Kirche und Bildung - Herausforderungen, Grundsätze und Perspektiven evangelischer Bildungsverantwortung und kirchlichen Bildungshandelns
Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, 2010, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05911-2
1. Herausforderungen
In diesem Teil der Orientierungshilfe werden sieben Herausforderungen beschrieben, an denen exemplarisch abzulesen ist, mit welchen Umbrüchen Kirche im Bereich der Bildung heute konfrontiert ist. Beabsichtigt ist keine umfassende Analyse der gegenwärtigen kirchlichen oder gesellschaftlichen Situation. Der Schwerpunkt liegt vielmehr bei Bildungsaufgaben im Kindes- und Jugendalter sowie bei dem Versuch, bewusst zu machen, mit welch grundlegenden Veränderungen derzeit zu rechnen ist und dass im Bildungsbereich entscheidende Weichenstellungen für die Zukunft vorgenommen werden. Vor diesem Hintergrund kann einsichtig werden, warum die Kirche vor weitreichenden Entscheidungen sowie Planungs- und Gestaltungsaufgaben steht, die in vieler Hinsicht eine Neuausrichtung des kirchlichen Bildungshandelns erforderlich machen.
1.1 Religionswandel: Kirchliche Kommunikation in der Spannung zwischen Identität und Relevanz
Von einem Religionswandel ist nicht nur im Blick auf die Präsenz unterschiedlicher Religionen in Deutschland zu sprechen, sondern auch im Blick auf die Religionsgemeinschaften selbst, nicht zuletzt die evangelische Kirche. Mit älteren Unterscheidungen etwa zwischen »Kirche und Welt« lässt sich dieser Wandel nicht zureichend fassen. Auch eine Säkularisierung im Sinne des Religionsverlusts sowie einer immer mehr schwindenden Bedeutung von Religion im Leben der einzelnen Menschen wird heute in der sozialwissenschaftlich-empirischen Religionsforschung nicht mehr angenommen. Als Signatur der Zeit gilt vielfach die religiöse Individualisierung nicht als Individuation, wie sie von manchen Psychologien als Form der persönlichen Reifung gefordert wird, sondern als Auflösung verbindlicher religiöser Vorgaben für das Individuum. In dem Maße, in dem Religion zu einem individuellen Projekt der Lebensgestaltung wird, verändert sich Religion in nachhaltiger Weise. Die in der Religionsforschung geläufigen Begriffe von Subjektivierung, Biographisierung, Ästhetisierung und religiöser Bricolage heben verschiedene Aspekte dieses Wandels hervor. Auch im Bereich der Kirche, so wird nun den einzelnen Kirchenmitgliedern häufig bewusst, fallen die von der Kirche vertretenen Auffassungen einerseits und die individuellen Glaubensüberzeugungen andererseits nicht ohne Weiteres zusammen. Solche Unterschiede sind inzwischen reflexiv geworden, und mehr noch: Sie gelten als »ganz normal«. Jeder dürfe schließlich glauben, was er oder sie will! Niemand habe das Recht, sich da einzumischen! So formulieren es häufig schon Jugendliche, und durch ihre Eltern sind auch Kinder längst in die religiöse Individualisierung einbezogen. Der epochale Wandel des Erziehungsstils sowie der Wandel der Familie haben gravierende Auswirkungen auch auf die religiöse Familienerziehung, nicht zuletzt im Sinne einer weitreichenden Individualisierung schon im Kindesalter. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass zumindest manche Jugendliche heute vermehrt auch nach festen Orientierungen suchen sowie nach einer dauerhaften Zugehörigkeit zu einer vertrauten Gemeinschaft.
