Auslegung der Jahreslosung 2022
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ (Johannes 6,37)
Die Ratsvorsitzende der EKD, Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“, sagt Christus. Und: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid.“ Und: „Lasst die Kinder zu mir kommen und hindert sie nicht.“ Und, und, und – immer ist die Botschaft: Keiner wird weggeschickt. Keine wird abgewimmelt. Niemand bleibt außen vor.
Zur Zeit erfahren und tun wir selbst überall das Gegenteil: Dichtmachen, Mauern bauen, Brücken abbrechen, Grenzen sichern, Abwehr stärken. Ist dieses Aufeinandertreffen Zufall? Anders als die täglichen Losungsworte wird eine Jahreslosung nicht ausgelost, sondern in einem langen Prozess demokratisch gefunden, von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen. An die fünfzig Vorschläge werden diskutiert und beraten, bis endlich per Wahl eine Entscheidung fällt. Menschen suchen ein Wort Gottes aus, von dem sie meinen: Dieses Wort ist jetzt dran. Man kann das kritisch sehen: Wird Gottes Wort hier benutzt?
Zugleich: Ist es nicht mit jedem biblischen Leitwort so, das wir sorgsam auswählen: Für Kirchentage etwa – oder an den markanten Zäsuren und Übergängen unseres persönlichen Lebens? Zur Taufe, zur Konfirmation, zur Trauung? Wir wählen ein biblisches Wort als Begleiter, weil wir darauf hoffen: Es hat seine eigene Stimme, seine eigene wundersame Kraft, die uns zum Leben hilft. Es mischt sich ein in den aktuellen Jammer der Welt und in die Erfahrungen meines eigenen kleinen Lebens. Steht immer wieder auch heilsam quer zur allgemeinen Stimmungslage. Stört mich selbst in dem, was ich immer schon dachte und zu wissen meinte.
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“, sagt Christus. Diese Übersetzung verwischt, was er eigentlich sagt: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.“ Ein abgewendeter Rauswurf. An seinem Ort im Johannesevangelium ein klares Wort Jesu an diejenigen, die bereits „drin“ sind und sich in seiner Nähe sicher wähnen, gewissermaßen „seine Leute“. Ein Wort an uns, die wir jetzt, zum Jahreswechsel, seine Nähe suchen. Der Blick zurück auf ein zu Ende gehendes Jahr prägt die Ausschau auf das, was kommen mag; jede versuchte Antwort ruft neue Fragen auf den Plan. Auch Fragen nach Gott, Fragen an Gott. Krankheit und Tod, Endlichkeit und Ohnmacht und Schuld können wir schon lange nicht mehr als tragische Abweichung vom „Normalen“ begreifen. Sie toben sich aus in der Mitte des Lebens und rücken uns hautnah auf den Leib. Tagtäglich. „Wer zu mir kommt“: Die Jahreslosung meint Sie und mich, wie wir auf der Schwelle des neuen Jahres zu Christus kommen: Gezeichnet und zerrupft, erschöpft und ungeduldig. Auch im Glauben erschüttert. Und plötzlich wird mir bewusst, er sagt es tatsächlich zu mir. Er macht mir klar: Du bist hier, bei mir, weil ich dich hier will. Immer noch und jetzt erst recht. Du fliegst hier nicht raus, weil ich das Entscheidende für dich und die Welt längst getan habe. Du darfst hier bleiben trotz deines manchmal so elend unbeholfenen, so erschütternd ratlosen und bisweilen auch reichlich selbstverliebten Eilens von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. „Ich werde dich nicht hinausstoßen“: Dieses göttliche Versprechen stellt mich aufrecht und wach in die Gegenwart. Denn wenn ich tatsächlich da bleiben darf, bei Christus, dann gehen mir die Augen auf dafür, wobei es in dieser Welt um Gottes und der Menschen willen nicht bleiben darf. Ich kann den nüchternen Blick wagen – und muss beherzte Taten und Zeichen riskieren: Türen aufmachen, auf die Straße gehen, bei den Ungeliebten sein, Hassgeschrei entgegentreten. Machen Sie mit? Gott schenke uns ein gesegnetes Jahr 2022.
