erhalten, um auf dem Boden eines stabilen demokratischen Gemeinwesens den sich stetig wandelnden Herausforderungen der Zeit immer wieder neu begegnen zu können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


[1] Als Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beziehe ich mich im Folgenden in der Hauptsache auf die evangelisch getragenen Einrichtungen und Werke. Das soziale Engagement der katholischen Kirche ist indes in seiner Größenordnung bundesweit mit dem evangelischen durchaus vergleichbar.

[2] Rund 40 Prozent der befragten Freiwilligen bringen bis zu 10 Stunden im Monat für ihr Engagement auf, über ein Drittel (35 Prozent) bis zu 20 Stunden und 10 Prozent zwischen 21 und 30 Stunden

[3] Stand 01.01.2011, Katholische Kirche in Deutschland: Zahlen und Fakten 2011/12, S. 38.

[4] 45 Prozent davon sind berufsbildende Schulen. Die katholische Kirche ist Trägerin von 9.400 Kindertageseinrichtungen und 908 Schulen.

[5] Der Hauptpreis des Deutschen Schulpreises 2012 ging an die evangelische Schule Neuruppin für hervorragendes Schulklima und zugleich hervorragende Leistungen

[6] „Evangelische Kirche in Deutschland, Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben 2012“, S. 25

[7] Neumann bezeichnete die Leistungen der Kirchen im Kulturbereich als „existenziellen unverzichtbaren Teil der Kultur in Deutschland“.

[8] „Der Beitrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften zum kulturellen Leben in Deutschland. Gutachten des Instituts für kulturelle Infrastruktur Sachsen, 2005, S. ii.

[9] Stand 01.01.2010, Zahl gerundet; Siehe: „Evangelische Kirche in Deutschland, Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben 2012“, S. 35.

[10] Katholische Kirche in Deutschland: Zahlen und Fakten 2011/12, S.34.

[11] Eckhart von Vietinghoff: „Lasst die Kirche im Dorf!“ Vortrag im Rotary-Club Hannover, 27. 11. 2011

[12] Torgauer Kirchweihpredigt 1544

[13] Vgl. Deutscher Kulturrat (Hg.): „Die Kirchen, die unbekannte kulturpolitische Macht“, Berlin, 2007, S.  31f

[14] Diese Kluft nehmen christliche wie jüdische Vertreter gleichermaßen fest. Vgl. EKD-Pressemitteilung Nr. 32/2013: „Das Gespräch mit der säkularen Öffentlichkeit suchen“

[15] 2010 betrug der Anteil der Christen an der Bevölkerung 61,4 Prozent, 1989 waren es noch im früheren Bundesgebiet noch 82,8 Prozent.

[16] Günther Wilhelms, „Organisationsformen des Glaubens. Kirchliche Strukturen vor den Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels“. Gutachten im Rahmen des von der Bertelsmann-Stiftung durchgeführten Projekts „Die Rolle der Religion in der modernen Gesellschaft“, S. 6.

[17] Im Niedersächsischen und Bayerischen Landtag gab es entsprechende Anfragen der SPD-Fraktion (Drs. 16/2695, 16/3652 und 16/86489), ebenso im Sächsischen und Bayerischen Landtag  von den Grünen (Drs. 5/2035 und 5/2037, 5/2929, 16/8647)

[18] Siehe „Trennung von Staat und Kirche endlich konsequent umsetzen“. Stadthauptversammlung FDP München, Antragsbuch, 15.7.2010. Vgl. auch den Antrag zum Landesparteitag der schleswig-holsteinischen FDP im November 2012.

[19]„Demokratie braucht Tugenden“, Gemeinsame Texte 19, 2006, S. 16.

[20] „Die Grenzen der Gemeinschaft. Konflikt und Vermittlung in pluralistischen Gesellschaften“ Ein Bericht der Bertelsmann-Stiftung an den Club of Rome, Gütersloh, 1997

[22]Joschka Fischer; Die Linke nach dem Sozialismus, 1992, S. 191

[23] Norbert Lammert: „Religion und Politik, Wahrheit und Interessen, Werte und Entscheidungen“. In: Hans-Gert Pöttering (Hg.): „Damit ihr Hoffnung habt. Politik im Zeichen des ‚C’“. Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sankt Augustin/Berlin, 2010, S. 22

[24] Winfried Kretschmann: „Aktive Religionsfreiheit – eine kooperative Trennung von Kirche und Staat“, Vortrag in der Katholischen Akademie Berlin, 2012.