Für kirchliches Bildungshandeln erwächst aus dem Religionswandel die grundlegende Schwierigkeit, die mit dem evangelischen Bildungsverständnis verbundenen Inhalte so verständlich zu machen, dass sie sich Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen als für ihr eigenes Leben bedeutsam erschließen. Im Einzelnen geht es um ein Wahrnehmungsproblem, ein Sprachproblem sowie um ein Partizipationsproblem. Die heute in Deutschland gelebten Formen von Religion bewegen sich zwar vielfach im Horizont der Wirkungsgeschichte des Christentums, aber sie schließen ein Bewusstsein des geschichtlichen Zusammenhangs, dem sie sich selbst verdanken, doch nur in seltenen Fällen ein. Daher lassen sich diese Formen von Religion mit Hilfe des begrifflichen Instrumentariums einer traditionellen Dogmatik allein kaum mehr ausreichend wahrnehmen. Dies bedeutet zugleich, dass sich das Evangelium in der geprägten Gestalt der christlich-kirchlichen Sprache nicht ohne Weiteres kommunizieren lässt. Diese Sprache wird als »fremd«, »lebensfern« und manchmal sogar als »abstoßend« empfunden. Und schließlich lässt vor allem die religiöse Individualisierung ähnlich wie alle gesellschaftlichen Individualisierungsprozesse jede Form der stetigen Partizipation an kirchlichen Angeboten oder eine bewusste, von festen Überzeugungen getragene Entscheidung zur Kirchenmitgliedschaft tendenziell unwahrscheinlich werden. Dies trifft durchaus auch dann zu, wenn ein Kirchenaustritt nicht unmittelbar erwogen wird.
Folge dieser Situation ist die Spannung zwischen Identität und Relevanz, mit der sich das kirchliche Bildungshandeln nun unausweichlich konfrontiert sieht. Identität und Profil der Kirche werden wichtiger und müssen auch gegen den Religionswandel festgehalten werden. Aber wie können kirchliche Angebote dann noch von den gelebten Formen von Religion her als relevant erfahren werden? Umgekehrt kann sich die Kirche den gelebten Religionsformen öffnen, um dadurch Relevanz zu gewinnen. Aber wie bleibt dann ihre christliche Identität noch erkennbar? Kann es Wege geben, die aus dieser Spannung herausführen? Welche Möglichkeiten bieten sich an, wenn Identität nicht auf Kosten von Relevanz und wenn Relevanz nicht auf Kosten von Identität gesteigert werden kann? Wie lässt sich erreichen, dass der Zusammenhang zwischen Identität und Relevanz der Kirche erkennbar wird?
1.2 Demographischer Wandel
Aus der niedrigen, in manchen Regionen noch immer sinkenden Geburtenrate ergeben sich enorme Herausforderungen, vor denen Deutschland heute insgesamt steht. Die Geburtenrate gehört dabei in den Zusammen hang eines weiter reichenden demographischen Wandels, der auch die Auswirkungen der Migration einschließt. Dieser Wandel führt zu einer Situation, in der viele der herkömmlichen Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind. Dies lässt sich am Beispiel der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen verdeutlichen. In der Gesellschaft, aber auch speziell in der Kirche gibt es immer weniger Kinder und Jugendliche, während die Zahl der älteren Erwachsenen zunimmt. Verschiedene Faktoren, insbesondere das Zusammenspiel von Geburtenraten und Migrationseffekten, lassen den relativen Anteil evangelischer Kinder und Jugendlicher in der Kirche noch weiter sinken. Kinder und Jugendliche werden tendenziell zu einer gesellschaftlichen Minderheit, und die getauften Kinder und Jugendlichen stehen einem wachsenden Anteil nicht getaufter gegen über konfessionslosen Kindern und Jugendlichen sowie Kindern und Jugendlichen mit nicht-christlicher Religionszugehörigkeit.
