Der Gottesdienst

Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche, Im Auftrag des Rates der EKD, 2009, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05910-5

2. Biblische und geschichtliche Grundlagen des evangelischen Gottesdienstes

2.1 Drei verschiedene Räume der Entstehung

Die frühe christliche Gemeinde hat von Anfang an Gottesdienst gefeiert. Dies geschah in unterschiedlicher Gestalt und hatte seinen Ort in verschiedenen Räumen: im Mitfeiern der Gottesdienste im Jerusalemer Tempel, in der Teilnahme an Zusammenkünften in den Synagogen und beim Begehen festlicher Mahlzeiten in den Häusern einzelner Gemeindeglieder.

Der Tempel

Jesus hat selbstverständlich den Tempel aufgesucht. Ebenso trafen sich nach seinem Tod und seiner Auferstehung dort zunächst Gruppen von Jesusanhängern. Einerseits nahmen sie an bestimmten gemeinsamen Gebeten teil, andererseits bezeugten sie hier ihren neuen Glauben an Jesus, den Auferstandenen (Apg 2; 4,1­31 u. ö.).

Die Synagoge

Neben dem Tempel spielte für die jüdischen Gemeinden in Israel und erst recht für die Gemeinden in der Diaspora die Synagoge eine wichtige Rolle. Dort wurde die Glaubenslehre weitergegeben und gemeinsam gebetet. Auch Jesus hatte die Synagogen aufgesucht und sich hier an der Bibelauslegung aktiv beteiligt, zugleich aber durch sein Auftreten die lokalen religiösen Autoritäten provoziert (vgl. Lk 4,23­28; Mk 3,1­6). In ähnlicher Weise haben wohl auch urchristliche Gruppen zunächst an solchen Versammlungen teilgenommen. Aber immer wieder kam es zu Konflikten, die schließlich mit dem Ausschluss der Christen aus der Synagoge endeten. Gleichwohl übernahmen die Christen für ihre Versammlungen einzelne Formen und Abläufe der synagogalen Zusammenkünfte. So spielt das Lesen heiliger Texte und ihre Auslegung eine große Rolle. "Lehrer" haben eine wichtige Verantwortung, "Älteste" leiten die Gemeinden.

Das Haus

Der eigentliche Raum, in dem sich der urchristliche Gottesdienst entwickelte, war das Haus. Das Haus war für den antiken Menschen stets mehr als nur ein Dach über dem Kopf, es war die grundlegende soziale Einheit und damit der wichtigste Ort der menschlichen Begegnung. Die hier gehaltenen Mahlzeiten waren nicht nur zur Sättigung bestimmt, sondern auch von religiösen Riten begleitet, vor allem die Hauptmahlzeit am Abend. Bei einer jüdischen Mahlzeit hatten feste Gebete vor und nach dem Essen ihren Platz, beim Essen wurde ein Segen über Wein und Brot gesprochen. Griechen und Römer opferten nach ihren festlichen Mahlzeiten den Göttern einige Tropfen Wein. Und während es bei ihnen nach dem Essen zu gelehrten oder unterhaltsamen Gesprächen kam, wurden nach einer jüdischen Mahlzeit oft biblischtheologische Lehrgespräche geführt. So haben sich auch die ersten christlichen Gemeinden ganz selbstverständlich zu abendlichen Mahlzeiten getroffen, über dem Brot und über dem Weinkelch gebetet und anschließend alttestamentliche Schriften im neuen, auf Christus bezogenen Sinne ausgelegt.

Der christliche Gottesdienst ist von diesen drei Räumen geprägt worden. Die Vergewisserung im Glauben an Gott und die Begegnung mit Christus konnten gefeiert werden ­ unabhängig davon, ob nur wenige (vgl. Mt 18,20) oder ob viele Menschen zusammenkamen (vgl. Apg 2,41), die an Christus glaubten. Formen und Orte des Feierns waren schon in der Zeit des frühen Christentums nicht einheitlich.

