"...damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen"
Ein Beitrag zur Debatte über neue Leitbilder für eine zukunftsfähige Entwicklung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. August 2015
6. Schlussfolgerungen – der Beitrag der Kirchen zum gesellschaftlichen Wandel
Die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung möchte mit den vorstehenden Überlegungen einen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte über neue Maßstäbe und Leitbilder für eine zukunftsfähige Entwicklung leisten. Ein neues Entwicklungsparadigma ist erforderlich, das seine Ursprünge aus der Entstehungszeit des kapitalistischen Industriesystems, die auf der Ausbeutung fossiler Ressourcen und kolonialer Räume basierte, hinter sich lässt. Das ressourcenintensive Muster der Industriegesellschaft ist weder universalisierbar noch zukunftsfähig, weil es die planetaren Grenzen des Erdsystems überschreitet. Auch sind die Grundannahmen bisheriger Wirtschaftspolitik zu hinterfragen, weil es ihr nicht gelingt, zu dem Ziel sozial gerechter und ökologisch nachhaltiger Gesellschaften beizutragen.
Die Kooperation mit Entwicklungs- und Industrieländern für eine global nachhaltige Entwicklung muss sich daher an veränderten Maßstäben von Zukunftsfähigkeit ausrichten. Zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen auf unserem Planeten sind nicht nur umweltverträgliche und klimafreundliche Technologien, Produkte und Prozesse nötig. Vielmehr muss es gelingen, unsere Vorstellungen von der materiellen Seite eines guten Lebens so zu fassen, dass innerhalb der Tragfähigkeitsgrenzen der Erde die menschlichen Gesellschaften insgesamt gerechter und wohlhabender werden.
Die Herausforderungen der sozial-ökologischen Transformation sind vielfältig; sie erfordern Veränderungsbereitschaft und Investitionen in sowohl Such- und Umbauprozesse innerhalb der einzelnen Länder als auch neuartige Kooperationsbeziehungen. Nicht nur arme Länder, sondern auch reiche und einflussreiche Staaten sind auf internationale Kooperation angewiesen, um grenzüberschreitende Probleme zu lösen. Dafür müssen sie lernen, nationale Debatten viel stärker als bisher in den internationalen Kontext zu stellen: Die Verringerung von Armut und Ungleichheit und die Sicherung zukunftsfähiger Lebensbedingungen sind nicht gegen nahe und ferne Nachbarn zu erreichen, sondern erfordern, zusammenzuwirken, sich gegenseitig zu unterstützen und Kompromisse einzugehen. Es wird auch darum gehen müssen, die Handlungsspielräume demokratischer Nationalstaaten gegenüber den Konzernen auf Güter- und Finanzmärkten wieder zu stärken und gleichzeitig einen verbindlichen Rahmen für die internationale Kooperation zu setzen – denn ein Rückfall in nationalistische Abgrenzungs- und Denkmuster wäre angesichts der grenzüberschreitenden Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fatal. Problemlösungen zu entwickeln und umzusetzen erfordert die Zusammenarbeit von öffentlicher Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kirchen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, auch in transnationalen Netzwerken, um Lernprozesse zu beschleunigen und Erfahrungen zu teilen. Denn die Zeit drängt.
Internationale Kooperation erfordert Vertrauen, Kommunikation und die Einhaltung gemeinsamer Regeln. Fairness ist dabei ein wichtiges Prinzip, denn Kooperation muss in einer nach wie vor sehr heterogenen Welt gestärkt werden. Die früh industrialisierten Länder im Westen müssen lernen, ihre Rolle in einer Welt neu auszufüllen, die durch den Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens und anderer Schwellenländer verändert wird. Die alten Industrieländer müssen sich in der Verständigung mit diesen Ländern engagieren und dabei die gewachsenen Vertrauensbeziehungen untereinander weiter pflegen.
Im Vordergrund der internationalen Verständigung und Kooperation stehen dabei die Friedenssicherung, die Wahrung der Menschenrechte als Mindeststandards staatlichen Handelns und die Durchführung von Politiken und Programmen, die aus der Sicht einer global nachhaltigen Entwicklung kohärent sind und sich nicht gegenseitig unterminieren. Die globale Entwicklungsagenda nach 2015 stellt eine Chance für Weichenstellungen in diese Richtung dar. Zur Umsetzung dieser neuen Agenda wird es notwendig sein, das Instrumentarium der internationalen Entwicklungszusammenarbeit zu reformieren und einen Kurswechsel in Deutschland einzuleiten.