An erster Stelle bricht angesichts dieser Situation die Frage auf, ob die Kirche ihre bisherigen pädagogischen Angebote aufrechterhalten kann und muss oder ob es dafür in Zukunft zu wenig Kinder und Jugendliche gibt. Angebote wie der Kindergottesdienst sind schon jetzt nicht mehr an allen Orten selbstverständlich, weil zumindest in manchen Gemein den keine sinnvolle Gruppengröße mehr erreicht wird. Und wie können Kindertagesstätten in kirchlicher Trägerschaft ein christliches Profil plausibel machen, wenn die getauften oder christlich sozialisierten Kinder in der Einrichtung zur Minderheit geworden sind? Auch dem konfessionellen Religionsunterricht wird verschiedentlich vorgehalten, dass er kaum mehr sinnvoll sei, wenn Lerngruppen bestenfalls durch jahrgangsübergreifende Zusammenstellungen eingerichtet werden können.
Ein Rückzug der Kirche aus den genannten pädagogischen Arbeitsfeldern hätte jedoch bereits ganz äußerlich betrachtet weitreichende Folgen. Da keine alternativen Angebote in Sicht sind, wäre ein solcher Rückzug gleichbedeutend mit einer zunehmenden Auflösung des Generationenverhältnisses in der Kirche. Kinder und Jugendliche würden weit weniger religiöse Begleitung erhalten, obwohl sie in der sich abzeichnenden Minderheitenposition mehr denn je auf Begleitung und Bildungsmöglichkeiten angewiesen sind. Aber wie lassen sich die herkömmlichen Angebote aufrechterhalten, wenn sich der demographische Wandel weiter fortsetzt?
1.3 Knappe Finanzmittel und die Frage der Zukunftssicherung
Der demographische Wandel wirkt sich zwangsläufig auch negativ auf die Finanzkraft der Kirche aus: Es sind die Mitglieder, die mit ihren Kirchensteuern und Spenden die Arbeit der Kirche im Wesentlichen tragen. Langfristig muss bei einer sinkenden Mitgliederzahl auch mit spürbaren finanziellen Einschränkungen gerechnet werden. Diese Einschränkungen stellen die Kirche vor Auswahlentscheidungen, da nicht mehr alle bisherigen Angebote gleichermaßen finanziert werden können. Ein neues kirchliches Finanzmanagement wird künftig die Kosten und die Finanzierung kirchlicher Angebote und Leistungen transparenter machen - aber damit auch klare Leitungsentscheidungen herausfordern. Gerade die Verantwortung für künftige Generationen in der Kirche macht die durch den demographischen Wandel aufgeworfenen Fragen im Blick auf die Finanzierbarkeit von Angeboten für Kinder und Jugendliche auf diese Weise noch dringlicher. Welche Prioritäten sollen gesetzt werden? Welchen Stellenwert sollen bildungsbezogene Ausgaben erhalten? Ist es nicht geboten, Bildungsangebote auch aus diesem Blickwinkel zu betrachten und einen Schwerpunkt gerade hier zu setzen?
Zweifellos werden durch Bildungsangebote viele Menschen erreicht, die sonst kaum oder auch gar keinen Kontakt zu Kirche haben. Solche Angebote können wesentlich dazu beitragen, ein positives Verhältnis zu Kirche zu gewinnen. Im Blick auf die knappen Finanzmittel ist allerdings zu fragen: In welchen Hinsichten kann die kirchliche Bildungsarbeit tatsächlich den Zugang zur Kirche erschließen und auf welche Weise wirkt sie einem Mitgliederverlust bei der jüngeren Generation entgegen?
