Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive
Eine Denkschrift des Rates der EKD, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2008, ISBN 978-3-579-05905-1
7. Wirtschaftliche und politische Verantwortung in Zeiten der Globalisierung
Der weltweit verschärfte Wettbewerb eröffnet Chancen und Risiken. Die Globalisierung und offene Märkte bieten Unternehmen weltweite Produktions- und Absatzchancen. Dies eröffnet ärmeren Ländern die Möglichkeit, von Investitionen ausländischer Unternehmen zu profitieren, offene Märkte zu nutzen und ihr allgemeines Sozial- und Wohlstandsniveau zu verbessern. In den entwickelten Industriestaaten führen solche Entwicklungen, die häufig mit Produktionsverlagerungen ins Ausland verbunden sind, zu Anpassungsproblemen und tief greifendem Strukturwandel, der eine entsprechende soziale Gestaltung erfordert. Es kommt darauf an, die Leitlinien der Sozialen Marktwirtschaft Schritt für Schritt weltweit tragfähig zu machen und damit eine gerechte Teilhabe aller zu ermöglichen. Den internationalen Arbeitsstandards kommt dabei wachsende Bedeutung zu.
- Die Globalisierung der Wirtschaft beeinflusst und bestimmt das unternehmerische Handeln in erheblichem Umfang. Handels-, Kapital-, Produkt- und Dienstleistungsmärkte sind zunehmend internationalisiert. Die Globalisierung hat zu einer Verschärfung des internationalen Wettbewerbs geführt. Das gilt gleichermaßen für Unternehmen wie für Standorte. Die internationale Arbeitsteilung und Vernetzung der Wirtschaft fordern Unternehmen wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern viel ab, sie bietet aber den Unternehmen zugleich die Chance, neue Märkte zu erschließen und ihre Produkte und Dienstleistungen weltweit anzubieten. Allerdings fordert dieser forcierte Wettbewerb zugleich einen ständigen Kampf um die eigene Wettbewerbsfähigkeit und setzt alle Beteiligten unter Druck, ständig besser, günstiger, schneller und innovativer zu sein als die Wettbewerber in aller Welt.
Diese Entwicklung erzwingt ständigen strukturellen Wandel. Einerseits hat die Globalisierung vor allem den Industrieländern, und ganz besonders der exportorientierten deutschen Wirtschaft, große Vorteile, zusätzliches Wachstum und gesamtwirtschaftlich zusätzliche Beschäftigung und Arbeit ermöglicht. Andererseits geraten aufgrund des strukturellen Wandels bestehende Arbeitsplätze unter Druck, wenn sie im internationalen Wettbewerb sich nicht als wettbewerbsfähig behaupten können. So sehr auf der einen Seite gerade Deutschland von der Globalisierung auch Beschäftigungspolitisch profitiert, so führt der Strukturwandel auf der anderen Seite im Rahmen der wachsenden internationalen Arbeitsteilung wie des Standortwettbewerbs zur Verlagerung von Arbeitsplätzen und Investitionen ins Ausland. Dabei sind diese Prozesse für die heimischen Unternehmen durchaus auch ein Mittel zur Sicherung des eigenen Standortes. Um das eigene Unternehmen und die in Deutschland vorhandenen Arbeitsplätze zu sichern, sehen sich viele gezwungen, internationale Arbeitsteilung zu nutzen und Produktionen zu verlagern. - Entscheidungen des Managements großer Unternehmen zu Produktionsverlagerungen können in Einzelfällen zu einer erheblichen Belastung für das vertrauensvolle Zusammenwirken zwischen Politik und Unternehmen führen. Der Staat hat für solche Prozesse klare gesetzliche Regelungen, z.B. im Rahmen der Betriebsverfassung, der Unternehmensmitbestimmung und des Arbeitsrechtes, geschaffen. Das ändert allerdings nichts an dem ohnmächtigen Gefühl, gegenüber den internationalisierten Entscheidungen in fernen Konzernzentralen machtlos zu sein, das vielfach entsteht. Insbesondere bei der Verlagerung von Betrieben oder Betriebsteilen ins Ausland, gerät die Politik vor Ort in die Defensive, wenn sie sich am Ende nur noch damit konfrontiert sieht, sich auf höhere Transferleistungen für schwer vermittelbare Arbeitslose einzustellen. Neben der Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen ist es deshalb eine unternehmerische Aufgabe, betriebswirtschaftlich begründete Verlagerungen auch öffentlich nachvollziehbar zu vermitteln. Wenn Unternehmen hohe Gewinne erwirtschaften und gleichzeitig Produktionsverlagerungen vornehmen, obwohl unter Umständen auch in den betroffenen Teilen dieses Unternehmens noch schwarze Zahlen geschrieben werden, ist dies in der Regel für Arbeitnehmer und Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar. Zwar kann es durchaus sein, dass gleichwohl im Sinne einer vorsorgenden Unternehmensentscheidung zur Sicherung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und der Arbeitsplätze sowie einer nachhaltigen Entwicklung des Unternehmens solche Entscheidungen notwendig sind, sie müssen dann aber umfassend innerhalb der Unternehmen und auch öffentlich begründet werden, damit nicht Ängste und Sorgen sogar in Unternehmen um sich greifen, die eine gute Markt- und Ertragsposition vorweisen. Zu einem rechtzeitig eingeleiteten Krisenmanagement gehört Transparenz über die Gründe für derartige Unternehmensentscheidungen.