Gebet
Danke, Jesus Christus, dass du mich nicht hinausstößt aus deiner Nähe. Trotz allem. Hilf mir, dass aus meinem Staunen darüber Mut wächst.
Mut, um zu sagen und zu tun, was Türen und Herzen öffnet. Amen.
Auslegung der Jahreslosung 2022
Horst Gorski, Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD und Leiter des Amtes der VELKD
Von dem großen Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Barth, wird eine Anekdote berichtet: Eine Frau sprach ihn nach einem Gottesdienst an, in dem er über das ewige Leben gepredigt hatte. „Verehrter Herr Professor Barth, Sie als großer Theologe müssen es doch wissen: Werde ich im Jenseits meine Lieben wiedersehen?“ Darauf Karl Barth: „Ja, aber die anderen auch!“
Es ist nicht überliefert, mit welchem Gesichtsausdruck die Dame reagierte. Vermutlich hat sie verblüfft, vielleicht auch ein wenig unglücklich ausgesehen. Wer weiß, wer alles vor ihrem inneren Auge stand!
Die Frage, wer am Ende bei Gott angenommen wird und wer nicht oder ob vielleicht doch alle, diese Frage hat die Menschen schon zur Zeit des Neuen Testamentes beschäftigt. Das Matthäusevangelium mit seinem Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen vertritt eine „harte“ Linie: Die zehn törichten Jungfrauen, die kein zusätzliches Öl für ihre Lampen bereithielten, falls der Bräutigam sich verspätet, müssen vor der Tür bleiben. Matthäus spricht sogar drohend von „Heulen und Zähneklappern“, das über die kommen wird, die nicht zugelassen werden (Matthäus 25,1-13). Das Johannesevangelium lässt die Frage offener. Denn obgleich hier Jesus als Weg und Wahrheit (Johannes 14,6) beschrieben wird, so heißt es bei Johannes auch, dass Jesus nicht gekommen ist, die Welt zu richten, sondern zu retten (Johannes 3,17).
Die Jahreslosung 2022 ist, wie man sieht, keine leichte Kost. Sie tröstet, aber sie spricht im Hintergrund die große Thematik von Gericht und Gnade an. Das Wort vom „abweisen“ stellt in unserer Zeit zudem aktuelle Bezüge her: Flüchtlinge und Migranten werden an den Grenzen der EU abgewiesen. Die Corona-Auflagen führen dazu, dass Besuche in Krankenhäusern und Altenheimen nur unter hohen Auflagen möglich sind. Die Einreise in viele Länder ist nicht oder nur mit hohen Hürden möglich. Und die Stimmung in der Gesellschaft und auch in den Kirchen ist voller Spannung, oft gereizt, müde oder wütend. Was soll man mit Gericht und Gnade anfangen? Ein Ort zum Ausruhen und Kraftschöpfen wäre gut. Und zwar ein Ort, zu dem wir ohne Auflagen zugelassen sind, ohne mit Maske vor dem Gesicht und beschlagener Brille Bescheinigungen und unseren Personalausweis hervorkramen zu müssen.
Es wäre sicher ein bisschen zu schlicht gedacht, sich den Himmel als einen Ort ohne Masken und ohne Zutrittsbescheinigungen vorzustellen. Aber die Richtung dieser Sehnsucht stimmt schon. Der Himmel ist unser Heimatland, aus dem wir stammen und zu dem wir zurückkehren. Die Einlassbeschränkung, die es dort gibt, kann man wohl so beschreiben: Wer mit ganzem Herzen auf Gott vertraut und sich wünscht, dorthin zurückzukehren, der wird nicht abgewiesen.