Vorwort

2. Zwischen Autonomie und Angewiesenheit - Familienleben heute

„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Bereits in den ersten Kapiteln der Bibel wird deutlich, dass Menschen zur Gemeinschaft bestimmt und auf Liebe, Fürsorge, Erziehung und Pflege angewiesen sind. Gleichzeitig gehört der Wunsch nach Erkenntnis, Entdeckung, nach Entwicklung und Eigenständigkeit konstitutiv zum Menschsein. In der Ambivalenz von Angewiesenheit und Autonomie wird Familienleben erfahren. Ehe, Partnerschaft, Verantwortung für Kinder, Pflegebedürftige und Kranke werden geprägt durch Bildungsprozesse, die Bedingungen des Erwerbslebens und die gesellschaftliche Gestaltung von Lebensrisiken. Um eine evangelische Verständigung über Ehe, Familie und Partnerschaft zu versuchen, geht es zunächst um eine Ortsbestimmung. Dabei fallen aktuelle Trends in Familienleben und Partnerschaftsverhalten auf: die spätere Familiengründung und der Rückgang von Eheschließungen, die Vervielfältigung von Familienformen, das Auseinanderdriften der sozialen Lebenslagen und die steigende Kinderarmut, schließlich gibt es mehr Familien mit Migrationshintergrund.

  1. „Familie hat jeder“, betonte die Synode der EKD 2004. Und trotzdem oder gerade deshalb ist es nicht einfach, über Familie zu schreiben. Denn das Thema Familie berührt wesentliche biografische Erfahrungen, in denen unsere kulturelle und religiöse Identität wie unsere Vorstellung von Geschlechterrollen und unser Familienbild selbst geprägt worden sind: Es betrifft aber genauso zentrale gesellschaftliche Fragen wie die demographische Entwicklung, die Erziehung der nächsten Generation und die Versorgung kranker und alter Menschen. Wir bringen tradierte Bilder und Vorstellungen von Familie mit, aber Familie ist kein fixes Gebilde, sondern eine alltägliche Gestaltungsaufgabe, die uns in jeder Lebensphase neu herausfordert und neue Erfahrungen mit sich bringt. Selbst wenn wir über den gesellschaftlichen Wandel von Familie und über sozialpolitische Weichenstellungen nachdenken, kann uns das Thema emotional berühren. Familie bedeutet höchstes Glück, aber auch die Möglichkeit des Scheiterns und Neubeginns und den Wandel von Beziehungen. Wenn wir darüber reden, wird zugleich deutlich, wie unterschiedlich wir durch unsere Erfahrungen geprägt sind, wie unterschiedlich auch unsere Vorstellungen darüber sind, was Familie ausmacht und ausmachen soll.

    Im Folgenden wird darauf eingegangen, wie sich das Bild und Ideal von Familie im Laufe der Geschichte veränderte, welche Auswirkungen die historischen Veränderungen für die Rechtsgestalt von Familie hatten und haben und welche Rolle die evangelische Kirche dabei spielt und spielen kann. Denn Familie ist auch sehr eng mit unserem Glauben verbunden: In der Kirche werden Ehen gesegnet, Kinder getauft, Angehörige zu Grabe getragen. Von Trost und Segen erhoffen sich Menschen eine Stärkung ihrer Liebe und Gemeinschaft, die auch in Krisen trägt. Ziel dieses Textes ist deshalb, eine evangelische Verständigung über Ehe, Familie und Partnerschaft im beginnenden 21. Jahrhundert anzuregen. Dabei soll die Spannung zwischen der modernen Suche nach Autonomie und der wechselseitigen Angewiesenheit thematisiert werden. Die Schöpfungsgeschichte beschreibt es mit dem schlichten Satz: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Nicht nur Kinder sind auf ihre Eltern und kranke und pflegebedürftige Familienmitglieder auf Hilfe angewiesen, auch Liebende sind in gleichberechtigter Weise aufeinander angewiesen und gerade so miteinander verbunden. Dabei können sich die wechselseitigen Abhängigkeiten im Laufe des Lebens durchaus ändern. Dass solche Angewiesenheit und wechselseitige Hilfe emotionale Bindung erzeugt und die Erfahrung von Geborgenheit und Heimat in sich birgt, ist eines der Geheimnisse von Familienleben und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Menschen wünschen sich Freiheit, aber sie suchen auch Zugehörigkeit.