1.4 Migration und Globalisierung
In ihrer Bedeutung für Demographie und Ökonomie wurden Migration und Globalisierung bereits angesprochen. Ihre theologischen und pädagogischen Implikationen reichen jedoch weit darüber hinaus. Der im Deutschen Bildungsbericht von 2006 berichtete Befund, dass schon jetzt ein Drittel der Kinder im Elementarbereich einen Migrationshintergrund aufweist, macht dies schlaglichtartig deutlich. Durch Migration und Globalisierung verändert sich die gesamte kulturelle, aber auch die religiöse Situation in Deutschland. So sind viele der Kinder mit Migrationshintergrund Muslime. Bei den Kindern und Jugendlichen ist der Anteil der muslimischen Bevölkerung weit größer, als es die in der Regel auf die Gesamtbevölkerung bezogenen Berechnungen erkennen lassen. Darüber hinaus verweist die Globalisierungsforschung zu Recht auf die kulturelle Dimension von Globalisierungsprozessen, die unter anderem ein verstärktes Pluralitätsbewusstsein einschließt. Pluralität ist nicht nur eine Folge von Migration, aber in kultureller und religiöser Hinsicht trägt die Migration zur weiteren Pluralisierung bei. Andere Kulturen und Religionen sind längst nicht mehr fern und exotisch, sondern haben auch in Deutschland eine alltägliche Präsenz gewonnen, zumindest im Bewusstsein vieler Menschen. Daran wird exemplarisch deutlich, dass Heterogenität nicht mehr die Ausnahme, sondern anders als in früheren Zeiten zu einer alltäglichen Normalität geworden ist. Auch die Tatsache, dass die Pluralitätserfahrungen eine regional unter schiedliche Ausprägung besitzen und dass dabei etwa mit offenbar bleibenden Unter schieden zwischen Stadt und Land sowie zwischen Ost- und Westdeutschland zu rechnen ist, ändert daran nichts. Vielmehr steigern solche Unterschiede erneut die Erfahrung von Pluralität.
Ohne dass dabei von einer geplanten Umstellung gesprochen werden könnte, beziehen sich Bildungsangebote in kirchlicher Trägerschaft, etwa in evangelischen Kindertagesstätten, faktisch vielfach auf Angehörige nichtchristlicher Religionsgemeinschaften. Die Kirche muss sich mit anderen Kulturen und Religionen auseinandersetzen. Und auch in der evangelischen Kirche selbst gewinnen andere Kulturen an Einfluss, wofür etwa die Aussiedler aus dem Einflussbereich der früheren Sowjetunion als Beispiel genannt werden können. Die für das kirchliche Bildungshandeln der Vergangenheit mehr oder weniger als selbstverständliche Orientierung vorausgesetzten Bezüge im Sinne von Regionalität (Gemeinden, Kirchenkreise, Landeskirchen usw.) und Nationalität (Kirche in Deutschland) müssen neu bestimmt und nicht zuletzt in kultureller Hinsicht auf die Erfordernisse von Integration, Internationalität und Globalisierung abgestimmt werden. Dadurch werden weitere Klärungen der theologischen und pädagogischen Bedeutung von Mission, Ökumene, Dialog und Konvivenz in neuer Weise dringlich.
Die unter anderem durch Migration und Globalisierung bestimmte Situation der Pluralität lässt konkurrierende Optionen gleichermaßen plausibel erscheinen: Auf der einen Seite wächst der Wunsch nach Profilierung, um der Gefahr von Verwechselbarkeit, Gleichgültigkeit und Relativismus zu entkommen. Auf der anderen Seite kann die Kirche einen gesamtgesellschaftlichen, auf die Öffentlichkeit insgesamt bezogenen Auftrag in Zukunft nur dann erfolgreich wahrnehmen, wenn Profilierung zugleich Offenheit bedeutet. Ähnlich spannungsvoll wird das Verständnis von Ökumene, das in evangelischer Sicht die weltweite Kirche, aber eben nicht andere - also nichtchristliche - Religionen einschließt. Aus evangelischer Sicht ist eine Überdehnung des Ökumeneverständnisses abzulehnen, weil sie weder zu theologischen Klärungen noch zu einem für die Gesellschaft hilfreichen Umgang mit bleibenden Differenzen führt. Dennoch brechen an dieser Stelle neue Fragen auf. Wie können Ansätze wie das ökumenische und globale Lernen so weiter entwickelt werden, dass sie sich auch konstitutiv auf die religiöse Pluralität beziehen? Werden solche Ansätze umgekehrt durch ihre christlichen Bindungen auf eine Gemeinschaftsbildung eingestellt, die bewusst enger ist als die mit dem Begriff der Globalität implizierte Gemeinschaft aller Menschen?