2.2 Liturgisches "Urgestein"

Von Israel übernommen ...

Die urchristliche Gemeinde hat ganz selbstverständlich verschiedene liturgische Elemente und Strukturen ihres Gottesdienstes von dem Israels übernommen. Dazu gehörten insbesondere die Psalmen, das Gesang- und Gebetbuch des Volkes Israel. Sie fanden - oft in musikalischer Form, in Sprech- und Wechselgesängen - Eingang in den frühchristlichen Gottesdienst. Die Praxis, in der Synagoge "Perikopen", d.h. feste Textabschnitte, vor allem aus den fünf Büchern Mose und aus den Propheten, zu lesen und diese auszulegen, wurde übernommen. Man las nun die alttestamentlichen Texte als Hinweise auf den gekommenen, auferstandenen und wiederkommenden Jesus Christus. Später traten die neutestamentlichen Briefe und die Evangelien hinzu. Einzelne Lobrufe und Wendungen aus der jüdischen Liturgie erklangen ganz selbstverständlich im christlichen Gottesdienst, wie zum Beispiel das "Halleluja" (hebräisch: Lobt Jahwe beziehungsweise Gott), das "Hosianna" (hebräisch beziehungsweise aramäisch: Hilf doch!), das "Amen" (hebräisch: so steht es fest, so sei es) oder den aaronitischen Segen (4 Mose 6,24f.). Diese Worte stellen liturgisches "Urgestein" dar und verbinden uns in unseren Gottesdiensten mit dem Volk Israel und mit den ältesten christlichen Gemeinden.

... und im Sinne des Evangeliums umgeformt

In besonderer Weise lebte der christliche Gottesdienst aber von zwei strukturellen Vorgaben, die im Sinne des Evangeliums umgeformt wurden: Zum einen regte die Feier heilsgeschichtlicher Ereignisse im jüdischen Jahreskreis die spätere Entwicklung des christlichen Kirchenjahres an; zum anderen wurde eine Mahlfeier mit gottesdienstlichen Elementen verbunden, wie sie für Juden und also auch für Jesus und seine Jünger selbstverständlich waren. Deren besondere Bedeutung im frühchristlichen Gottesdienst liegt darin begründet, dass Jesus kurz vor seinem Tod mit seinen Jüngern eine solche Mahlzeit gehalten hat. Die christliche gottesdienstliche Mahlfeier erhielt die Bezeichnung "Mahl des Herrn" (1 Kor 11,20).

Die junge christliche Gemeinde übernahm jedoch nicht nur gottesdienstliche Traditionen Israels, sondern gab bald eigenen Texten einen verbindlichen Ort im Gottesdienst, so dem Gebet Jesu, dem Vaterunser (Mt 6,9 -13; Lk 11,2 4), und später der Überlieferung vom Mahl des Herrn. Neben die Psalmen stellte sie eigene Hymnen und Bekenntnisse, wie zum Beispiel Joh 1,1-14, Phil 2,6 -11, Kol 1,15-20 und Eph 1,3 -13. Die Formen des frühen christlichen Gottesdienstes wirkten aber auch ihrerseits auf die weitere Entwicklung des jüdischen Gottesdienstes ein.