  2. Familie ist ein alltäglicher Lebenszusammenhang und Lernort der verschiedenen Generationen. Familienmitglieder gehen auf Dauer angelegte Verantwortungs- und Fürsorgebeziehungen miteinander ein, Kinder finden sich darin vor, noch ehe sie darüber nachdenken können. Dabei hat unser Bild von Familie in den letzten Jahren eine Erweiterung erfahren: Familie - das sind nach wie vor Eltern (ein Elternteil oder zwei) mit ihren leiblichen, Adoptiv- oder Pflegekindern, vielleicht erweitert um die Großelterngeneration. Familie, das sind aber auch die so genannten Patchwork-Familien, die durch Scheidung und Wiederverheiratung entstehen, das kinderlose Paar mit der hochaltrigen, pflegebedürftigen Mutter und das gleichgeschlechtliche Paar mit den Kindern aus einer ersten Beziehung. Die Menschen, die wir zur Familie zählen, leben nicht unbedingt gemeinsam unter einer Adresse - das heißt aber nicht, dass es nicht liebevolle Zuwendung, vielfältigen Austausch, Unterstützung, Hilfeleistung, Gespräche, kurz: familiales Zusammengehörigkeitsgefühl gibt.

  3. Junge Männer und Frauen haben ganz überwiegend den Wunsch, Familien zu gründen und mit Kindern zu leben. Gleichzeitig liegt Deutschland mit einem Kinderwunsch von 1,7 Kindern im europäischen Vergleich extrem niedrig (Ruckdeschel/Dorbritz 2012). Als Gründe dafür gelten das traditionelle Familienbild im Westen, das es besonders den gut qualifizierten Frauen sowohl auf der normativen wie auch der alltagspraktischen Ebene schwer macht, Familie und Beruf zu vereinbaren. In Ostdeutschland liegt zwar die Kinderwunschrate höher, jedoch werden häufig Kinderwünsche angesichts der immer noch schwierigen wirtschaftlichen Lage aufgeschoben. Auch die wachsenden Anforderungen an die Erziehung und Bildung von Kindern sowie die hohen Ansprüche an die Qualität von Partnerschaften sorgen für eine Verschiebung des Kinderwunsches. Die deutliche Zunahme von Reproduktionsmedizin zeigt die schmerzhafte Spannung zwischen Kinderwunsch und Realität.

  4. Angesichts gravierender gesellschaftlicher Veränderungen wie sinkender Geburtenraten, dem Wandel der Altersstruktur, veränderter Geschlechterverhältnisse, steigender Scheidungs- und Trennungsraten, weltweiter Wanderungsprozesse, flexibler und mobiler Erwerbsarbeit sowie risikoreicher Arbeitsmarktstrukturen, mit denen sich Familien (je nach ihrem gesellschaftlichen Ort) derzeit auseinandersetzen müssen, geraten traditionelle Orientierungen ins Wanken. Die Erziehung von Kindern stellt heute Anforderungen, die Eltern ohne gesellschaftlichen Rückhalt kaum bewältigen können. Ungeklärt ist insbesondere, wie die vielfältigen Fürsorgeaufgaben, die bislang Mütter, Töchter und Schwiegertöchter übernommen haben, angesichts der steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen neu verteilt werden sollen. Vor allem für die Versorgung und Betreuung Pflegebedürftiger ist eine „Fürsorgelücke“ entstanden.

