Predigt zu Römer 5, 1-5
des Bevollmächtigten des Rates der EKD, Dr. Martin Dutzmann
Lieber Bruder Haroutune Selimian,
ich glaube, wir sind alle beeindruckt und bewegt von dem, was Sie uns soeben über die Situation in Aleppo berichtet haben. Gewiss, wir haben in den letzten neun Jahren viele Fernsehbilder aus dem vom Krieg geschundenen Syrien gesehen und manchen Zeitungsbericht darüber gelesen. Aber es ist immer noch einmal anders, wenn jemand erzählt, der Tag für Tag selbst erleben muss, was Krieg bedeutet: Sirenengeheul, Bombeneinschläge, Schreie, verletzte und tote Menschen, unbewohnbar gewordene Gebäude, zerstörte Infrastruktur. Erst recht bekommen wir nur selten vor Augen geführt, wie es unseren Glaubensgeschwistern in Syrien geht. Sie, lieber Bruder Selimian, haben in den Jahren seit 2011 viele Gemeindeglieder beerdigen und unzählige trauernde und verängstigte Menschen begleiten müssen. Vielen mussten Sie auch in materieller Not beistehen. Mich berührt sehr, welche Kraft Sie und Ihre Gemeinde aus unserem christlichen Glauben schöpfen. So viel, dass Sie anderen davon noch großzügig abgeben: In der Bethel-Poliklinik zum Beispiel helfen Sie Menschen ohne Rücksicht auf deren Religion oder Konfession, ihre Kriegstraumata zu verarbeiten und lebensfähig zu bleiben oder wieder zu werden. Ich versichere Ihnen: Wir sind mit unseren Gedanken und Gebeten bei Ihnen und bei allen anderen Christen in Syrien – nicht nur heute am Sonntag Reminiszere, der uns das Gedenken an die bedrängten Glaubensgeschwister nahelegt.
Aufgefallen ist mir, wie oft Sie in Ihrem Bericht von Hoffnung gesprochen haben. An einer Stelle haben Sie gesagt: „Für uns als Christen ist unser Schatz die Hoffnung. Wir leben in der lebendigen Hoffnung des Herrn, die uns die Kraft gibt weiterzumachen trotz aller Schwierigkeiten.“ Da klingen Sie wie der Apostel Paulus im fünften Kapitel des Römerbriefes. „Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden“, schreibt er. Über die Hoffnung will ich deshalb heute predigen.
Liebe Schwestern und Brüder,
„Hoffnung lässt nicht zuschanden werden“, bekennt Paulus. Das hört sich an wie eine Lebensweisheit. Aber Paulus hat etwas anderes, Tieferes, im Blick. Er spricht von der in Gott gegründeten und von der auf Gott gerichteten Hoffnung.
Die Hoffnung, die Paulus meint, ist in Gott gegründet. Gott selbst ist ihr Fundament. „Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden…“, schreibt der Apostel und weiter: „…denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ Ob Paulus dabei an die Taufe denkt? Denn das ist ja geschehen, als wir auf den Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, getauft wurden: Als wir mit Wasser begossen wurden, wurde durch den Heiligen Geist Gottes Liebe über uns bzw. in unsere Herzen ausgegossen. Das Wasser ist dann zwar schnell getrocknet, doch Gott – das ist das Versprechen der Taufe – bleibt uns in Liebe zugewandt – unser ganzes Leben lang und selbst dann noch, wenn wir sterben müssen. Deshalb schreibt Paulus drei Kapitel nach unserem Predigtabschnitt: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8, 38f.)
Ob wir uns, liebe Schwestern und Brüder, von dieser in Gott gegründeten Hoffnung tragen lassen können? Auch wenn unsere Situation nicht mit der von Pfarrer Selimian beschriebenen vergleichbar ist – es gibt ganz aktuell manches, was uns ängstigt und uns die Hoffnung rauben will. Viele fühlen sich in diesen Tagen von dem neuartigen Coronavirus bedroht, und tatsächlich kann dieser Erreger lebensbedrohlich sein. Es ist deshalb richtig, dass die Behörden warnen und dass bestimmte Großveranstaltungen abgesagt werden. Richtig ist auch, nicht unnötig das Risiko einer Ansteckung einzugehen und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Nicht wenige Menschen allerdings reagieren panisch auf die mögliche Ansteckungsgefahr und befürchten, dass alles zusammenbricht, was ihnen bisher Halt gegeben hat. Lasst uns Christen einander an die Hoffnung erinnern, die uns gegeben ist. Die Hoffnung, die nicht zuschanden werden lässt – auch und gerade dann nicht, wenn wir krank und verzagt sind.
Panik macht sich bei vielen Menschen in diesen Tagen auch breit, wenn sie ihren Blick auf das Geschehen an der griechisch-türkischen Grenze richten. Nachdem der türkische Staatspräsident den aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern Geflüchteten den Weg in Richtung Europäische Union gewiesen hat, versuchen diese, nach Griechenland zu gelangen. Und in Deutschland geht die Angst um: Wird sich wiederholen, was 2015 geschah, als hunderttausende Geflüchtete unkontrolliert nach Deutschland einreisten? Schaffen wir es noch einmal, tausende fremde Menschen aufzunehmen und zu integrieren? Wird der Wohnraum noch knapper, das Geld für öffentliche Investitionen in Schulen und Schwimmbäder noch weniger? Das fragen viele Menschen mit Recht. Manche reagieren jedoch erschreckend panisch. In der vorletzten Woche war ich mit einer kleinen Delegation auf der griechischen Insel Lesbos und habe gesehen, unter welch katastrophalen Bedingungen Menschen, darunter viele Kinder, in dem Flüchtlingslager Moria leben. Nach meiner Rückkehr hat sich die Situation dort und an der griechisch-türkischen Landgrenze noch zugespitzt. Ich habe dann in einem Zeitungsinterview gesagt, man müsse die besonders verwundbaren Menschen – allein reisende Kinder, Schwangere, Alte, Kranke – von der Insel in andere europäische Staaten, auch nach Deutschland, umsiedeln. Und ich habe meiner Zuversicht Ausdruck gegeben, dass unsere Gesellschaft diese geflüchteten Menschen noch verkraften kann. Viele Leser, darunter Christenmenschen, haben reagiert und kaum einer von ihnen teilte meine Hoffnung. Im Gegenteil, ich musste mir nicht nur Kritik, sondern auch Beleidigungen gefallen lassen. Pfarrer Selimian hat uns vorhin berichtet, wie die Gemeinde in Aleppo – selbst in Ängsten und seit Jahren in großer Gefahr – so voller Hoffnung ist, dass sie anderen Menschen in Not hilft. Sollte diese in Gott gegründete Hoffnung nicht auch uns, die wir in Frieden und Sicherheit leben, tragen und hilfsbereit sein lassen?