2.3 Vom Mahl zur Messe

Stationen der altkirchlichen Gottesdienstgeschichte

Obwohl die Anhänger Jesu in Jerusalem vermutlich noch längere Zeit am Tempelgebet beziehungsweise an den Versammlungen in der Synagoge teilnahmen, kamen sie vor allem in ihren Häusern zusammen. Die Treffen fanden am ersten Tag der Woche statt, der den Namen "Tag des Herrn" (Offb 1,10) erhielt. Am Abend dieses Tages feierte man das "Mahl des Herrn". Der Aufbau dieser Mahlfeiern folgte vermutlich der jüdischen Tradition, aber der Inhalt der dabei gesprochenen Gebete veränderte sich: An die Stelle des Gedenkens an Israels Befreiung aus Ägypten und der Bitte für Jerusalem traten nun vor allem der Dank und das Gedenken des gestorbenen und auferstandenen Christus und die Bitte um seine Wiederkehr. Dabei spielte das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern vor seiner Verhaftung, das man feiernd zu erinnern und so zu vergegenwärtigen suchte ("Anamnese"), eine wichtige Rolle (vgl. 1 Kor 11,23-26; Mt 26,26-30; Mk 14,22-25; Lk 22,19f.). Solche Feiern wurden zunächst noch als Sättigungsmahlzeiten gehalten, die durch ein symbolisches Brotbrechen zu Beginn und einen herumgehenden Becher mit Wein nach dem Essen eingerahmt waren. Aber diese Praxis wandelte sich schon in neutestamentlicher Zeit (vgl. 1 Kor 11,17-34).

Für das heutige gottesdienstliche Handeln sind vor allem vier Stationen aus der vielfältigen altkirchlichen Gottesdienstgeschichte interessant:

Die Didache

In der sogenannten Didache, einer Schrift vom Beginn des 2. Jahrhunderts, die aber vermutlich auf ältere Überlieferungen zurückgreift, findet sich eine sehr alte Form der "Eucharistie" (Danksagung). So heißt hier das Mahl des Herrn, weil es durch feste danksagende Gebete geprägt ist. Diese Liturgie setzt noch ein Sättigungsmahl voraus, ohne dabei die "Einsetzungsworte" anzuführen. Offensichtlich zitiert man sie nicht, weil man das damalige Geschehen im Vollzug des Mahles selbst vergegenwärtigt. Die Didache fordert uns heute dazu heraus, das Abendmahl unter dem Gesichtspunkt der Danksagung, des Lobpreises, zu gestalten. Und sie legt es uns nahe, nicht nur auf das korrekte Sprechen einzelner Texte - vor allem der Einsetzungsworte - zu achten, sondern auf die überzeugende Gestaltung des gesamten Abendmahlsvollzugs durch Liturgen und Gemeinde.

Justin

In den Schriften Justins (gest. um 165 in Rom) finden sich genaue Schilderungen vom sonntäglichen Gottesdienst, wie er sich damals in Rom, aber vielleicht auch in Kleinasien abgespielt haben mag. Schon jetzt bildet sich die "Grundstruktur" heraus, die wir in vielen Gottesdiensten wiedererkennen: Am Anfang steht der Verkündigungsteil des Gottesdienstes, der damals auch für die Nichtgetauften offen war. Er ist durch Lesungen aus den Propheten und den Evangelien geprägt und durch die Predigt, die vom Vorsteher gehalten wird. Es schließt sich ein Gebet mit Fürbittcharakter an. Es folgt die Mahlfeier, die allein den Getauften vorbehalten war und sich in drei größere Teile gliedert: in die Gabenbereitung, das Eucharistiegebet und die Austeilung. Dem Mahl geht ein "Gläubigengebet" und der "Bruderkuss" - das Zeichen des Friedens - voraus. Besonders interessant ist, dass das liturgische Element der "Gabenbereitung" mit diakonischen Aktivitäten verbunden war: Gemeindeglieder brachten Brot, Wein und andere Nahrungsmittel zum Gottesdienst mit, die neben ihrer Verwendung für die Eucharistie hauptsächlich bedürftigen Gemeindegliedern zugutekamen. Was früher im Sättigungsmahl den Armen zugewendet worden war, fand nun mit dieser besonderen "Naturalkollekte" eine sinngemäße Fortsetzung. Auch heute stehen wir immer wieder vor der Frage, wie Gottesdienst und Weltverantwortung, Liturgie und Diakonie in ihrer Zusammengehörigkeit zum Ausdruck gebracht werden können. Die ersten Feierabendmahle, wie sie in den 1980er Jahren im Rahmen der Kirchentage gestaltet wurden, knüpften unmittelbar an Impulse der Justinschen Abendmahlsordnung an.

