Liturgie
minderheitlich werden – eine Denkfigur zur Kirchenentwicklung
Diese Sichtweise eröffnet kirchengeschichtliche Perspektiven mit großer Transformationskraft. Denn Kirchen sind als realpolitische Verwaltungsapparate traditionell mehrheitlich und damit – kirchengeschichtlich konkreter – konstantinisch verfasst.
Unter Kaiser Konstantin hatte sich die Kirche von einer tolerierten zu einer privilegierten und schließlich zur herrschenden Institution entwickelt. Sie differenzierte sich im Laufe der Jahrhunderte in unterschiedliche administrative Regime. Mit der Teilung der Kirchen in Ost- und Westkirche unterschieden sich von der Kirche imperialer Administration katholischer Prägung verschiedene Kirchen nationaler Administration orthodoxer Prägung. Mit der Reformation kamen Kirchen landesfürstlich-ministerialer Administration evangelischer Prägung dazu. Diese Figuren der Kombination von Christentum und Herrschaft dominieren seither die Kirchen.
Im Laufe der Geschichte sind immer wieder minderheitliche Entwicklungsformen innerhalb wie außerhalb der konstantinischen Administrationen aufgetreten. Die in unserem Zusammenhang markanteste war die franziskanische Reformation mit dem ordo fratrum minorum, dem Orden der Minoriten, der Minderbrüder.
Bei seiner Untersuchung des nur scheinbar abgelegenen Genres der Ordensregeln stößt der italienische Philosoph Giorgio Agamben auf das in ihnen ausgedrückte Verhältnis zwischen Armut und Eigentum. Ihn interessierte jedoch nicht so sehr die Armut als solche, sondern die Art und Weise, in der die Franziskaner den Gebrauch wichtiger nehmen als das Eigentum. Das ist genau der Punkt, an dem der minoritische Impuls auf Grundfragen konstantinisch geprägten Rechtes stößt und es minorisiert.
„Für den Orden wie für seinen Gründer ging es um die abdicatio omnis iuris, das heißt, um die Möglichkeit, als Mensch außerhalb des Rechts zu existieren.“ Die Minderbrüder wollten sich also jeglicher Güter bedienen (simplex usus), „ohne irgendwelche Rechte (weder ein Gebrauchs- noch ein Eigentumsrecht) an ihnen zu haben“.
Dies regelten sie technisch durch die Unterscheidung von Eigentum und Gebrauch. Dabei ist der Gebrauch noch konkretisiert bzw. begrenzt durch den Begriff der Notlage: Die Minoriten haben im „Normalzustand, in dem den Menschen positive Rechte zustehen“, kein Recht. Sie haben „lediglich eine Erlaubnis des Gebrauches“ und das „nur in der äußersten Notlage“. Nur dann „treten sie wieder mit dem – natürlichen, nicht positiven – Recht in Beziehung“. Sonst haben sie keine Beziehung zum Recht. „So wird, was für die anderen normal ist, für sie zur Ausnahme, was sich den anderen jedoch als die Ausnahme darstellt, ist für sie Lebensform.“ (Mt 5, 1-12)
In dieser Hinsicht wird die Aufgabe einer kommenden Kirche zu großen Teilen eine minorisierende Erfindungsaufgabe sein.
Dietrich Sagert