  5. Obwohl sich in den westlichen Gesellschaften ein hohes Autonomieideal des Individuums entwickelt hat, bleibt Familie der Raum der Gemeinsamkeit und des Füreinander-da-Seins, in dem Halt und Liebe erfahren werden können. In der wachsenden Sehnsucht, eine Familie zu gründen oder in einer Familie zu leben, wird sichtbar, dass Menschen neben dem Wunsch nach Autonomie und Freiheit zugleich ein Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit haben. Angesichts gravierender gesellschaftlicher Umbrüche und der wachsenden Erwartung an Mobilität und Flexibilität in der Berufswelt werden Ehe und Familie auch als ein Schutzraum erfahren, als Gemeinschaft, die gesellschaftliche Anforderungen auszubalancieren hat. Familien werden dabei vielfältige Aufgaben zugetraut und zugemutet: Kinder sollen so erzogen werden, dass sie das Leben in einer auf Individualisierung angelegten Wissensgesellschaft bestehen. Ehe- und Lebenspartner sollen sich gegenseitig ermöglichen, persönliches Glück zu erfahren und zu genießen und einander eine Stütze sein. Kranke und alte Menschen sollen versorgt werden, verwandtschaftliche, nachbarschaftliche und freundschaftliche Netze wollen gepflegt und weiterentwickelt werden. Zwischen den Anforderungen des Berufslebens und den Erwartungen an Erziehung, Pflege und Freundschaft muss der Alltag bewältigt werden. Bei all dem wollen Eltern ihre Kinder glücklich machen; sie möchten mit ihren Kindern ein erfülltes Familienleben führen, in dem die Bedürfnisse aller Familienmitglieder zu ihrem Recht kommen (Jurczyk/Lange/Thiessen 2013). Die Kirchen unterstützen Familien in ihrem Wunsch nach gelingender Gemeinschaft, sie begleiten sie aber auch im Scheitern und bei Neuaufbrüchen.

  6. Bei diesen vielfältigen Aufgaben brauchen Familien Unterstützung. Sie brauchen ausreichend Zeit und materielle Absicherung. Sie sind auch als Gemeinschaft auf passende gesellschaftliche Angebote wie Erziehungseinrichtungen oder Pflegedienste angewiesen. Diese Spannung von Autonomie und Angewiesenheit, Freiheit und Bindung sowie persönlicher und gesellschaftlicher Verantwortung kennzeichnet das Leben in der Familie, sie ist aber auch konstitutiv für Familienpolitik. Dabei wandelt sich das Verhältnis der einzelnen Mitglieder zur Familie, genauso wie sich Anforderungen und Rollen innerhalb der Familien verändern ? für Mütter, Väter und Kinder. Auf wesentliche Trends, die die Wandlung von Familie kennzeichnen, sei hier hingewiesen.

  7. Lange Ausbildungszeiten und schwierige Berufseinstiege haben zur Folge, dass die Familiengründung im Lebenslauf immer weiter hinausgeschoben wird: Das Durchschnittsalter der Frauen bei Geburt des ersten Kindes liegt gegenwärtig bei 29 Jahren (Ostdeutschland: 27 Jahre), 60% der Kinder werden von 26- bis 35-jährigen Müttern geboren (Statistisches Bundesamt 2012: 9f.). Dazu gehört, dass die Ehe zunehmend nicht mehr Voraussetzung, sondern Folge gemeinsamer Kinder ist: Ein Drittel aller Kinder wird gegenwärtig nichtehelich geboren. Das sind doppelt so viele wie noch vor zwanzig Jahren (Statistisches Bundesamt 2012, 18). Hier besteht ein markanter deutsch-deutscher Unterschied: Im Westen Deutschlands werden 27% der Kinder außerhalb der Ehe geboren, im Osten 61% (Statistisches Bundesamt 2012, 19). Der sinkenden Attraktivität der Ehe entspricht auch ein Rückgang kirchlicher Eheschließungen. Ließen sich 1990 von den ca. 500.000 Ehepaaren noch 100.000 evangelisch und 110.000 Paare katholisch trauen, waren dies 2003 von den nur noch 380.000 Eheschließungen 56.000 evangelische und 50.000 katholische Trauungen. Das ist eine Abnahme von 14% der kirchlichen Trauungen in nur 13 Jahren (EKD-Texte 101).