Die Traditio apostolica

Als drittes Beispiel sei die Schrift genannt, die unter der Bezeichnung "Traditio apostolica" bekannt ist (wahrscheinlich 4. Jahrhundert). Sie berichtet von einem Gottesdienst anlässlich einer Bischofsweihe und überliefert präzise die dabei gesprochenen Eucharistiegebete. Dabei tauchen erstmals Texte auf, die uns in ihrem Wortlaut aus unserer eigenen Liturgie vertraut sind, wie zum Beispiel der Wechselgesang vor der "Präfation" in der Abendmahlsliturgie: "Der Herr sei mit euch" - "Und mit deinem Geiste" - "Erhebet eure Herzen" usw. Die hier dokumentierte Mikrostruktur der eucharistischen Liturgie entspricht weithin der Abfolge einer Abendmahlsfeier nach Grundform I, Erste Form, im Evangelischen Gottesdienstbuch (EGb) beziehungsweise einer Eucharistie, wie sie im römisch-katholischen Gottesdienst gefeiert wird. Es zeigt sich, dass diese Liturgie noch weitgehend aus der Tradition des danksagenden Gedenkens (Eucharistie, Anamnese) heraus zu verstehen ist: Das in der Vergangenheit liegende heilsame Wirken Jesu Christi, sein Leiden, Sterben und Auferstehen, wird dabei im liturgischen Nachvollzug gegenwärtig. Die eucharistische Form des Abendmahles mit Anamnese und Epiklese (Herabrufung des Heiligen Geistes) kann auch heute Menschen helfen, ein Verständnis für die reale Gegenwart Christi bei der Feier dieses Mahles zu gewinnen.

Der römische Kanon

Der altkirchliche Gottesdienst entwickelte sich in den ersten Jahrhunderten zunächst unterschiedlich, geprägt von den verschiedenen Zentren des weiten römisch -griechischen Reiches. Der wachsende Einfluss des römischen Papstes in allen kirchlichen Angelegenheiten zeigte sich auch in Verständnis und Praxis des Gottesdienstes. So erhielt bald nach 400 der römische Kanon, die "Ordnung (= Kanon) der Danksagung", seine maßgebliche Gestalt. Die stadtrömisch-griechische Liturgie, wie sie bei Hippolyt erkennbar war, wurde dabei nicht einfach in die lateinische Sprache übersetzt, sondern aus römischem Geist und Stilempfinden und von den sich verändernden theologischen Interessen her neu gestaltet. Der Verkündigungsteil des Gottesdienstes verlor an Gewicht. Nur selten wurde im Rahmen einer Messe gepredigt. Alles Gewicht lag nun auf der Feier der Eucharistie. Dabei wurde das kunstvoll gestaltete lange Danksagungsgebet der Abendmahlsliturgie durch verschiedene Einschübe unterbrochen: durch das "Sanctus" (das "Dreimalheilig"), durch verschiedene Darbringungs-, Segens- und Wandlungsbitten und durch zwei größere Fürbittgebete, zum einen für die Kirche und für die Heiligen, und zum anderen für die Verstorbenen und die gegenwärtigen Gottesdienstteilnehmer.