1.5 Wandel der Kultur
Der Wandel der Kultur weist viele Facetten auf. Er betrifft die Lebensformen, deren Veränderungen sich besonders deutlich bei der Familie und deren sich verändernden Gestalten bemerkbar machen. Ebenso bezieht er sich auf das Verständnis von Mensch und Wirklichkeit und somit auf Weltbilder, um die noch immer und wieder neu etwa zwischen Glaube und Wissenschaft gestritten wird. So ist die für viele offenbar nach wie vor ungelöste Frage, wie der Schöpfungsglaube und die Evolutionstheorie miteinander vereinbart werden können, in der jüngeren Vergangenheit zu einem weithin wahrgenommenen Anzeichen ungelöster Konflikte und weitreichender Anfragen an den christlichen Glauben geworden (vgl. Weltentstehung, Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube in der Schule, EKD 2008). Die Folgen eines Glaubens an die Wissenschaft werden offenbar noch immer nicht genügend erkannt. Der Wandel der Kultur erstreckt sich weiterhin auf den Umgang mit Zeit, auf Zeiterfahrung und Zeitgestaltung. Die individuelle Lebenszeit und der von Vielen erfahrene »Zeitstress« sind davon ebenso berührt wie die Weltzeit, die im Zuge der Globalisierung zu einer neuen Einheitszeit zu werden scheint.
Alle diese Aspekte, deren Aufzählung sich heute fast beliebig erweitern ließe, schließen auch Herausforderungen für das kirchliche Bildungshandeln ein. Bislang am stärksten beachtet wird der Wandel der Leitmedien, der als Übergang vom Wort zu den Wörtern und Bildern in den Massenmedien und als Aufwertung populärer Kultur beschrieben wird. Der Einfluss der Medien, insbesondere der Massenmedien in ihren unterschiedlichen Gestalten von Radio und Fernsehen bis hin zu Internet und anderen digitalen Medien, scheint ungebrochen immer weiter zuzunehmen, nicht zuletzt im Leben von Kindern und Jugendlichen.
Die Massenmedien sind dabei als ein ausgesprochenes Kommunikationshindernis für Kirche und Evangelium bezeichnet worden, weil sie die Präsentation und Rezeption des einen Wortes erschweren. Andere hingegen verweisen auf die religionsproduktive Rolle der Medien. Besonders die von den Medien transportierte und gepflegte populäre Kultur sei in hohem Maße religionshaltig, so dass sogar von einer eigenen »Medienreligion« - als der in medialen Präsentationen erzeugten oder angeregten Form von religiöser Erfahrung - gesprochen werden könne. Die medial vermittelte populäre Kultur sei für viele Menschen zu einem zentralen Medium der Sinnstiftung geworden.
Welche Folgen die neuen Medien für die religiöse Sozialisation mit sich bringen, ist allerdings noch immer kaum erforscht. Es fehlt insbesondere an empirischen Wirkungsstudien, wie sie für eine ernsthafte Abschätzung möglicher Folgen unabdingbar wären. Ebenso offen ist die Frage, ob eine ernst zu nehmende religiöse Bildung auch durch die Massenmedien erreicht werden kann. Bildung und (Massen-)Medien schließen einander nicht aus. Gerne verwiesen wird auf den historischen Zusammenhang zwischen der Reformation und der medialen Revolution, die im 16. Jahrhundert vor allem mit der Erfindung der Druckerpresse verbunden war. Aber wie und mit welchen medialen Mitteln lässt sich dieser Zusammenhang heute erneuern? Auch die Verteidiger der »Medienreligion« wollen nicht behaupten, dass sich darin einfach das Evangelium verkörpere. Vielmehr steht auch diese Form von Religion im Horizont des Religionswandels und konfrontiert die Kirche insofern erneut mit den Herausforderungen von Identität und Relevanz. Stellen die Medien einen Bereich dar, in den die Kirche vermehrt investieren und von dem sie dann auch einen wesentlichen Beitrag zu ihrem Bildungshandeln erwarten soll? Waren die bislang in dieser Hinsicht unternommenen Versuche beispielsweise mit Kirchenradio, Bibel-TV, religiösen Filmen und Talk-Shows, wie sie in den letzten Jahren von der Kirche auch in finanzieller Hinsicht unterstützt wurden, tatsächlich erfolgreich?
