Predigt am 2. Advent in der Friedenskirche zu Potsdam und der St. Matthäuskirche zu Berlin

Wolfgang Huber

„Und dem Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der auftut, und niemand schließt zu, der zuschließt, und niemand tut auf: Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, und niemand kann sie zuschließen; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet. Weil du mein Wort von der Geduld bewahrt hast, will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die auf Erden wohnen. Siehe, ich komme bald; halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme! Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes, und er soll nicht mehr hinausgehen, und ich will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen des neuen Jerusalem, der Stadt meines Gottes, die vom Himmel herniederkommt von meinem Gott, und meinen Namen, den neuen.“

I.

„Wir sagen euch an den lieben Advent. Sehet, die zweite Kerze brennt.“ Das ist der Ton dieses Sonntags – wenn denn der Advent überhaupt mit Sinn gefeiert wird. „Ihr lieben Christen, freut euch nun. Bald wird erscheinen Gottes Sohn.“ Jahr für Jahr steigert die Adventszeit von Sonntag zu Sonntag diese Erwartung. Es mag ja sein, dass bei vielen die Erwartung nicht so sehr dem Gottessohn, sondern den Geschenken, nicht so sehr den Feiertagen, sondern den freien Tagen, nicht so sehr dem mächtigen Gott, sondern uns mächtigen Menschen gilt. Mit einer Adventskerze hat sich einer der derzeit politisch Einflussreichen in diesen Tagen in einer Zeitung abbilden lassen; und ohne jede Ironie war diesem Bild seine Aussage beigefügt, dass man es ohne eigenes Machtbewusstsein auch zu nichts bringen könne. Wenn man mit Bildern sprechen könnte, hätte ich ihm gern zugerufen: „Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren. Es streit für uns der rechte Mann, der uns hat selbst erkoren.“ Und dieser rechte Mann, so sagt es die Adventszeit, kommt als Kind in der Krippe: „Ihr lieben Christen, freut euch nun. Bald wird erscheinen Gottes Sohn.“

Die Herren dieser Welt gehen, unser Herr kommt. Das hat Gustav Heinemann einmal einer erstaunten großen Kirchentagsversammlung zugerufen. „Siehe, ich komme bald“ – so heißt die Botschaft dieses Adventssonntags. Doch welches Kommen ist gemeint? Die Adventszeit trägt ja schon immer ein doppeltes Gesicht. Sie hat beides im Blick: die freudige Erwartung des menschwerdenden Christus in Bethlehem und die bußfertige Erwartung des Weltenrichters am Ende der Zeiten. Beides prägt die Adventszeit. Und so sehr im allgemeinen Bewusstsein das Kommen des Kinds in der Krippe im Vordergrund steht, so wenig kann man doch das andere verdrängen. Jedenfalls in diesem Jahr geht es mir so. Wie sollte ich Advent feiern und dabei die apokalyptischen Erfahrungen verdrängen, die dieses Jahr geprägt haben: die apokalyptischen Reiter unserer Tage, die natürlich Jumbo-Jets benutzen und nicht mehr Pferde, Reiter, die sich ein Amt anmaßen, das ihnen niemand übertragen hat – ungebetene Boten einer apokalyptischen Situation gleichwohl.

II.

Deswegen rührt es uns an, wenn uns in der Adventszeit 2001 apokalyptische Texte, Abschnitte aus der Offenbarung des Johannes, entgegentreten, Texte, die sich auf das Kommen des Weltenrichters am Ende der Zeiten beziehen. Unser Predigtabschnitt ist eines der sieben Sendschreiben, die im zweiten und dritten Kapitel der Offenbarung enthalten sind. Jeder dieser Briefe ist so abgefasst, dass Christus selbst als der Absender erscheint, der freilich zugleich mit der Stimme des Heiligen Geistes redet. Jeder Brief enthält die Aufforderung dazu, auf das zu hören, „was der Geist den Gemeinden sagt“. Und für jeden Brief wird der Seher Johannes, zur Zeit der Christenverfolgung des Kaisers Domitian auf die Insel Patmos verbannt, als Schreiber in Anspruch genommen. Adressat aber ist der „Engel der Gemeinde“ – sei es Philadelphia wie heute oder Smyrna in dem Sendschreiben, das uns am nächsten Sonntag beschäftigen wird.