- Der weltweite Wettbewerb um Arbeitsplätze und Investitionen erfasst alle Rahmenbedingungen und Standortfaktoren und ganz besonders die Kosten der Produktion am jeweiligen Standort. Die Lohnhöhe ist in diesem Zusammenhang ebenso wie andere Kostenfaktoren für die Unternehmen ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. Deutschland ist und bleibt ein Hochlohnland. Es ist deshalb unvermeidlich, dass arbeitsintensive Produktionen zu einem erheblichen Teil verlagert worden sind. Mittlerweile erreicht der Standortwettbewerb aber auch höchst qualifizierte Arbeitsplätze, weil weltweit das Qualifikationsniveau zunimmt, in Deutschland ein zunehmender Mangel an qualifizierten Fachkräften besteht und das Angebot an hoch qualifizierten Kräften, wie Ingenieuren, in anderen Erdteilen mit günstigen Standortfaktoren zunimmt.
Gleichwohl hat sich der Standort Deutschland gerade im Zuge der zunehmenden Globalisierung und des verschärften weltweiten Wettbewerbs als wettbewerbsfähig erwiesen. Die großen Anstrengungen der Unternehmen, verbunden mit erheblichen Anpassungsprozessen und zusätzlichen Anstrengungen der Beschäftigten, einer gemäßigten Lohnentwicklung in den letzten Jahren und die verbesserten staatlichen Rahmenbedingungen haben dazu beigetragen, dass vor allem die exportorientierte Industrie unseres Landes weltweit führend ist. Insofern profitiert Deutschland auch was Beschäftigung und Wohlstand angeht nach wie vor in hohem Maße von der Globalisierung. Im Blick auf den Niedriglohnsektor allerdings hat der zunehmende Wettbewerb mit Nachbarländern die Tendenz, die schützenden Lohnstrukturen in den nationalen Systemen aufzuweichen. Damit geraten die Löhne der gering Qualifizierten unter Druck, so dass am Ende Arbeitslosigkeit oder das Abdrängen in den so genannten informellen Sektor stehen können. Die Hoffnungslosigkeit der so genannten Globalisierungsverlierer wie auch der wachsende Druck in der Mittelschicht gehen mit der Sorge einher, den Herausforderungen und Risiken der Globalisierung auf Dauer nicht gewachsen zu sein oder in den damit einhergehenden Prozessen Wohlstand und soziale Sicherheit einbüßen zu müssen. - Im Zuge der internationalen Verflechtungen von Unternehmen und des Niedergangs herkömmlicher Arbeitsbeziehungen sind die meisten Länder mit dem Problem des gesellschaftlichen Zusammenhalts konfrontiert. Nationalstaatliche und europäische Regelungen stoßen angesichts der globalen Vernetzung der Wirtschaft auf Grenzen. Dies hat zu heftigen Auseinandersetzungen über die gesellschaftliche und demokratische Kontrolle der Globalisierung geführt. Auch aus christlichen Motiven und unter der Beteiligung von Kirchen sind "Anti-Globalisierungs-Initiativen" in der weltweiten Zivilgesellschaft entstanden, die zunehmend Artikulationskraft gewinnen. Eine öffentliche Debatte über die Chancen, Risiken und Regelungsmöglichkeiten der wirtschaftlichen Globalisierung ist deshalb dringend nötig und muss in der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Interessen und Argumenten geführt werden. Dabei müssen die Interessen der Verlierer der Globalisierung in den Mittelpunkt gerückt werden, damit gemeinsam neue Wege der Teilhabegerechtigkeit erarbeitet werden können.