Bei aller Notwendigkeit eines Neuanfangs und einer Neuorientierung gilt doch weiterhin der Grundgedanke, der die Entwicklungszusammenarbeit staatlicher und kirchlicher Entwicklungsakteure geprägt hat: die Vorstellung, dass sich Gesellschaften entwickeln und dass Entwicklung der »Verbesserung« unwürdiger und ungerechter menschlicher Lebensverhältnisse dient, indem sie dazu beiträgt, das Wohlstandsgefälle zwischen und innerhalb von Gesellschaften zu überwinden. Dafür ist internationale Kooperation unverzichtbar.
Dies bedeutet, dass nachhaltige Entwicklung auch eine Verständigung in der Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften über ethische Grundlagen und Ziele unseres Handelns erfordert. Die Religionen bilden eine Quelle ethischen Denkens und Handelns. Daher müssen sich auch die Kirchen in diese Verständigungs-, Such- und Umbauprozesse einbringen und diese Themen und Fragen auch in den interreligiösen Dialog einführen. Die Gestaltung der Politik in einer vernetzten Welt braucht die Verständigung über gemeinsame Maßstäbe verantwortungsvollen Handelns, die die Evangelische Kirche in Deutschland und viele andere Kirchen und Religionsgemeinschaften auch aus dem eigenen Glauben ziehen. Gerade in diesem offenen gesellschaftlichen Suchprozess nach neuen Leitbildern für eine zukunftsfähige Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, für die auf keine Blaupausen zurückgegriffen werden kann, ist das Orientierungswissen der Religionen gefragt. Und nicht zuletzt geht es auch darum, die transformative Kraft einer Spiritualität zu entfalten, die über den Tag und über die Begrenztheit der menschlichen Perspektive hinausweist.
In diesem Sinne betont auch die Missionserklärung des Ökumenischen Rats der Kirchen »Gemeinsam für das Leben« von 2012 die verwandelnde Kraft des Geistes Gottes. Spiritualität als eine Theologie des guten Lebens, die sich von Gottes Geist bewegen lässt, »leistet Widerstand gegen alle Leben zerstörenden Werte und Systeme, wo immer sie in unserer Wirtschaft, unserer Politik und selbst in unseren Kirchen am Werk sind, und versucht, diese zu verwandeln. [...] Die missionarische Spiritualität treibt uns an, Gottes Ökonomie des Lebens und nicht dem Mammon zu dienen, unser Leben mit anderen am Tisch Gottes zu teilen, statt unsere persönliche Gier zu befriedigen, uns für den Wandel zu einer besseren Welt einzusetzen und das Eigeninteresse der Mächtigen, die den Status quo aufrecht erhalten wollen, zu hinterfragen.« [122]
Das Anliegen einer transformativen Spiritualität und Kirche, die sich in den gesellschaftlichen Wandel zu mehr Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit einbringt und Orte des Diskurses stiftet über die Fragen, wie wir leben wollen, wie wir unser Zusammenleben organisieren und wie wir Gesellschaft und Wirtschaft gestalten wollen, wird heute in unseren Kirchen und in der weltweiten Ökumene vielerorts aufgegriffen. Der Aufruf der 10. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen von Busan 2013 zu einem Pilgerweg für Gerechtigkeit und Frieden weist in diese Richtung. Die ACT Alliance, das weltweite Bündnis kirchlicher Organisationen für Entwicklungsarbeit und humanitäre Hilfe, diskutiert die Konsequenzen, die sich für die Entwicklungsarbeit der Kirchen aus dem Wandel des Entwicklungsverständnisses ergeben [123]. Der Rat der EKD hat im Anschluss an den gemeinsam mit Deutschem Naturschutzring und Deutschem Gewerkschaftsbund veranstalteten Transformationskongress (Juni 2012) das Projekt »Diskurs nachhaltige Entwicklung« auf den Weg gebracht. Und die ökumenische Initiative »Umkehr zum Leben – den Wandel gestalten« will das Engagement der Kirchen für eine Große Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft stärken und fordert Kirchen, ihre Werke, Wohlfahrtsverbände und Kirchengemeinden dazu auf, einen »praxisbezogenen Konsultationsprozess über kirchliche Gestaltungsoptionen der anstehenden Suchprozesse zu starten« [124].