Der „Engel der Gemeinde“ – sozusagen das himmlische „Double“ der Gemeinde, ihr himmlischer Doppelgänger, wird angesprochen. Und vorausgesetzt wird, dass jede der schmächtigen kleinasiatischen Gemeinden, die in diesen Sendschreiben angesprochen werden, einen eigenen Engel hat. Jede dieser Gemeinden wird vor Gott direkt vertreten. Und jede dieser Gemeinden ist so wichtig, dass sie ein eigenes Sendschreiben erhält. Ich stelle mir vor: Jede der eineinhalbtausend Gemeinden der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg erscheint mit einem eigenen Engel vor Gottes Thron – und natürlich unsere ökumenischen Schwestergemeinden ebenso. Und so geht es weiter über die ganze Welt hinweg. Welch ein Getümmel von „Engeln der Gemeinden“ würde sich da bemerkbar machen. Und weiter: Jede dieser Gemeinden bekommt einen Brief im Namen Jesu selbst, einen Brief, in dem sie die Stimme des Heiligen Geistes selbst hören soll. Kein Brief gleicht dem andern. Jede Gemeinde erhält ein Sendschreiben, das nur für sie bestimmt ist.

Weihnachten steht vor der Tür – eine Zeit, in der die Gemeinden und ihre Gottesdienste mehr Aufmerksamkeit finden als in den meisten anderen Zeiten des Jahres. Wie wäre es, wenn wir alle diese Aufmerksamkeit auch so deuten würden: Jede Gemeinde ist in Christi Augen wichtig, sei sie groß oder klein, eine verschworene Gemeinschaft oder eine zufällige sonntägliche Versammlung. Jede christliche Gemeinde wird von Gottes Geist in ihrer Besonderheit wahrgenommen. Sie werden nicht alle über denselben Leisten geschlagen, sondern jeweils ernst genommen an ihrem Ort: in Stadt und Land, in Brandenburg oder Berlin, in guten wie in schweren Tagen.

Nur Lob erfährt die Gemeinde in Philadelphia. Kein strenges Wort bekommt sie zu hören. Es geht ihr nicht wie der Gemeinde in Ephesus: „Ich habe gegen dich, dass du die erste Liebe verlässt“, oder die in Sardes: „Du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot“ oder in Laodicea: „O dass du warm oder kalt wärest! Aber du bist lau“. Nein, keiner dieser strengen Sätze – nur Lob. Die Gemeinde in Philadelphia wird wirklich aufgebaut durch diesen Brief. Da schreibt ihr jemand, der sich an die nach Eugen Roth gereimte Weisheit hält: „Der Christenmensch ist schwer erkrankt / am Leben öd und unbedankt. / Ich bitt euch herzlich: Lobet ihn! / Lob ist die beste Medizin.“

Ja, von dieser Medizin erhält die Gemeinde in Philadelphia ein gehöriges Maß. Doch dass sie so gut davon kommt, liegt nicht an ihren besonders bemerkenswerten Leistungen. Da wird nicht ein Zeugnis ausgestellt für hervorragenden Gemeindeaufbau, für sorgfältigen Umgang mit den Gemeindefinanzen, für eine bemerkenswerte Jugendarbeit, für lebendige Gottesdienste oder wofür auch immer. Im Gegenteil: Die engen Grenzen der Gemeinde werden klar beim Namen genannt. Von ihrer „kleinen Kraft“ ist die Rede. Dass sie diese kleine Kraft eingesetzt hat, um das Wort Christi zu bewahren und seinen Namen nicht zu verleugnen – mehr ist von dieser Gemeinde nicht zu sagen. Aber das genügt. Und deshalb: „Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme!“