- Vor allem arbeits- und lohnintensive Produktionen sind in erheblichem Umfang in kostengünstigere Standorte Europas und anderer Kontinente verlagert worden. Dass dort durch Investitionen aus dem Ausland Arbeitsplätze geschaffen werden, bedeutet für diese Länder große Entwicklungschancen. Auslandsinvestitionen ermöglichen steigendes Wachstum, wachsenden Wohlstand, einträgliche Arbeit, höhere Sozialstandards und nachhaltiges Wirtschaften, bessere Bildung und ein höheres Lebensniveau für die Menschen. Diese wirtschaftliche Entwicklung muss so gesteuert werden, dass sie mit Demokratie und Menschenrechten nicht nur vereinbar ist, sondern zu deren Verwirklichung beiträgt. Freizügigkeit, Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie die Achtsamkeit gegenüber kulturellen Unterschieden. In diesem Sinne dürfen globale Unternehmen die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen nicht scheuen. Die europäischen Unternehmen tragen dafür bei ihrem internationalen Engagement eine besondere Verantwortung. Eine Ausbeutung von Rohstoff en und Arbeitnehmern bis zur Gefährdung demokratischer Strukturen in den am wenigsten entwickelten Ländern durch internationale Finanz- und Rohstoffspekulation ist ethisch nicht zu rechtfertigen.
- Gerade weil die nationalen Regelungsmöglichkeiten und die internationalen Institutionen nur begrenzt die Rahmenbedingungen für die Globalisierung bestimmen können, ist die Verantwortung für die unternehmerische Gestaltung umso höher. Unternehmen, die im Ausland investieren und produzieren, sollten dies nicht nur als Chance zur Erschließung von Märkten und zur Nutzung der internationalen Arbeitsteilung mit günstigen Standortbedingungen begreifen, sondern auch ihre Verantwortung für soziale, ökologische und demokratische Entwicklungen verstehen. Die Politik muss einerseits den ihr zur Verfügung stehenden Spielraum so gestalten, dass es für internationales Investitionskapital attraktiv bleibt, hier zu investieren; andererseits muss sie aber auch Einfluss auf die Gestaltung weltweiter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen nehmen. In dieser Hinsicht kommt der Zusammenarbeit auf der Ebene der EU immer größere Bedeutung zu.
- Zur sozialen Gestaltung der fortschreitenden Globalisierung bedarf es weltweit gültiger Spielregeln. Dabei sollte das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft die globalisierten Entwicklungen auch international prägen. Es geht darum, Kriterien der gerechten Teilhabe aller bzw. der sozialen Inklusion weltweit zu verankern. Dies kann z.B. über die Welthandelsorganisation (WTO), internationale Verabredungen zwischen den Industrienationen und die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) geschehen. Die in der IAO seit 1918 auf weltweiter Ebene von Regierungen, Arbeitgebern und Gewerkschaften erarbeiteten internationalen Arbeitsnormen erfassen alle wesentlichen Bereiche der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Bei Ratifizierung durch die Mitgliedsstaaten erhalten diese Arbeitsnormen rechtliche Verbindlichkeit auf nationaler Ebene. Ihre praktische Umsetzung wird in regelmäßigen Abständen durch eine umfassende Berichterstattung geprüft. In der 1998 verabschiedeten Grundsatzerklärung für grundlegende Arbeitnehmerrechte werden verstärkte Aktivitäten der Mitgliedsregierungen der IAO zur Umsetzung dieser Standards begründet. Dabei geht es um die Respektierung von Gewerkschaftsrechten, der Tarifvertragsfreiheit, der Abschaffung von Zwangsarbeit, dem Abbau der Kinderarbeit und der Nicht-Diskriminierung.