Veränderungen im Charakter des Gottesdienstes bis zum Ende des
Mittelalters

Der ursprüngliche Charakter des Gottesdienstes als Lobpreis wurde damit eher verdunkelt, und der neue Sinn der Mahlfeier als Opfer, das Gott gnädig annehmen sollte, unterstrichen. Stille Gebete des Priesters am Altar, Kreuzeszeichen über den Abendmahlsgaben und vielfältige Zeichenhandlungen gaben dem Geschehen einen geheimnisvollen Charakter. Den Höhepunkt bildete das als eine Art Zauberwort missverstandene "Hoc est corpus meum" ("Das ist mein Leib") des Priesters und das feierliche Emporheben (Elevation) von Brot und Wein. Der römische Kanon förderte die Tendenzen, alles theologische Interesse auf die geheiligten und durch die Priesterworte gewandelten Elemente Brot und Wein zu richten und die Eucharistie als heilige Handlung zu verstehen. In ihr wird das Opfer Christi auf Golgatha vergegenwärtigt und so sakramental wiederholt. So wurde der christliche Gottesdienst, der seine sakramentalen Elemente bisher eher vom Ritus eines heiligen Essens im Haus empfangen hatte, zur Kulthandlung umgedeutet, zu einem Opfer in Anknüpfung an die gottesdienstlichen Vollzüge im Tempel.

Gesellschaftlich war die Kirche seit Kaiser Konstantin (gest. 337) aus der Nische einer verfolgten Minderheit herausgetreten und zur Staatskirche mit repräsentativen Kirchengebäuden und anerkannten Repräsentanten geworden. Der Gottesdienst wurde nun zu einem großen öffentlichen Ereignis. Seitdem trug die am Tempel orientierte Gottesdienstkultur maßgeblich dazu bei, dass sich die Baukunst der verschiedenen Epochen voll entfalten konnte. Die frühen Kirchenbauten aus der nachkonstantinischen und der karolingischen Zeit zeugen ebenso von deren Blüte wie die vielen eindrucksvollen romanischen oder gotischen Kirchen und Kathedralen, die noch heute in der Mitte vieler unserer Städte stehen. Ebenso verdanken ihr die Bildhauerkunst und die Malerei jener Jahrhunderte entscheidende Impulse. Es wäre deshalb völlig verkehrt, wenn man das Mittelalter und speziell dessen Gottesdienstentwicklung nur in das Licht der Kritik rücken würde.

Zugleich sorgten die liturgietheologischen Veränderungen dafür, dass sich mehr und mehr die reale Kommunion, also das Essen und Trinken von Brot und Wein, mit einer heiligen Scheu vor den gewandelten sakramentalen Gaben verband. Priester und Gemeinde rückten räumlich auseinander. Insgesamt konnte die Feier der Messe als Handlung missverstanden werden, mit der man sich selbst oder anderen, vor allem den Verstorbenen, vor Gott ein Verdienst erwarb. Diese Fehlentwicklungen des Gottesdienstes waren ein wesentliches Motiv für die Reformatoren, für ein anderes Verständnis des Gottesdienstes und für eine andere liturgische Praxis einzutreten.

2.4 Die reformatorische Erneuerung des Gottesdienstes

Martin Luthers Gottesdienstverständnis

Martin Luthers Entdeckung der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben wirkte sich unmittelbar auf das Verständnis und die Ordnung des Gottesdienstes aus. Sie widersprach dem spätmittelalterlichen Verständnis der Messe als "Versühnhandlung" (sacrificium), mit der sich der Mensch für sich selbst oder für andere ein Verdienst zugunsten des Seelenheiles erwerben könnte. Sie begründete vielmehr die Überzeugung, dass der Gottesdienst zuerst und vor allem Gabe Gottes an den Menschen (beneficium) sei. In der Verkündigung durch die biblischen Lesungen und die Predigt und in der Feier des Abendmahls nimmt diese Gabe Gottes konkrete Gestalt an. Hier wird dem Menschen, der zu seinem Heil von sich aus nichts beitragen kann, das für ihn durch Christus erwirkte Heil zugeeignet.

Gegenüber Rom betonte Luther den Charakter des Gottesdienstes als beneficium und die Verantwortlichkeit der ganzen Gemeinde für ihn. Gegenüber den "Schwärmern" stellte er die Freiheit des Glaubens heraus. Bei den "Zeremonien" darf kein alle bindendes Gesetz aufgestellt werden: "Ordnung ist ein äußerlich Ding, sie sei so gut sie will, so kann sie in Missbrauch geraten" (Luther, Vorrede zur Deutschen Messe). Luther betonte, dass die Zusage der Gegenwart Gottes nicht subjektiv von der Ergriffenheit eines Predigers oder der Gemeinde, sondern objektiv von der Predigt des biblischen Wortes und von der ordentlichen öffentlichen Berufung der Pfarrer (Ordination) abhängt.

