Mondscheingottesdienst

Predigt des Bevollmächtigten des Rates der EKD, Martin Dutzmann, zu Psalm 8, 4-7.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus…

 

„Willkommen, o silberner Mond,

Schöner, stiller Gefährt der Nacht!

Du entfliehst?

Eile nicht, bleib, Gedankenfreund!

Sehet, er bleibt, das Gewölk wallte nur hin.“

 

Mit diesen Zeilen, liebe Schwestern und Brüder, beginnt das Gedicht „Die frühen Gräber“. Friedrich Gottlieb Klopstock hat es im Jahr 1764 geschrieben. Was für eine schöne und treffende Bezeichnung des Mondes: „Gedankenfreund“. In alten und neuen Gedichten und Liedern sind beim Anblick des Mondes gefasste Gedanken nachzulesen, und es ist die Erfahrung wohl auch einer jeden und eines jeden von uns: Der Mond regt das Nachdenken an.  Das Licht des Tages und das Dunkel der Nacht wirken nicht in gleicher Weise: Im Licht des Tages fühlen wir uns eher zur Tat gedrängt und zum klaren zielgerichteten Gedanken veranlasst als dazu ermutigt, unseren Gedanken freien Lauf zu lassen. Das Dunkel der Nacht lädt zur Ruhe ein und dazu, Abstand zu nehmen gleichermaßen vom Denken und vom Tun. Es ist dieses besondere Licht des Mondes, das ihn zum „Gedankenfreund“ macht. Dieses Licht, das zwar Konturen erkennen lässt, aber nicht jeden Winkel unbarmherzig ausleuchtet. Dieses Licht gibt Raum zum Nachsinnen. Zum Nachsinnen über Grundsätzliches und Wesentliches…

 

„Eile nicht, bleib, Gedankenfreund!“  Wir schließen uns der Bitte des Dichters an, geben uns im Schein des gerade abnehmenden Mondes (im Wissen um den gerade abnehmenden Mond) unseren eigenen Gedanken hin und sinnen den Gedanken nach, die andere aufgeschrieben haben. Gedanken über den Menschen sind es heute Abend. Im Mondlicht schauen wir uns selbst an und erinnern uns unserer menschlichen Eigenart, unserer Möglichkeiten und Grenzen. In der Fülle unserer Aufgaben und Termine, Verpflichtungen und Herausforderungen mag eine solche Erinnerung heilsam sein…

 

Vor hunderten von Jahren betrachtet einer im Mondschein den Menschen. Seine Worte, in denen Dankbarkeit und ungläubiges Staunen liegen, sind uns in der Bibel als Psalm 8 überliefert. Hier ein Ausschnitt aus diesem Gebet: „Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan…“

 

„Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast – dann empfinde ich, wie groß du bist, Gott, und was es bedeutet, dass du der Schöpfer des Himmels und der Erde bist. Alles, was ist, verdankt sich dir. Nichts, was ist, ist größer und mächtiger als du. Kein Mensch kann deine Größe und deine Macht je erfassen. Das spüre ich beim Anblick von Mond und Sternen besonders deutlich und es ergreift mich tiefe Ehrfurcht vor dir. Wenn ich dann den Blick auf mich selbst richte, wenn ich angesichts deiner Majestät frage: Was ist der Mensch? dann empfinde ich deutlicher als sonst auch dies: Der Mensch, so groß er auch von sich denkt und für wie klug und einfallsreich und tatkräftig er sich auch hält, ist vor dir nicht mehr als ein Staubkorn – winzig klein, kaum zu sehen, vom Wind hin und her geweht, schnell verschwunden in einer Furche oder Ritze. Umso unbegreiflicher ist es, dass du, Gott, mit diesem Winzling namens Mensch, dass du mit mir zu tun haben willst: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Ausgerechnet uns Menschen, ausgerechnet mich, hast du ins Herz geschlossen. Ausgerechnet dieses kleinen und unbedeutenden Geschöpfes, ausgerechnet auch meiner, gedenkst du und nimmst dich meiner an. Du versorgst mich mit allem, was ich zum Leben brauche, gehst mir nach, wenn ich in die Irre gegangen bin, bleibst bei mir, wenn ich am Boden liege und lässt noch nicht einmal dann von mir, wenn ich sterben muss. Und das ist noch nicht alles: Obwohl der Mensch im Vergleich zu dir so winzig klein ist, hebst du ihn, hebst du mich – fast – auf deine Stufe: Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Verdient hat er das nicht, der Mensch. Ich habe das nicht verdient. Aber glauben will ich es. Ich will darauf vertrauen, dass ich in deinen Augen unendlich kostbar bin – mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt wie ein König oder eine Königin.

Der Gedanke daran kann mich aufrichten, wenn ich scheitere, oder wenn ich an mir nichts Liebenswertes entdecken kann, wenn andere mich ihre Abneigung oder gar ihren Hass spüren lassen. - Und als ob das alles nicht schon genug, ja zu viel des Guten wäre, schenkst du, großer Gott, deinem geliebten Menschen, schenkst du mir ein nahezu grenzenloses Vertrauen: Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan…“

 