  8. Die Vielfalt des Familienlebens nimmt zu. Zwar sind noch 72% der Familien Ehepaare mit Kindern (BMFSFJ 2012, 22), aber angesichts der anhaltend hohen Scheidungsraten sind Familien auf Ehebasis zunehmend Patchwork-Konstellationen mit komplexeren familialen Lebensführungen. Zu den leiblichen Elternteilen kommt in diesen Fällen noch mindestens ein sozialer Elternteil hinzu. Ebenfalls angestiegen ist der Anteil von Alleinerziehenden (19%) und nichtehelichen Lebensgemeinschaften (knapp 9%). Ein großer Unterschied in den Familienformen zeigt sich im Ost-West-Vergleich. In Ostdeutschland machen verheiratete Familien nur noch knapp die Hälfte aus, während es im Westen rund drei Viertel sind. Alternative Lebensformen nehmen zu: Jede vierte Familie im Osten und jede fünfte im Westen ist eine Ein-Eltern-Familie.17% der Familien in Ostdeutschland und 6% der Familien in Westdeutschland sind nichteheliche Partnerschaften (BMFSFJ 2012, 23).

    Auch wenn sich das Sorgerecht diesem Wandel angepasst hat und üblicherweise heute im Scheidungsfall beide Eltern das Sorgerecht behalten (vgl. Ziff. 33), so bedeuten diese Veränderungen im Familienleben auch Verunsicherungen insbesondere für Kinder. Eine Trennung oder Scheidung der Eltern führt akut zu einer deutlichen Belastung bei Kindern, langfristig lassen sich bei der überwiegenden Mehrheit keine negativen Folgen feststellen, im Gegensatz zu Familien, in denen Konflikte über Jahre hinweg andauern (Walper/Langmeyer 2008). Für eine gelingende (Wieder-)Herstellung von Verbindlichkeit in den vielfältigen Familienformen und den sich im Laufe einer Familienbiografie mehrfach verändernden Konstellationen stehen oft noch keine angemessenen kirchlichen Rituale zur Verfügung.

    Eine weitere Familienform, die stark in der Öffentlichkeit diskutiert wird, sind gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften mit Kindern, so genannten „Regenbogenfamilien“. Bundesweit wird die Anzahl gleichgeschlechtlicher Paare, die in einem gemeinsamen Haushalt leben, auf ca. 70.000 geschätzt, davon ist ein Viertel eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen. Rund 7.000 Kinder leben in Familien, in denen die für sie Fürsorge tragenden Erwachsenen gleichgeschlechtliche Partnerschaften eingegangen sind. (Rupp 2009).

  9. Die sozialen Milieus in Deutschland entwickeln sich aktuell in hohem Maße auseinander. Auffällig ist die Polarisierung sozialer Lebenslagen - zwischen Ein- und Zwei-Verdiener-Haushalten, vor allem aber zwischen denen, die für Kinder sorgen, und denen, die keine Kinder zu versorgen haben. Besonders bedenklich ist, dass es überdurchschnittlich viele Alleinerziehende sind, die von Einkommensarmut betroffen sind: Alleinerziehende mit einem Kind sind zu 46%, mit zwei und mehr Kindern sogar zu 62% armutsgefährdet. In Paarhaushalten variiert die Armutsrisikoquote je nach Kinderzahl zwischen 7 und 22% (BMFSFJ 2012, 100f.). Bei den Unter-18-Jährigen ist ein Fünftel von Armut betroffen (BMFSFJ 2012, 98). In armen Familien häufen sich Unterversorgungslagen. Hier haben die Mütter oder Väter häufig einen niedrigen oder keinen Bildungs- oder Berufsabschluss. Das führt zu diskontinuierlicher Erwerbsarbeit und hoher, generationsübergreifender Arbeitslosigkeit. Wenn diese in materieller Armut groß gewordenen Kinder selber Eltern werden, haben sie häufig durch ihre frühen Deprivationserfahrungen und damit meist einhergehender Unterversorgung in mehreren Lebensbereichen geringe Beziehungskompetenzen. Sie haben häufig Ausgrenzung und das Gefühl von Wertlosigkeit erfahren, das auch an die Kinder weitervermittelt wird. So erstaunt es nicht, dass Kinder, die in Armut aufwachsen und deren Eltern arbeitslos sind, am häufigsten Zuwendungsdefizite der Eltern benennen (30%, Hurrelmann/Andresen 2010, 88f.).