Luther hat zwei verschiedene Gottesdienst-Ordnungen veröffentlicht, die für den späteren lutherischen Gottesdienst maßgeblich geworden sind. In beiden erhielt die Verkündigung des Wortes Gottes in der Predigt einen festen Platz im Gottesdienst, sollten die biblischen Lesungen in der Regel in deutscher Sprache vorgetragen werden. In der Schrift "Formula missae et communionis" von 1523 zeigte sich, dass Luther keine neue Liturgie entwerfen wollte und weiterhin der westlich-römischen Messordnung folgte. Nur die mit dem reformatorischen Gottesdienstverständnis unverträglichen Stücke aus dem "Kanon" hat er getilgt. In der Vorrede und in der Ordnung der "Deutschen Messe" von 1526 kamen die neuen liturgischen Absichten deutlicher zum Ausdruck. Hier griff Luther massiv in die überlieferte Abendmahlsliturgie ein, indem er die bisherigen Abendmahlsgebete durch ein paraphrasiertes Vaterunser ersetzte, das nun in veränderter Weise betend und mahnend auf die Einsetzungsworte hinführte. Außerdem sollte sich die Gemeinde aktiv am Gottesdienst beteiligen. Deshalb schlug der Reformator mehrere deutsche Lieder vor, die von der Gemeinde zu singen waren und die anstelle der bisher lateinischen und vom Priester allein zu betenden Stücke ihren festen Platz in der Liturgie fanden. Mit der hervorgehobenen Stellung der Predigt, den in deutscher Sprache gehaltenen Lesungen, den auch zu Ermahnungen genutzten Ankündigungen und den deutschen Liedern sollte der Gottesdienst verständlich sein und so auch eine bildende Funktion haben.

Die süddeutsch-schweizerische Gottesdienstreform

Ein ganz anderer Ansatzpunkt für einen erneuerten Gottesdienst entwickelte sich im Einflussbereich der Schweizer Reformation. Träger des reformatorischen Gedankens vor allem im Gebiet der heutigen Schweiz und im süddeutschen Raum ("Oberdeutschland") waren immer wieder "Prädikanten", junge Prediger, die an ihren Studienorten von reformatorischen Gedanken erfasst worden waren. Nach ihrem Studium waren sie in einzelne Städte gerufen worden, um dort Predigtgottesdienste mit einfacher liturgischer Gestalt abzuhalten. Aus dieser Praxis entwickelte sich die typisch reformierte beziehungsweise oberdeutsche Gottesdienstform, die auch an Elemente des mittelalterlichen Predigtgottesdienstes anknüpfte. Die lutherische Messform und die vom oberdeutschen "Prädikantengottesdienst" abgeleitete Form des "Predigtgottesdienstes" stehen heute als evangelische Gottesdienstformen gleichberechtigt nebeneinander und bilden die "Grundform I" beziehungsweise "Grundform II" im Evangelischen Gottesdienstbuch. Im Vergleich zur lutherischen Bewegung ging die Schweizer Reformation mit den liturgischen Feierformen und der Gestaltung der gottesdienstlichen Räume radikaler um. So entwarf der Zürcher Reformator Ulrich Zwingli für eine zum Osterfest 1525 geplante erste evangelische Abendmahlsfeier eine eigene Ordnung. Sie knüpfte strukturell zwar noch an die römische Messordnung an, bedeutete aber im Blick auf die sichtbaren Zeichen der Handlung einen Bruch mit der Tradition: An die Stelle der Pracht und kultischen Distanz einer spätmittelalterlichen Sakramentsfeier trat nun eine schlichte Mahlzeit an einem mit einem Leinentuch bedeckten Tisch, aufgestellt im Kirchenschiff inmitten der Gemeinde. Der kostbare Kelch, den die Gemeinde in heiliger Scheu zu berühren vermied, war verschwunden. Nun wurden Brot und Wein in hölzernen Schüsseln und Bechern gereicht. Nach späteren reformierten Ordnungen sollte das Abendmahl ebenfalls um einen Tisch herum gefeiert werden. So löste man sich ganz von der Messordnung und entwickelte Formen, die sich unmittelbar mit dem Ablauf des reformierten Predigtgottesdienstes verknüpfen ließen. Aus vielen reformierten Kirchen wurden die mit Bildern versehenen Altäre und andere Kunstschätze entfernt. Dabei berief man sich auf das alttestamentliche Bilderverbot (2 Mose 20, 4 - 6). Die einzige Form der Kirchenmusik, der man im Gottesdienst einen legitimen Platz zuwies, war zumeist der Gesang des Psalters.