[25] Demokratie braucht Tugenden“, Gemeinsame Texte 19, 2006, S. 12. Weiter heißt es dort:„Im deutschen Grundgesetz hat das christliche Bild vom Menschen seinen Niederschlag gefunden. Dieses Bild ist dadurch bestimmt, dass der Mensch zu freier Entscheidung fähig ist und zugleich immer in solidarischer Verbundenheit mit anderen lebt.“

[26] Vorwort zum Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“, 1997

[27] Wolfgang Huber: „Die Bedeutung christlicher Werte für die Zukunft der Gesellschaft“, Vortrag in Nürtingen, 2007.

[28] Darüber hinaus haben sich rund 169.600 Menschen katholisch taufen lassen; 210.608 Kinder gingen zur Kommunion, 174.427 zur Firmung. 46.021 katholische Trauungen und  247.762 Beerdigungen fanden statt; In: Katholische Kirche in Deutschland: Zahlen und Fakten 2011/12

[29] Vgl: Günther Wilhelms, „Organisationsformen des Glaubens. Kirchliche Strukturen vor den Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels“. Gutachten im Rahmen des von der Bertelsmann-Stiftung durchgeführten Projekts „Die Rolle der Religion in der modernen Gesellschaft“, S. 21

[30] Siehe Hans-Joachim Höhn: „"Zerstreuungen. Religion zwischen Sinnsuche und Erlebnismarkt", Düsseldorf 1998, S. 145.

[31] Ebd, S. 23

[32] „Evangelische Kirche in Deutschland, Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben 2012“, S. 24.

[33] In der aktuellen Publikation „Konfirmandenarbeit. 12 Thesen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland“ wird betont, dass in der Konfirmandenarbeit Jugendliche ethische Fragen und Werthaltungen nicht nur nachdenken, sondern „in der Gemeinschaft von Gleichaltrigen erproben“. Angesichts des wachsenden Zeitdrucks, dem Jugendliche ausgesetzt seien, fordert der Rat der EKD zeitlichen Freiraum für die Konfirmandenarbeit. Die Verdichtung der Schulzeit habe nicht nur in der Konfirmandenarbeit negative Auswirkungen auf das ehrenamtliche Engagement von Jugendlichen.

[34] Vgl. „Religionsunterricht. 10 Thesen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland“. Hg: Kirchenamt der EKD, 2006, S.3.

[35] Dort heißt es folgerichtig weiter: „Mit dem Grundgesetz geht die evangelische Kirche davon aus, dass es heute neben dem christlichen Religionsunterricht nicht nur wie schon bisher einen jüdischen, sondern auch einen islamischen Religionsunterricht geben muss, sofern die dafür erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind.“

[36] Demokratie braucht Tugenden“, Gemeinsame Texte 19, 2006, S. 14.

[37]  Paul Nolte: „Öffentliche Religion: ‚Damit ihr Hoffnung habt‘“, in: Hans-Gert Pöttering (Hg.): „Damit ihr Hoffnung habt. Politik im Zeichen des ‚C’“. Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sankt Augustin/Berlin, 2010, S. 59

[38] Dies trifft in abgeschwächter Form auch auf meine Tätigkeit in Brüssel zu. Ich beziehe mich im Folgenden jedoch maßgeblich auf den Standort Berlin, an dem ich dauerhaft präsent bin.

[39] Huber, Wolfgang. Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche. Gütersloh, Verl. Bertelsmann Stiftung 1998, S. 280f

[40] Vgl. „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“. Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, 1997, S. 113

[41] Sprüche 31,8.

[42] 3. Mose 19,33f

[43] Siehe: Stellungnahme des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Präimplantationsdiagnostik (PID), Februar 2011

[44] „Jede Form organisierter Suizidbeihilfe ist abzulehnen!“ – Erklärung des Rates der EKD zur Debatte über die Beihilfe zur Selbsttötung,  November 2012

 

[45] Norbert Lammert: „Religion und Politik, Wahrheit und Interessen, Werte und Entscheidungen“. In: Hans-Gert Pöttering (Hg.): „Damit ihr Hoffnung habt. Politik im Zeichen des ‚C’“. Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sankt Augustin/Berlin, 2010, S. 20.

[46] BVerfGE 42, 312 (330), 1976 (Bremer Mandatsurteil): „Art. 140 GG steht in einer geschichtlichen Kontinuität, die zum Verständnis der Vorschrift herangezogen werden muß. Nach einer jahrhundertelangen Periode enger Verbindung von Staat und Kirche beginnt in Deutschland im 19. Jahrhundert ein Prozeß zunehmender Lockerung dieses Verhältnisses, - trotz mancher heftiger Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche nicht in der Tendenz feindschaftlicher Trennung, sondern wechselseitiger Zugewandtheit und Kooperation“.