Bei alldem muss bewusst bleiben, dass der kulturelle Wandel mit seinen Herausforderungen für die Kirche viel weiter reicht als der Wandel der Medien. Selbst der erfolg reiche Versuch, dafür zu sorgen, dass die Massenmedien den Ansprüchen des von der Kirche vertretenen Bildungsverständnisses gerechter werden, wäre allein noch keine zureichende Antwort auf den Wandel der Kultur. Deshalb bleibt die übergreifende Frage: Wie kann sich das Bildungshandeln der Kirche auf den Wandel der Kultur ohne Verlust seiner christlichen Substanz einstellen?
1.6 Leben mit wachsenden sozialen, kulturellen und regionalen Disparitäten
Von sozialen, kulturellen und regionalen Disparitäten und Spannungen ist auf mehreren Ebenen zu sprechen: für die einzelnen Gesellschaften, einschließlich der deutschen Gesellschaft, aber auch im globalen Horizont sowie hinsichtlich der individuellen Lebenslagen und Biographien. Das Leben in der »Risikogesellschaft« (Ulrich Beck) ist von dem Bewusstsein zahlreicher und weitreichender Belastungen geprägt, die ungleich verteilt sind und die sich in manchen Lebenslagen mit ungleich schärferen Folgen verbinden als in anderen. Zugleich stehen alle Menschen in der Gesellschaft vor der Erfahrung, dass viele Risiken vom Einzelnen nicht kontrolliert werden können. Dies gilt insbesondere im Blick auf globale Risiken, wie sie schlagwortartig beispielsweise mit Begriffen wie »Klimakatastrophe« oder »Konflikt der Kulturen« bezeichnet werden. Globalisierungsprozesse bringen mit dem Kampf um Standortvorteile die sozialstaatlichen Strukturen unter Druck und stellen mit weltweiten »Sachzwängen« die Möglichkeit demokratischer Entscheidungsfindung in Frage. Im eigenen Land entspricht dem die scherenförmige Öffnung zwischen Arm und Reich, aber auch die bereits angesprochenen migrations- und globalisierungsbedingten Spannungen zwischen ethnischen und nationalen Gruppen in der Gesellschaft gehören in diesen Zusammenhang. Andere Disparitäten erwachsen aus der deutschen Geschichte selbst, etwa im Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland bzw. zwischen unterschiedlichen Regionen auch innerhalb der verschiedenen Landesteile und Bundesländer. Das Bildungssystem spielt dabei eine durchaus ambivalente Rolle. Längst ist bewusst geworden und empirisch mehrfach nachgewiesen, dass das Bildungssystem beides hervorbringt: Gewinner und Verlierer, und dies besonders ausgeprägt in Deutschland.
Das Aufwachsen ist zunehmend von solchen Disparitäten bestimmt. Schon Kinder und Jugendliche setzen sich mit entsprechenden Fragen auseinander, etwa mit der Gefahr von Arbeitslosigkeit, fehlender sozialer Sicherung und der Endlichkeit von Ressourcen. Doch treffen solche Fragen die einzelnen Kinder und Jugendlichen in höchst unter schiedlicher Weise, je nach Lebenslage und biographischer Perspektive, die zwischen einem ausgeprägten Optimismus und der nicht weniger ausgeprägten Überzeugung, selbst doch keine Chance zu haben, schwanken kann.