Überwältigt und zutiefst dankbar zeigt sich der Beter des 8. Psalms, wenn er im Licht des Mondes über den Menschen nachsinnt. Aber der „Gedankenfreund“ gibt auch anderen, durchaus gegensätzlichen Gedanken über den Menschen Raum: ‚Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder und wissen gar nicht viel. Wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel.‘ lässt uns Matthias Claudius in dem Lied „Der Mond ist aufgegangen“ singen. Wie begrenzt und manchmal auch beschränkt wir Menschen doch sind! Obwohl es uns schon vor 50 Jahren gelang, nicht mehr nur die ganze Erde, sondern auch den Mond zu bereisen; obwohl wir inzwischen, auch ohne zu reisen, blitzschnell miteinander in Kontakt treten und Gedanken, Waren, Dienstleistungen austauschen können; obwohl künstliche Intelligenz unser Leben in mancher Hinsicht erleichtern wird – „wir kommen weiter von dem Ziel“: Von dem Ziel eines geeinten Europas, in dem sich alle Länder in gleicher Weise der Rechtsstaatlichkeit und vor allem der Mitmenschlichkeit verpflichtet wissen. Von dem Ziel einer friedlichen Welt, in der niemand seine Heimat aus Furcht vor Terror und Gewalt verlassen muss. Von dem Ziel eines verantwortungsvollen Umgangs mit den begrenzten Ressourcen der Erde, so dass auch die nach uns kommenden Erdenbewohner noch genug davon haben.

 

„Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder.“ Das ist wahr. Doch werden wir es bei diesem Bekenntnis nicht bewenden lassen und es uns nicht in unserem Arme-Sünder-Sein bequem machen. Wir würden das Vertrauen, das Gott in uns setzte, als er uns zum Herrn über seiner Hände Werk machte, enttäuschen. Nein, wir werden Verantwortung für die Geschöpfe übernehmen, die Gott uns anvertraut hat. Wir werden für Gerechtigkeit und Frieden eintreten und die Schöpfung bewahren. Dabei müssen wir uns nicht überfordern. Wir sind ja nicht Gott, sondern niedriger als Gott, wie es im Psalm heißt. Und wir dürfen auf seinen Beistand vertrauen. Im Psalm heißt es ja auch, dass Gott des Menschen gedenkt und sich seiner annimmt. In wenigen Tagen wird der Mond nicht mehr zu sehen sein. Der Neumond mag uns daran erinnern, wie schwach wir sind und wie vergänglich. Der dann wieder zunehmende Mond möge unsere Hoffnung stärken, dass uns von Gott her neue Kräfte zuwachsen, wenn wir ihn darum bitten.

 

Und noch einen weiteren Gedanken über den Menschen regt der Mond, der „Gedankenfreund“ an. Er stammt von Mark Twain: „Jeder Mensch ist wie ein Mond: er hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt.“  Manchmal bekommen wir diese dunkle Seite von Menschen unversehens zu Gesicht: In unserer Kirche hat es Pfarrer und Jugendmitarbeiter, Kantoren und Pfadfinderleiter gegeben, deren helle Seite die Menschen besonders schätzten und liebten. Mit ihr zeigten sie sich als engagierte, zugewandte, hörbereite, einfühlsame Menschen, waren jungen Menschen Kamerad, Freund, Tröster. Manche dieser jungen Menschen bekamen jedoch daneben auch die dunkle Seite dieser Kirchenleute zu sehen, mussten erfahren, wie ihr Vertrauen missbraucht, wie ihnen Gewalt angetan wurde und wie die Täter alles daran setzten, dass ihre dunkle Seite auch dunkel blieb. Hier ist die Kirche herausgefordert. Herausgefordert, Licht ins Dunkel zu bringen, auch wenn die Taten schon Jahrzehnte zurückliegen. Das ist sie den Opfern schuldig, die unter ihrem Dach Schutz und Geborgenheit suchten und Übergriffe und Gewalt erlebten. Übrigens muss die Kirche auch ihre eigenen dunklen Seiten anschauen. Muss sehen, welche Strukturen und Mechanismen kirchlichen Lebens solche Verbrechen begünstigten und wo diese von ihren Vertretern verharmlost oder vertuscht wurden. Nur so kann es geschehen, dass zerbrochenes Vertrauen zurückkehrt…

 

„Jeder Mensch ist wie ein Mond: er hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt.“  sagt Mark Twain. Vermutlich hat er recht damit, dass jeder Mensch eine dunkle Seite hat. Dass in jedem Menschen verborgene Wünsche schlummern und unterdrückte Gefühle. Jede und jeder von uns mag sich selbst prüfen. Es mag sein, dass wir diese dunkle Seite selbst dem Menschen nicht zeigen, der uns am nächsten ist und den wir lieben, ja dass wir sie nicht einmal uns selbst eingestehen. Aber da ist einer, der hinter die Maske schaut und Licht ins Dunkel bringt. Der 139. Psalm beginnt so: „Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne.“ Unsere dunkle Seite bleibt also nicht dunkel. Darüber könnten wir erschrecken, könnten uns dem Licht entziehen wollen. Aber im Psalm wird schnell deutlich, dass das Licht, das Gott auf unsere dunkle Seite scheinen lässt, kein gleißendes und unbarmherziges Licht ist wie das Licht eines Scheinwerfers bei einem Verhör. Denn es heißt es weiter: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“

 

Im Licht des Mondes haben wir, liebe Schwestern und Brüder, mit Hilfe anderer über den Menschen nachgedacht. Tröstliches ist uns dabei in den Sinn gekommen und Ermutigendes, Herausforderndes und auch Verstörendes. Wir Menschen sind eben widersprüchliche Geschöpfe – wenig niedriger als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt einerseits, fehlbar, vergänglich und abgründig andererseits. Als solche vertrauen wir uns Gott an, wie es die letzte Strophe des Mondliedes von Matthias Claudius nahelegt: „So legt euch, Schwestern, Brüder, in Gottes Namen nieder; kalt ist der Abendhauch. Verschon uns, Gott, mit Strafen und lass uns ruhig schlafen. Und unsern kranken Nachbarn auch!“

 

Und der Friede Gottes…