„Hoffnung lässt nicht zuschanden werden“, schreibt Paulus. Und schaut auf unsere Taufe zurück, als Gottes unverbrüchliche Liebe in unsere Herzen ausgegossen wurde. Und er schaut nach vorn: „Wir rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit, die Gott geben wird.“ Paulus ist davon überzeugt, dass die Welt weder bleibt wie sie ist, noch jämmerlich zugrunde geht. Ebenfalls im Römerbrief schreibt er: „Die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.“ (Röm 8, 21). Etwas anders und sehr eindrücklich kommt diese Hoffnung im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes, zum Ausdruck: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu.“ (Offb. 21, 4f.)
Liebe Schwestern und Brüder, seit vielen Monaten sind Freitag für Freitag junge Leute auf der Straße statt in der Schule. Sie beklagen die Erhitzung unseres Planeten, die sich schon heute auf der ganzen Welt spürbar auswirkt und nicht wenige Menschen zur Flucht zwingt. Sie klagen die Verantwortlichen an: Uns alle, die wir in unserer Gedankenlosigkeit und, ja, auch in unserer Gier die planetarischen Grenzen überschritten haben. Tatsächlich war es höchste Zeit für diesen unüberhörbaren Aufschrei und ich hoffe, dass Fridays für Future zu einem Umdenken in Gesellschaft und Politik führt. Eines allerdings finde ich wenig hilfreich. Beim Weltwirtschaftsforum 2019 in Davos rief Greta Thunberg den versammelten Größen aus Wirtschaft und Politik zu: „Ich will, dass ihr in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre.“ Ja, wir brauchen einen Weckruf. Aber Angst ist kein guter Ratgeber und Panik lähmt. Was jetzt geschehen muss, ist eine große Transformation unseres gesamten Lebensstiles, unseres Wirtschaftens und Konsumierens. Das ist eine riesengroße Aufgabe, die nicht Angst, sondern Besonnenheit erfordert, nicht Panik, sondern Nüchternheit. Wir Christen können besonnen und nüchtern sein, weil wir hoffen: „Wir rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit, die Gott geben wird.“ heißt es bei Paulus. Gott ist es, der dieser Welt ihr Ende setzen wird, und dieses Ende wird kein böses, sondern ein gutes Ende sein. Bis dahin gilt das Wort Dietrich Bonhoeffers: „Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“
Liebe Schwestern und Brüder, nun haben wir viel von der christlichen Hoffnung gehört und davon, welchen Mut und welche Kraft sie freisetzt. In unseren syrischen Glaubensgeschwistern, die unter Krieg und Terror leiden und in uns, die wir in Frieden leben dürfen, aber auch immer wieder geängstigt werden. Damit diese Hoffnung in uns wächst, brauchen wir Menschen, die sie bezeugen. Menschen wie den Apostel Paulus. Menschen wie unseren Gast Haroutune Selimian und seine Gemeinde in Aleppo. Oder Menschen wie Helmut James von Moltke. An ihn sei 75 Jahre nach Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft erinnert. Helmut James von Moltke war wegen seines Widerstandes gegen den Nationalsozialismus vom „Volksgerichtshof“ zum Tode verurteilt worden. Im Wissen um die bevorstehende Hinrichtung schildert er seiner Frau in einem Brief vom 10. Januar 1945 seine Empfindungen: „Mein Herz, zunächst muss ich sagen, dass ganz offenbar die letzten 24 Stunden eines Lebens gar nicht anders sind als irgendwelche anderen. Ich hatte mir immer eingebildet, man fühle das nur als Schreck, dass man sich sagt: Nun geht die Sonne das letzte Mal für Dich unter, nun geht die Uhr nur noch 2 mal bis 12, nun gehst Du das letzte Mal zu Bett. Von alldem ist keine Rede. (…) Wie gnädig ist der Herr mit mir gewesen! Selbst auf die Gefahr hin, dass das hysterisch klingt: ich bin nur voll Dank, eigentlich ist für nichts anderes Platz. Er hat mich die 2 Tage so fest und klar geführt: der ganze Saal hätte brüllen können, wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir gar nichts gemacht; es war wahrlich so, wie es in Jesaja 43,2 heißt: ‚Und so du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen und die Flamme soll dich nicht versengen…‘“ (Helmuth Caspar von Moltke und Ulrike von Moltke Hg: Helmuth James und Freya von Moltke, Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel September 1944-Januar 1945, München 2011, 475.)
Liebe Schwestern und Brüder, „Hoffnung lässt nicht zuschanden werden.“ Diese Gewissheit lasst uns mitnehmen – in die neue Woche, in unsere in vieler Hinsicht bedrückende Zeit, in unser Leben.