- Die Einhaltung grundlegender Arbeitnehmer- und Menschenrechte entspricht dem christlichen Bild des Unternehmerhandelns und hat erhebliche praktische Konsequenzen vor allem für die unternehmerische Tätigkeit von Tochterfirmen und Zulieferer in Entwicklungsländern. Dies sind wesentliche Voraussetzungen für die Bekämpfung sowohl der Ausbeutung der Arbeitnehmer in weniger entwickelten Ländern wie auch des zunehmenden Drucks auf Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen in Industrieländern. Soweit ein Staat Übereinkommen der IAO nicht ratifiziert und in geltendes nationales Recht überführt, sind multinationale Konzerne deswegen gehalten, die wesentlichen Standards zum Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie die sonstigen Arbeitsbedingungen auch in diesen Ländern zu erfüllen, soweit sie damit nicht gegen die jeweiligen geltenden Gesetze verstoßen.
- Offene Märkte sind ein Gebot internationaler sozialer Gerechtigkeit. Der WTO und der Welthandelsordnung sowie anderen zwischenstaatlichen und internationalen Abkommen kommen mit der Globalisierung eine wachsende Bedeutung zu. Soweit Industrieländer ihre Märkte für bestimmte Rohstoffe oder landwirtschaftliche Erzeugnisse aus Entwicklungsländern abschotten, muss im Rahmen der Welthandelsordnung auf eine Änderung hingewirkt werden. Allen Ländern sollte der gleiche Zugang zum Weltmarkt ermöglicht werden. Wo die meisten Entwicklungsländer Exportinteressen haben, verhalten sich die Industrieländer protektionistisch; sie wollen die wenigen heimischen Industrien vor überlegener ausländischer Konkurrenz schützen und die in vielen dieser Länder weiterhin drohende De-Industrialisierung stoppen. Die Industrieländer, die gesamtwirtschaftlich vom freien Handel profitieren, fordern dagegen eine breite Marktöffnung von den Ländern des Südens für Investitionen im Dienstleistungsbereich (Wasser, Energie, Finanzdienstleistungen) oder für ihre Exportprodukte. Sie dürfen sich deshalb auch nicht darüber beklagen, wenn im Rahmen des Welthandels Produkte, Güter und Dienstleistungen aus ärmeren oder weniger entwickelten Ländern in Industrieländer importiert werden, auch wenn Arbeitsplätze in den Industrieländern dadurch verdrängt werden. Im Rahmen der Welthandelsordnung muss darauf hingewirkt werden, dass die noch bestehenden Handelsbarrieren fallen. Zugleich müssen die Industrienationen den Entwicklungsländern helfen, sich auf offene Märkte vorzubereiten. Offene Märkte stellen gerade für die Entwicklungsländer eine große Chance dar und sind ein wichtiger Baustein für die Entwicklung von sozialer Sicherheit und Bildung für breite Schichten.
- Zu einer menschengerechten Gestaltung der Globalisierung gehört auch die Verantwortung der Wirtschaft für die Lebenschancen der kommenden Generationen. Die Prinzipien der Nachhaltigkeit müssen in allen Wirtschaftsprozessen, in Produktion und Konsum, verankert werden. Dabei sollte stets das Vorsorgeprinzip Beachtung finden. Der Ressourcen- und Klimaschutz muss konsequent vorangetrieben werden. Hierzu gehören ein rationeller und effizienter Einsatz von Energie, die Vermeidung des Raubbaus an der Natur bei der Gewinnung von Rohstoff en sowie eine schöpfungsgemäße und nachhaltige Landwirtschaft, wie sie in der EKD-Schrift "Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft" von 2003 gefordert wird.
- Die ethische Verpflichtung der Unternehmen ist nicht auf das unmittelbare unternehmerische Handeln beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf die verantwortliche Mitwirkung an der Entwicklung wohlgeordneter Rahmenbedingungen, die notwendige Voraussetzung für eine funktionierende und faire Unternehmenstätigkeit sind. Die den bürgerlichen Tugenden entsprechende unternehmerische Verantwortung bezieht sich zunächst auf die Einhaltung des nationalen ordnungspolitischen, wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen gesetzlichen Rahmens. Global tätige Unternehmen sollten darüber hinaus auch an der Etablierung einer ethisch begründeten globalen Rahmenordnung und entsprechender internationaler Institutionen mitwirken. Insbesondere tragen transnational tätige Unternehmungen auch Verantwortung für eine Globalisierung der Menschenrechte.