Mit ihren Ansätzen des ökumenischen, globalen und interreligiösen Lernens war die kirchliche Bildungsarbeit vielfach ihrer Zeit voraus. Mit ihrer Rolle als Vorreiter verstand sie sich gut auf die im Blick auf Zukunftsprobleme ausgeprägte Sensibilität von Jugendlichen, die vielfach früher, rascher und mit größerer Entschiedenheit als die Erwachsenen auf sich abzeichnende Risiken etwa für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung reagierten. Die genannten Ansätze haben ihre Bedeutung nicht verloren. Zugleich sieht sich die kirchliche Bildungsarbeit mit neuen Herausforderungen und Ansprüchen konfrontiert, die ihre Glaubwürdigkeit auf die Probe stellen. Ist das globale Lernen schon genügend auf die wachsenden Disparitäten eingestellt? Und welche Wirkungen werden mit diesem Ansatz bei Lernprozessen tatsächlich erreicht? Hat sich das inter religiöse Lernen auf die neue Schärfe der Gegensätze und Konflikte zwischen den Religionen bereits in ausreichendem Maße eingelassen? Und bei alldem: Was bedeutet das kirchliche Bildungshandeln im Blick auf die beschriebenen Disparitäten? Welche Lebenschancen und Optionen eröffnet die kirchliche Bildungsarbeit beispielsweise solchen Jugendlichen, die heutigen Erwartungen zufolge kaum eine Chance auf eine bezahlte Arbeit in Deutschland haben?
1.7 Bildung als Gegenstand des Messens
Der Begriff des »Messens« ist zunächst ganz wörtlich zu verstehen: Wie noch nie zuvor wird Bildung in Deutschland - wie auch in anderen Ländern vor allem der westlichen Welt - mit Hilfe empirischer Verfahren erfasst und werden Vergleichsuntersuchungen zu Bildungserfolgen durchgeführt. Die im Bildungsprozess zu erwerbenden Kompetenzen werden in einer Weise bestimmt, die einer wiederum empirischen Überprüfung entgegenkommt. Bildungsstandards stellen ein weiteres Instrument dar, das eine vergleichende Erfassung der jeweils erworbenen oder nicht erworbenen Kompetenzen erlauben soll. Die damit angesprochenen Formen des Messens und der Neuvermessung der Bildungslandschaft insgesamt stehen dabei ebenso im Horizont des internationalen Wettbewerbs um Standort vorteile wie in dem der notwendigen Rechenschaftsgabe in einem System, das den einzelnen Bildungseinrichtungen mehr Handlungsfreiheit überlassen will. Bei alldem bleibt kritisch zu prüfen, ob Bildung nicht zugunsten der Messbarkeit verkürzt und verengt wird (vgl. Maße des Menschlichen).
Der Begriff der Neuvermessung bezieht sich dabei zugleich in einem weiteren Sinne auf Verschiebungen, die mehrere Ebenen betreffen: die Akteure im Bildungswesen; das Verhältnis zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Trägern; die sozialen und zeitlichen Grenzen des staatlich normierten Bildungswesens. Leicht abzulesen ist dies bei der vermehrten Einrichtung von Ganztagsschulen. Damit verbindet sich eine soziale und zeitliche Entgrenzung von Schule über die bisher in Deutschland weithin übliche Halbtagsschule hinaus. Weitere Partner aus der Kinder- und Jugendarbeit oder in Gestalt von Sport- und Musikvereinen oder anderen kulturellen Anbietern werden in die schulische Arbeit einbezogen. Bisher dem Freizeitbereich zugeordnete Aktivitäten rücken in den Zusammenhang der staatlich regulierten Schule (vgl. Ganztagsschule - in guter Form! EKD 2004). Ein weiteres Beispiel stellt der Elementarbereich dar, für den es in der Vergangenheit nur wenig verbindliche Vorgaben gab. Mit den zwischen den Trägern vereinbarten Orientierungs- und Bildungsplänen, die nun erstmals für den Elementar bereich in Geltung getreten sind, nimmt die Bedeutung einer öffentlichen Verantwortung auch im Elementarbereich zu und werden aus freiwilligen Angeboten Pflicht bereiche. Damit verbinden sich wichtige neue Möglichkeiten für Bildung, nicht zuletzt für Kinder aus Elternhäusern, die den Kindern in dieser Hinsicht nur wenig Anregung und Unterstützung bieten. Nicht zu übergehen sind jedoch auch die Fragen, die sich aus kirchlicher Sicht mit einer solchen Neuvermessung verbinden (vgl. Religion, Werte und religiöse Bildung im Elementarbereich, EKD 2007).