  10. Das Bild der Familie muss auch in kultureller Hinsicht relativiert werden: Fast jede dritte Familie hat heute einen Migrationshintergrund (30% in West-, 14% in Ostdeutschland, BMFSFJ 2010, 18). Zu diesen Familien zählen alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, bei denen mindestens ein Elternteil eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt oder die deutsche Staatsangehörigkeit beispielsweise durch Einbürgerung erhalten hat. Knapp ein Viertel der zugewanderten Familien kommt aus der Türkei. Etwa ein Fünftel stammt aus Osteuropa, ein weiteres Fünftel aus süd- oder westeuropäischen Ländern (BMFSFJ 2010, 19). Eine besondere Herausforderung für das Bildungssystem besteht in der Tatsache, dass bei den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in einigen Regionen im Westen Deutschlands und in Berlin mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung beträgt. Die sozialräumliche Trennung beginnt bereits in den Kindertageseinrichtungen. Dies ist eine große Herausforderung für Betreuungs- und Bildungseinrichtungen. Gleichzeitig haben Eltern mit Migrationshintergund besonders hohe Erwartungen an den Bildungsaufstieg ihrer Kinder, kennen jedoch nicht unbedingt die Erwartungen des hiesigen Bildungssystems an die familiale Unterstützung. Dies wird fälschlicherweise oft mit Desinteresse der Eltern gleichgesetzt.

  11. Zusammenfassend zeigen diese Trends zum Familienleben in Deutschland, dass Pauschaldiagnosen von „Familie heute“ ein unvollständiges Bild zeichnen. Entgegen mancher Krisenszenarien, die vom Zerfall der Familie oder verschärfter „Individualisierung“ sprechen, ist bei längerfristiger Analyse eine erstaunliche Kontinuität festzustellen. Wie in der Familiensoziologie betont wird, liegt der Prozentsatz der Kinder, die bis zum 18. Lebensjahr bei beiden Eltern aufwachsen, gegenwärtig höher oder genauso hoch wie in den Kriegs- und Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts, in denen die Väter nicht aus dem Krieg heimkehrten und Familien auseinandergerissen wurden. Lediglich im Vergleich mit den 1950er Jahren, in denen die Klein- oder Kernfamilie als Leitbild einer wiedergewonnenen Normalität galt, haben sich die privaten Lebensformen verändert. Gleichwohl kann nicht von einer Erosion der Familienbeziehungen gesprochen werden. Offenbar hat vielmehr die vorangegangene Kriegs- und Unheilserfahrung dazu geführt, dass diese Zeit als „heile Familienwelt“ idealisiert wird. Wenn man jedoch berücksichtigt, dass der Anteil der Kinder, die in Heimen und anderen Einrichtungen untergebracht waren oder sind, seitdem deutlich zurückgegangen ist, lässt sich heute sogar von einer Familiarisierung des kindlichen Aufwachsens in unserer Gesellschaft sprechen.

    Wie Familie gelebt wird, hängt also nicht nur von Milieu und Lebensstil der einzelnen Familien ab, sondern auch von historischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen. Das zeigt nicht zuletzt die unterschiedliche Entwicklung der Lebensmuster, Alltagspraktiken und Familienmodelle seit den 1970er Jahren in Ost- und Westdeutschland, die wohl allen Bürgerinnen und Bürgern nach der Wende bewusst geworden sind. Dazu gehören auch die zeit- und systembedingten Vorstellungen von den jeweils den Geschlechtern zugewiesenen Aufgaben, der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, der Unterstützung durch Tageseinrichtungen für Kinder, von „guter“ Mutter- und Vaterschaft, von Kindheit oder Großelternschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert haben.

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