2.5 Wandlungen im evangelischen Gottesdienst

Der Gottesdienst in Orthodoxie, Aufklärung und Pietismus

Der evangelische Gottesdienst ist von den Reformatoren bewusst als Gelegenheit betrachtet worden, die Gemeinde im Glauben zu unterrichten. Das führte zu einer Blütezeit gelehrter evangelischer Predigtkunst im 16. und 17. Jahrhundert, in der Zeit der sogenannten lutherischen Orthodoxie. Viele Prediger dürften allerdings ihre Gemeinden überfordert haben, dauerte doch eine Predigt häufig weit über eine Stunde. Das pädagogische Motiv der evangelischen Verkündigung veranlasste die Prediger in der Zeit der Aufklärung, den Gottesdienst als "Unterricht", als "Erziehung" oder als "Belehrung" zu verstehen und die Predigt auch als Gelegenheit wahrzunehmen, den Hörern nützliche alltagstaugliche Wahrheiten näherzubringen. Wenn "predigen" heute umgangssprachlich schnell mit "moralisieren" und "bloße Worte machen" in Verbindung gebracht wird, dann hat das wohl seinen Grund in jener problematischen Engführung des Gottesdienstes auf Unterricht und Moral. Der Pietismus verstand sich zwar als Gegenbewegung gegen die lutherische Orthodoxie und gegen die vernunftorientierte Aufklärung, blieb aber dennoch dem überkommenen Gottesdienstverständnis verhaftet. Die Predigt spielte auch hier eine überragende Rolle. Der Gottesdienst galt nun als Ort der frommen Erbauung, an dem die Menschen innerlich vom Wort Gottes bewegt und zur inneren Neuorientierung (Bekehrung und Heiligung) ermutigt werden sollten. Viele Freikirchen und Glaubensgemeinschaften, die vom Pietismus oder den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts geprägt worden sind, verstanden ihren Gottesdienst vor allem vom Gedanken der Erbauung her. In ihrer Ordnung griffen und greifen sie meist auf einfache Muster von der Art des Prädikantengottesdienstes zurück.

Friedrich Schleiermacher und die Reformbestrebungen im 19. Jahrhundert

Friedrich Schleiermacher ist es zu verdanken, dass die engen Funktionszuweisungen des evangelischen Gottesdienstes in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einer wirkungsvollen Kritik unterzogen wurden. Er sah die Bedeutung des Gottesdienstes gerade darin, in ihm etwas erleben zu können, das sich von anderen Ereignissen und Angeboten deutlich unterscheidet. Der Gottesdienst diene gerade nicht dazu, einen bestimmten Zweck zu erfüllen wie Unterricht oder Mission. Es gehe bei ihm nicht um ein "wirksames Handeln", wovon sonst weithin unser Leben bestimmt sei, sondern um ein "darstellendes Handeln", das seinen Zweck in sich selbst trage. Darin sei der Gottesdienst am ehesten vergleichbar mit einem Fest oder einem Spiel.