Für das kirchliche Bildungshandeln enthalten beide Hinsichten der Neuvermessung erhebliche Herausforderungen. Leistungsfähigkeit und Qualität kirchlicher Bildungsangebote werden heute nicht mehr als selbstverständlich akzeptiert. Anders als in früheren Zeiten stellen kirchliche Trägerschaften noch keine zureichende Antwort auf Qualitätsfragen dar. Dies gilt für die kirchliche Beteiligung am schulischen Religionsunterricht ebenso wie für Schulen in kirchlicher Trägerschaft oder für andere kirchliche Einrichtungen im Elementarbereich. In anderer Weise gilt es aber auch für Angebote in der Gemeinde wie die Konfirmandenarbeit oder die Jugendarbeit, deren Plausibilität ebenfalls nicht mehr einfach vorausgesetzt werden kann. Von der Neuvermessung im weiteren Sinne betroffen sind darüber hinaus die Prinzipien von Religionsfreiheit, Trägerpluralismus und zivilgesellschaftlichem Engagement. Selbst wenn dies nicht beabsichtigt wird, können die Entgrenzung von Schule oder die Erweiterung staatlicher Verantwortung zu einer Verschiebung auf Kosten freier, nichtstaatlicher Trägerschaften führen. Dies wider spricht dem Selbstverständnis der Kirche etwa als Träger von Kindertagesstätten sowie evangelischer Schulen (Schulen in evangelischer Trägerschaft, EKD 2008). Demokratischpluralistische Anforderungen würden dann gegenüber Ansprüchen, die sich auf die Leistungsfähigkeit von Bildungsangeboten berufen, nur noch nachrangig beachtet werden.
Will die Kirche im Blick auf die Neuvermessung von Bildungslandschaft und Bildungsverantwortung an ihrer Rolle im Bildungsbereich festhalten, wird sie dies nicht ohne vermehrte Bemühungen - bis hin zu gezielten Investitionen - tun können. Selbst verständliche Kontinuität von Traditionen im Bildungsbereich kann es angesichts der mit der Neuvermessung verbundenen Ansprüche immer weniger geben. Wie kann sich die Kirche auf die sich mit diesen Veränderungen neu eröffnenden Möglichkeiten einlassen, ohne dass das kirchliche Bildungshandeln sein spezifisches Profil verliert?
Die Reihe der Herausforderungen ließe sich noch vermehren. Vollständigkeit in der Beschreibung ist nicht das Ziel der vorliegenden Orientierungshilfe. Ohne Zweifel geben bereits die hier genannten Herausforderungen ausreichend Anlass dazu, neu und mit gesteigerter Intensität über die Zukunft des kirchlichen Bildungshandelns nachzudenken. Denn diese Zukunft erweist sich als wenig gesichert, vor allem dann, wenn auf die grundlegenden Umbrüche in Kultur und Gesellschaft nicht oder zu wenig reagiert wird. Reaktionen setzen jedoch klare Einschätzungen und kriterienbewusstes Urteilen voraus. Deshalb soll nun nach den Grundsätzen für ein evangelisches Bildungsverständnis gefragt werden.