Herausforderungen evangelischer Bestattungskultur
2004
Herausforderungen evangelischer Bestattungskultur
Ein Diskussionspapier
Vorwort zur Handreichung zum Thema Bestattungskultur
An wenig anderen Stellen sind Pfarrerinnen und Pfarrer dem „kirchlichen Kerngeschäft“ so nahe wie bei der Bestattung. Viele Menschen trauen der Kirche an dieser Stelle sehr viel zu, sie erhoffen sich gute seelsorgerliche Begleitung und würdige Trauerfeiern, und selbst der Kirche sehr entfremdete Menschen suchen in der Situation des Abschiedes die Nähe der „fremden Heimat Kirche“.
Zugleich aber macht sich im Umfeld der Bestattungskultur in unserem Land eine Art „tektonische Verschiebung“ bemerkbar. Denn die Liberalisierung des Bestattungswesens führt zu erheblichen Veränderungen bis hin zu völlig neuen Angebotsformen wie z. B. den sog. Friedwäldern. Die Erwartungen an eine Beerdigung und an die (Mit-)Gestaltungsformen wandeln sich, sie sollen individueller, persönlicher und selbstbestimmter werden. Hinzu kommt, dass es „das“ Verständnis vom Tode in einer pluralen Welt nicht mehr gibt, sondern eine Fülle von verschiedenen Abschiedsund Jenseitsvorstellungen, die z. T. noch christlich geprägt, z. T. aber auch gänzlich unabhängig davon sind. Die Individualisierung der Trauerkulturen und ihr Geschwisterkind, die Pluralisierung der Gestaltungsformen, sind für die Kirche keine rein defizitären Entwicklungen, sondern enorme Herausforderungen, die die Sehnsucht nach persönlichen Abschiedsformen spiegeln. Der Wunsch nach Mitbegleitung, Mitgestaltung und Mitbestimmung bei den Bestattungsfeiern ist nicht nur Ausdruck einer Überindividualisierung oder Egozentrik, sondern Ausdruck eines Widerstandes gegen die Anonymisierung des Sterbens und der Bestattung.
Pastorinnen und Pastoren der evangelischen Kirche sind an dieser Stelle in den nächsten Jahren unerhört gefordert, sie haben aber zugleich ungeahnte Chancen. Natürlich agieren sie auf einem stark umkämpften Markt der Angebote und Werte, aber sie haben eine außerordentlich gute Ausgangsposition. Daher wird alles darauf ankommen, dass die evangelische Bestattungspraxis zugewandt, persönlich und seelennah wird, ohne das Zeugnis des Auferstehungsglaubens zu vernachlässigen. Die Pfarrerinnen und Pfarrer müssen wachsam sein für die spezifischen Bedürfnisse der Angehörigen und trotz mancher Routine neugierig bleiben auf die individuellen Situationen, sie müssen sich in die kulturell sehr unterschiedlichen Milieus der jeweiligen Trauergemeinden einfühlen und doch gerade dabei die Wahrheit des Evangeliums aussagen. Die Zukunft unserer Kirche – dies zeigt die neue Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, deren erste Ergebnisse unter dem Titel „Kirche – Horizont und Lebensrahmen“ veröffentlicht wurden – entscheidet sich nicht zuletzt an einer solchen glaubwürdigen und individuell zugewandten Gestaltung der kirchlichen Kasualpraxis. Denn bei Bestattungen ist es – ebenso wie bei Taufen, Trauungen, Konfirmationen – wie im Zugverkehr: Eine einzelne Verspätung richtet mehr „Imageschaden“ an als 50 pünktliche Bahnfahrten. So ungerecht das ist, so sehr gehört es zur ehrlichen Selbstwahrnehmung, diese Einsicht anzunehmen und entsprechend die Kapazitäten einzusetzen.
Deswegen wird vieles auch davon abhängen, dass es gute und intensive Kontakte zu den Bestattungsunternehmen im jeweiligen Umfeld gibt und dass auch so leidige Themen wie die Erreichbarkeit der Pfarrerinnen und Pfarrer im Trauerfall professionell, gut und gemeinschaftlich gelöst werden. Allerdings ist auch die Solidarität der Gesamtkirche gefragt, die die Aus-, Fort- und Weiterbildung in diesem Bereich verstärken sollte, denn nur so haben die Pastorinnen und Pastoren vor Ort eine Chance, Neubesinnung und Neuentdeckungen in diesem sehr dynamisch gewordenen Feld der Trauerbegleitung und der Bestattungskultur wahrzunehmen.
Diese Handreichung versucht – ausgehend von dem ersten neu gefassten Bestattungsgesetz in Nordrhein-Westfalen –, einige historische und theologische Grundentwicklungen zu benennen, damit die Herausforderungen kenntlich werden, vor denen unsere evangelische Kirche heute steht. Auf diese Weise soll Mut gemacht werden, diese gewichtige Herausforderung mit Zuversicht anzunehmen.