Nachdem die Rolle der Religionen in der Entwicklungszusammenarbeit über viele Jahre vernachlässigt worden war, ist mittlerweile sowohl auf der Ebene der Weltbank als auch in der staatlichen Entwicklungspolitik Deutschlands eine wachsende Aufmerksamkeit für die religiöse Dimension von Entwicklung zu verzeichnen. Die Bedeutung von Religionsgemeinschaften als Akteuren des sozial-ökonomischen Wandels kommt dabei ebenso in den Blick wie der Einfluss religiöser Werte und Normen auf Gesellschaft und Politik. Dabei wird auch sichtbar, wie ambivalent die Wirkung des religiösen Faktors auf Entwicklung und Frieden sein kann. Dem unbestreitbaren Friedenspotenzial der Religionen und der Mediationskompetenz religiöser Akteure steht die Erfahrung gegenüber, dass in vielen Regionen der Welt heute wieder vermehrt religiöse Argumente herangezogen werden, um Gewalt, Terror und Unterdrückung zu legitimieren. Und dem Mobilisierungspotenzial religiöser Überzeugungen für den Kampf gegen Unrecht und Armut sowie für das Engagement für das Gemeinwohl stehen Situationen gegenüber, in denen sich religiöse Institutionen als Entwicklungshindernisse erweisen. Gerade aus dieser Ambivalenz erwächst eine besondere Verantwortung der Religionsgemeinschaft, über ihren Beitrag zu einem konstruktiven und friedlichen gesellschaftlichen Wandel Auskunft geben zu können, vor allem aber normative Orientierung für den Aufbruch zu einer zukunftsfähigen und menschenfreundlichen Entwicklung zu stiften. Sehr wichtig wäre es, sich intensiver im interreligiösen Dialog zu engagieren, insbesondere mit dem Islam, der gegenwärtig starke Erschütterungen erlebt. Hier können speziell die Erfahrungen einfließen, die die christlichen Kirchen gemeinsam mit ihren muslimischen Partnern zur Überwindung ungerechter Verhältnisse gesammelt haben, wie zum Beispiel in der bereits seit mehr als 50-jährigen Kooperation im Programm christlich-muslimischer Zusammenarbeit in Afrika PROCMURA [125].
Kirchliche Einrichtungen und Gemeinden können zu wichtigen Trägern einer transformativen Bildung werden, die Menschen und Gruppen zur aktiven Mitgestaltung gesellschaftlicher Transformationsprozesse befähigt. Notwendig ist jedoch nicht nur das verstärkte Engagement in Diskurs-, Bildungs- und Vermittlungsaufgaben, sondern ganz besonders die Etablierung einer alternativen Praxis, die Vorreiterfunktion hat und die zeigt, dass eine faire und gemeinwohlorientierte Lebensweise und eine lebensdienliche Ökonomie möglich sind.
Sollen die Kirchen selbst zu Akteuren des Wandels werden, müssen sie daher auch selbst ihr Handeln, insbesondere im Bereich des eigenen Wirtschaftens, verändern. »Kirchen werden ihrem Auftrag gerecht, wenn sie selbst zu einem Leben umkehren, das sich an den Leitwerten der Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit orientiert. Unser Aufruf richtet sich daher auch an uns selbst«, heißt es in der EKD-Denkschrift »Umkehr zum Leben« [126]. Beispielhaft kann dies u. a. in den kirchlichen Klimaschutzkonzepten, in der Beschaffungspolitik und der Mobilität, der Kompensation unvermeidbarerer mobilitätsbedingter Treibhausgasemissionen, bei der Anlage kirchlichen Vermögens, in der Frage von Ernährung und nachhaltiger Landwirtschaft, u. a. auch im Umgang mit kirchlichem Pachtland [127] umgesetzt werden.
In der kirchlichen Entwicklungsarbeit und in der Zusammenarbeit in der Ökumene wird es in Zukunft vor allem darauf ankommen, alternative Entwicklungspfade zu ebnen, die die Überwindung von Armut und Hunger mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verknüpfen. Die Kirchen und ihre Werke müssen ihre Partner in Entwicklungsländern dabei unterstützen, an konkreten Reformvorschlägen zu arbeiten, mit denen in ihren Gesellschaften gerechtere Beziehungsverhältnisse erreicht werden können und die individuelle Menschenwürde besser geschützt und gefördert werden kann. Ebenso ist es wichtig, an entsprechenden Reformprozessen in Deutschland mitzuwirken, mit denen derartige Veränderungen in den Partnerländern unterstützt werden können. Darüber hinaus sind insbesondere Transformationsallianzen für die Initiierung von Modellprojekten einer kohlenstoffarmen, umweltverträglichen und nachhaltigen Ökonomie gefragt.
Ziel des kirchlichen Engagements für eine zukunftsfähige Entwicklung muss es sein, weltweit auf Lebens-, Konsum- und Produktionsweisen hinzuwirken, die die Erde in ihrer Tragfähigkeit erhalten und denen zugleich alle Menschen auf dem Weg zu einem guten Leben folgen können.