Schleiermachers Auffassung hat die verschiedenen Reformbestrebungen zur Erneuerung des Gottesdienstes seit dem 19. Jahrhundert immer wieder beeinflusst, und sei es auch nur in der Distanz zu seinem Konzept: Einerseits plädierten unterschiedliche Gruppierungen eher von biblischen Grundüberzeugungen (Dialektische Theologie) oder vom eigenen konfessionellen Erbe her (Konfessionelle Lutheraner, Agendenreform nach dem Zweiten Weltkrieg) für eine Rückkehr zu verloren geglaubten Formen und Inhalten. Andere Reformgruppen beriefen sich auf Schleiermacher und forderten, dass der evangelische Gottesdienst ganzheitlich als Feier gestaltet und den veränderten religiösen und kulturellen Bedürfnissen der Menschen der Gegenwart geöffnet werden müsse (so vor allem die "Ältere Liturgische Bewegung" an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert).

Entwicklungen im 20. Jahrhundert

Die spannungsvolle Dialektik zwischen dem Bewahren der überlieferten Formen um der eigenen Identität willen und der notwendigen Öffnung des Gottesdienstes für sich verändernde Zeiten bestimmte auch die gottesdienstliche Entwicklung in Deutschland in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Nach den Wirren des Kirchenkampfes und den Zerstörungen des 2. Weltkriegs wurden neue Agenden und Gesangbücher vorgelegt, die wieder stärker an die ursprünglichen reformatorischen Impulse anzuknüpfen versuchten (VELKD: Agende I, 1955; EKU: Agende I, 1959; Evangelisches Kirchengesangbuch, 1950).

Aber schon Mitte der 1960er Jahre entstanden zahlreiche liturgische und kirchenmusikalische Initiativen, die stattdessen mehr von der Idee eines offeneren und zeitbezogeneren Gottesdienstes geleitet waren. Familien- und Jugendgottesdienste, Feierabendmahle oder liturgische Nächte beim Deutschen Evangelischen Kirchentag beeinflussten mit neu aufgenommenen ökumenisch-liturgischen Traditionen oder auch mit Anleihen an der modernen Unterhaltungskultur zunehmend die gottesdienstliche Praxis. Es war deshalb ein besonderes Anliegen des Evangelischen Gesangbuches (EG, seit 1993) und des Evangelischen Gottesdienstbuches (EGb), das ab 1999 in den meisten evangelischen Landeskirchen in Deutschland eingeführt wurde, die überlieferten liturgischen Traditionen der evangelischen Kirche zu bewahren und sie zugleich mit überzeugenden neuen Formen zu verbinden. Die Frage, wie die Gestaltung des Gottesdienstes seiner Zugehörigkeit zur Tradition und zur übergreifenden Gemeinschaft der Kirche zu allen Zeiten und an allen Orten Rechnung tragen und wie sie zugleich den Verständnismöglichkeiten und Bedürfnissen heutiger Gottesdienstbesucher entsprechen kann, bleibt unvermindert aktuell.

Fragt man nach dem Besonderen, mit dem der evangelische Gottesdienst die vielfältige Gottesdienstlandschaft der christlichen Konfessionen bereichert hat, dann kommt man - neben der gottesdienstlichen Predigt - vor allem auf die Musik. Weil die Musik die Beteiligung der Gemeinde ermöglicht und weil sie eine Form darstellt, in der Gottes Wort gehört und weitergegeben werden kann, erfreute und erfreut sie sich in der evangelischen kirchlichen Kultur hoher Anerkennung. Davon zeugen viele evangelische Kirchengebäude mit ihrer Ausstattung (Orgeln, große Orgelemporen), aber auch die Fülle beeindruckender Namen evangelischer Komponisten, für die stellvertretend Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach genannt werden sollen. Ebenso zeigt sich die Hochschätzung der Musik in der Fülle der evangelischen Gemeindelieder, die die evangelische Frömmigkeit tief geprägt haben.

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