Ein Jahr ForuM-Studie: Landeskirchen arbeiten sexualisierte Gewalt auf

Mehr Personal, mehr Schulungen und die verstärkte Einbindung von Betroffenen: Ein Jahr nach Veröffentlichung der ForuM-Studie haben die Landeskirchen eine Reihe von Veränderungen angestoßen, um das Thema sexualisierte Gewalt aufzuarbeiten.  In der ersten Jahreshälfte nehmen dazu auch die bundesweit neun Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen (URAK) ihren Dienst auf. Betroffene Personen mahnen aber eine höhere Geschwindigkeit an.

„Im Umgang mit sexualisierter Gewalt haben wir als Landeskirche und Diakonie einen Lernweg zurückgelegt.“

Heike Springhart Landesbischöfin der Evangelischen Landeskirche in Baden

„Im Umgang mit sexualisierter Gewalt haben wir als Landeskirche und Diakonie einen Lernweg zurückgelegt“, so Heike Springhart, Landesbischöfin der Evangelischen Landeskirche in Baden. Es bleibe eine Herausforderung, „an allen Stellen genau hinzusehen, Herz und Verstand zu öffnen für die Gewalt, die Menschen in der Diakonie und in der Kirche zugefügt wurde und auch noch zugefügt wird und entsprechend zu handeln.“ 

Einer der ersten konkreten Schritte, die die Evangelische Landeskirche in Baden nach Veröffentlichung der ForuM-Studie gegangen ist, war die Bewilligung von drei zusätzlichen, unbefristeten Vollzeitstellen im Bereich Prävention, Intervention und Aufarbeitung. Mit Beginn des neuen Jahres seien nun alle drei Stellen besetzt.

Zusätzlich zu den seit Jahren verpflichtenden Schulungen für Mitarbeitende im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit werde in Baden der Blick auf haupt- und ehrenamtliche Leitungskräfte und Personalverantwortliche intensiviert. Der Aufbau der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommission (URAK) Südwest befinde sich zudem im Zeitplan, teilt die badische Landeskirche weiter mit. Das mit sieben Personen besetzte Gremium soll die regionale Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt im Bereich der evangelischen Kirchen in Baden und der Pfalz sowie ihrer diakonischen Werke leisten und seine Arbeit im Frühjahr aufnehmen.

Landeskirchen streben Vereinheitlichung der Abläufe an

Laut Christian Kopp, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, zeigt die ForuM-Studie deutliche Unterschiede in den Herangehensweisen der Landeskirchen und diakonischen Landesverbände. „Wir arbeiten an einer Vereinheitlichung der Abläufe, etwa durch die Abschaffung des Spruchverfahrens und die Einführung eines einheitlichen Verfahrens für Anerkennungsleistungen“, sagt er. Zudem sei man in Bayern mit der Schaffung der URAK und der Bildung einer Betroffenenvertretung gut vorangekommen. Der Schwerpunkt beim Thema Prävention liege auf Schulungen für Ehren- und Hauptamtliche sowie der Erstellung situationsorientierter Schutzkonzepte. Bis Ende 2025 sollen diese flächendeckend in den Kirchengemeinden erarbeitet sein. „Es geht darum, als Kirche ein noch sichererer Ort zu werden, an dem Gewalt keinen Platz hat“, betont Kopp. „Wir sind uns der großen Aufgabe und unserer Verantwortung bewusst und stellen uns ihr mit aller Entschlossenheit.“

Bearbeitung für Meldungen von Betroffenen wird klarer gestaltet

Die durch die ForuM-Studie entstandene „Verunsicherung“ in den Landeskirchen hält die Ulmer Regionalbischöfin Prälatin Gabriele Wulz für produktiv: „Sie zwingt uns dazu, unsere Prozesse, aber auch unsere Haltungen immer wieder aufs Neue kritisch zu hinterfragen.“ Wulz begleitet als Mitglied der württembergischen Kirchenleitung die Themen Aufarbeitung, Prävention und Intervention im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt seit vielen Jahren. „Wir haben inzwischen die Wege und die Bearbeitungszeiten für Meldungen von Betroffenen so einfach und klar wie möglich gestaltet. Das gilt auch für unsere Zuständigkeiten in einem so sensiblen Bereich. Ich erlebe aber auch, dass wir in den konkreten Situationen – trotz guter Pläne – immer wieder neu herausgefordert sind und dazulernen. Außerdem ist mir nochmal klarer geworden, wie sensibel das Verhältnis von Distanz und Nähe in allen Feldern der kirchlichen Arbeit zu gestalten ist.“

Wissenschaftliche Unterstützung bei lange zurückliegenden Fällen

Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hat Fragen im Umgang mit sexualisierter Gewalt bereits seit zwei Jahrzehnten zu einem Schwerpunkt ihrer Präventionsarbeit gemacht. Betroffenen Menschen werde „individuell und unbürokratisch“ geholfen, heißt es auf der Website der Landeskirche. „Dies kann aber nur ein Teil der Arbeit sein. Wir arbeiten hin auf eine flächendeckende Sensibilisierung, die ein Umfeld schafft, in dem sexualisierte Gewalt entweder verhindert, oder sie früh wahrgenommen wird und Meldungen zu zügigen und angemessenen Schritten führen.“