„Kleine Kraft“ – wenn man den biblischen Text beim Wort nimmt, könnte man das auch so wiedergeben: Diese Gemeinde zeichnet sich durch eine „begrenzte Dynamik“ aus. Es ist nicht überwältigend viel, was bei ihr läuft. Das ist eine Beschreibung, die uns erreicht, in ihr finden wir uns wieder. Machtvoll treten wir Christen in diesen Tagen wirklich nicht auf, weder in Brandenburg noch in Berlin. Und wenn wir besonders laut zu werden versuchen, dann schütteln unsere Zeitgenossen begreiflicherweise ihren Kopf. Als Gemeinden tragen wir die Spuren unserer Geschichte an uns; sie hat uns kleiner werden lassen, geringer an Kraft. Aber sie eröffnet uns auch eine neue Chance, genauer auf das Wort Christi zu hören, seinen Namen nicht zu verleugnen, bei seiner Sache zu bleiben. Eine fröhliche Unbekümmertheit könnten wir wieder darin entwickeln, das zu halten, was uns anvertraut ist: die Nähe Gottes in dem Kind in der Krippe, in dem Mann am Kreuz, in dem Jesus, der durch Galiläa ging und die Gebeugten aufrichtete, den Sanftmütigen das Reich Gottes versprach, die Friedensstifter seligsprach. Unbefangener könnten wir das Wort von der Versöhnung ausrichten in einer Welt, in der weithin die Ellenbogen regieren, nicht das Herz. In einer Zeit, in der alle nur fragen, ob die Kassen klingen, können wir noch einmal erklären, warum die Glocken süßer nie klingen als in der Weihnachtszeit. Der Grund heißt: Es gibt nichts wichtigeres, als dass Gott zu uns kommt und uns wirklich erreicht. Wenn es so ist, dann „halte, was du hast“.

III.

Und halte dich an den, der dir die Tür offen hält. Wenn uns von diesem zweiten Adventssonntag nicht mehr im Gedächtnis bliebe als dies, es wäre schon genug. „Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, und niemand kann sie zuschließen.“ Die Adventszeit ist voll von Symbolen für diese geheimnisvoll sich öffnende Tür. Nicht unsere Kraft öffnet sie, sie öffnet sich von innen her. Das Licht, das hinter ihr erkennbar wird, entzünden wir nicht selbst. Die Adventskalender sind dafür ein wunderbares Symbol. In ihrer Schlichtheit symbolisieren sie die Sehnsucht, das Hoffen auf die offene Tür. Und dann das Symbol der offenen Tür an Weihnachten selbst: Die Tür zum Weihnachtszimmer, die man nicht zur Unzeit öffnen darf, sondern erst wenn der Heilige Abend wirklich kommt. Die Lichter am Baum, die schon entzündet sind, wenn man durch die offene Tür geht. „Heut schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis. Der Cherub steht nicht mehr dafür, Gott sei Lob, Ehr und Preis.“

Das ist das Besondere an der Adventszeit, dass sich in ihr die Pforte zu Gottes Herrlichkeit öffnet. Aber diese Pforte ist nicht irgendwo, sondern in unserer Welt. Denn Gott wird Mensch. Und sie öffnet sich nicht nur für wenige Feiertage im Jahr, sie will immer für uns offen stehen. Unser Leben ändert sich, wenn wir es vor dieser offenen Tür leben, wenn wir der Wirklichkeit Gottes Einlass gewähren und Zugang lassen zu unserem Leben. Auch in diesem Jahr mit seinen apokalyptischen Erfahrungen lassen wir uns dann nicht abbringen von der Hoffnung auf Frieden. Denn wir warten nicht auf einen Kriegsherrn, sondern auf den Friedefürsten. Für ihn soll unsere Tür offen sein, gerade auch in diesem Jahr.