Neben der Aktenrecherche für die Forum-Studie wurde in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) im Jahr 2022 eine systematische Überprüfung der Altfälle in die Wege geleitet, um mögliche strukturelle Defizite aufzudecken. Wissenschaftliche Unterstützung holt sich die EKKW aber auch im Einzelfall: Ein Team aus Kultur-, Rechts- und Sozialwissenschaftlerinnen der Universität Kassel forscht aktuell zu sexualisierter Gewalt in einer der Kirchengemeinden in den 1980er-Jahren. Überdies würde im März die URAK ihre Arbeit aufnehmen. In Hessen werden EKKW, EKHN und Diakonie Hessen eine gemeinsame Kommission bilden, in der neben kirchenunabhängigen Personen auch Betroffene mitarbeiten. Damit sollen deren Rechte im Sinne der Aufarbeitung gestärkt werden.

„Die Erschütterung und die Einsichten der Ergebnisse der ForuM-Studie haben Wirkung gezeigt“, sagt auch Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Das Hören Betroffener und ihre Beteiligung an den Veränderungsprozessen würden konsequent ins Zentrum aller Maßnahmen zur Aufarbeitung und Anerkennung des ihnen widerfahrenen Leides rücken. „Wir hören sie, die Kirche hört sie. Die unabhängigen und die kirchlichen Beratungsstellen sind da und wir bauen unsere Hilfe-, Schulungs- und Präventionsangebote weiter aus“, so Stäblein. Der Raum der Kirche müsse ein anderer, ein sicherer Raum werden, in dem Vertrauen bestimmt und Menschen vor sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch geschützt sind. „Auf diesem Weg dürfen wir nicht nachlassen“, betonte der Bischof.

Auch die Evangelische Kirche im Rheinland hat Personal aufgestockt, insbesondere Interventionsmanagement und Aufarbeitung. Neue Leiterin der Stabsstelle Prävention, Intervention und Aufarbeitung ist die Kriminologin Katja Gillhausen. Bei der Sichtung der Personalakten, die in den Kirchenkreisen und Gemeinden liegen bzw. deren Mitarbeitende betreffen, gebe es gute Fortschritte, teilt die Landeskirche mit. Im März wird die URAK für die rheinische, die westfälische, die lippische Kirche und die gemeinsame Diakonie ihre Arbeit aufnehmen.

„Aber was sind eigentlich unsere institutionellen Schmerzen gegen das Leid, das Menschen eben auch in unserer Kirche angetan wurde?“

Christoph Pistorius Vizepräses der Evangelischen Kirche im Rheinland

Widerstände innerhalb der Kirchen

Die Beschäftigung mit dem Thema sexualisierte Gewalt stoße jedoch nicht überall in der Kirche auf ungeteilten Widerhall, so Christoph Pistorius, Vizepräses der Evangelischen Kirche im Rheinland. Mitunter werde die Beschäftigung damit eher vermieden. „In der Tat: Die Beschäftigung mit dem Thema sexualisierte Gewalt/Missbrauch ist schmerzhaft, anstrengend und unangenehm. Aber was sind eigentlich unsere institutionellen Schmerzen gegen das Leid, das Menschen eben auch in unserer Kirche angetan wurde? Wir sind den Betroffenen die ernsthafte, ehrliche und aufrichtige Beschäftigung mit dem Thema schuldig – und unserer eigenen Glaubwürdigkeit auch“, so der Vizepräses.

Betroffene fordern noch mehr Beteiligung

Für einen besseren Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Kirche gebe es noch viel zu tun, sagte Betroffenensprecherin Nancy Janz im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Es geht immer noch schleppend und langsam voran.“ Insbesondere im Umgang mit Betroffenen und der Anerkennung ihrer Expertise ist Janz zufolge noch viel zu tun. „Die Betroffenenbeteiligung ist deutlich ausbaufähig“, betonte sie. Zwar sei inzwischen das Betroffenen-Netzwerk „BeNe“ als digitale Vernetzungsplattform gestartet, doch mit Blick in die Landeskirchen und bis in die Gemeinden hinein bestehe noch deutlicher Handlungsbedarf.

„Es gibt immer noch Gemeinden, die darin kein Thema sehen“, kritisierte Janz. Diese Haltung sei weit entfernt von einem Kulturwandel in der Kirche. Janz leitet seit Mai die Fachstelle Sexualisierte Gewalt der Bremischen Kirche. „Viele Betroffene wollen sich engagieren“, betonte sie. Zwar seien auch in den „Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen“ (URAK) der Kirchen und der Diakonie, die im Frühjahr ihre Arbeit aufnehmen sollen, jeweils Betroffene vertreten. Es brauche aber darüber hinaus viel mehr Formate der Mitwirkung.