Herausforderungen evangelischer Bestattungskultur
Ein Diskussionspapier
A. Änderungen der Bestattungsgesetzgebung am Beispiel Nordrhein-Westfalens
1. Das Bundesland Nordrhein-Westfalen hat am 4. Juni 2003 als erstes Bundesland ein neues Bestattungsgesetz mit dem Titel „Gesetz über das Friedhofsund Bestattungswesen“ (Bestattungsgesetz – BestG-NRW) beschlossen. Nicht zuletzt aufgrund der deutlichen Kritik beider Kirchen sieht das nun erlassene Gesetz – im Gegensatz zum ersten Gesetzesentwurf – keine Aufhebung des Friedhofszwanges für Urnen vor, so dass eine von den Kirchen befürchtete radikale Individualisierung der Urnenaufbewahrung bis hin zur so oft zitierten „Urne auf dem Kaminsims“ auch zukünftig nicht erlaubt ist. Die evangelische Kirche kann daher trotz mancher bleibender Bedenken durchaus zufrieden sein, insofern mit dieser Gestalt des Gesetzes nicht nur einige ihrer zentralen Einwände berücksichtigt wurden, sondern das Gesetz auch manche alten Forderungen der Kirche erfüllt, z. B. erweiterte Bestattungsmöglichkeiten bei Tot-, Früh- und Fehlgeburten. Darüber hinaus öffnet sich das neue Gesetz für die besonderen Bestattungsrituale anderer Religionen, indem es z. B. auf den Sargzwang auf dem Friedhof verzichtet. Insgesamt wird man daher sagen können, dass das neue Bestattungsgesetz NRWs eine akzeptierbare Entwicklung der Bestattungskultur in Deutschland einläutet, die einerseits die von der Öffentlichkeit geforderte und erwünschte Individualisierung und Pluralisierung aufnimmt, ohne andererseits die öffentliche Dimension der Bestattung beunruhigend zu schwächen. Die Kirchen können daher das neue Bestattungsgesetz insgesamt würdigen als Versuch, einen auch für die Kirchen tragfähigen Kompromiss zu formulieren. Die folgende Ausarbeitung kann als eine erste Orientierung für kirchliche Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen dienen, wenn in anderen Bundesländern ebenfalls neue Gesetzesentwürfe zum Bestattungswesen in der Diskussion sind.
2. Das neue NRW-Gesetz enthält drei wesentliche Veränderungen gegenüber der bisherigen Praxis:
a) Das „Gesetz über das Friedhofs- und Bestattungswesen“ der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen vereinheitlicht unterschiedliche gültige Regelungen innerhalb Nordrhein-Westfalens und öffnet das Friedhofs- und Bestattungswesen mehr als bisher dem freien Wettbewerb, wobei es allerdings im Rahmen öffentlich-rechtlicher Friedhofsbetreibung lediglich sog. „funktionelle Teilprivatisierung“ kennt. Auf dem „Bestattungsmarkt“, auf dem jährlich etwa 8 Milliarden Euro umgesetzt werden, kann nun deutlicher Konkurrenz auftreten. Dies wird die kirchlichen Friedhöfe und die kirchlichen Einnahmen ebenso wenig unberührt lassen, wie es für viele Gewerbetreibende im Umfeld der Bestattungen (Steinmetze, Blumenläden, Gärtnereien usw.) erhebliche Umstellungen geben, aber auch manche neue Marktchance eröffnen wird. Die argumentative Verknüpfung solcher kommerziellen Interessen bzw. Sorgen mit theologischen und gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten sollte allerdings vermieden werden. Im Kern werden die Kirchen an dieser Stelle vor allem auf zwei Dinge zu achten haben: einmal darauf, dass sie durch die an sich wünschenswerten Genehmigungsvorbehalte der örtlichen Ordnungsbehörden keine Wettbewerbsnachteile erleiden insofern, als die örtlichen Genehmigungsbehörden oftmals zugleich als eigene Friedhofsträger Mitbewerber sind (siehe z. B. die Sollvorschrift für Friedhofsträger zur Vorhaltung einer Leichenhalle, § 1 Abs. 3, was viele kleine kirchliche Friedhofsträger nicht leisten können); zum anderen darauf, dass selbst „bei Sozialbestattungen nicht ausschließlich Kostengründe über die Bestattungsart entscheiden“ (aus dem ökumenischen Brief der Leitenden Geistlichen in NRW), sondern die Willensbekundung des Verstorbenen berücksichtigt wird (§ 12 Abs. 2).
b) Das NRW-Gesetz hält am Bestattungszwang auf Friedhöfen fest (vgl. § 14 Abs. 1) und kennt nur genehmigungspflichtige Ausnahmen. Zu würdigen ist der Versuch des NRW-Gesetzes, die „Ehrfurcht vor den Toten“ bzw. die „Totenwürde“ zu schützen und zu bewahren (§ 7 Abs. 1), denn damit ist ein zwar etwas unscharfer, aber durchaus kirchenkompatibler Begriff als Grundwert eingeführt. Darüber hinaus eröffnet das NRW-Gesetz die von den Kirchen lange geforderte Pflicht für alle Träger von Entbindungsstationen, dass mindestens ein Elternteil auf die Möglichkeit der Bestattung einer Tot-, Fehloder Frühgeburt hingewiesen wird (vgl. § 14 Abs. 2). Ähnlich entgegenkommend ist auch die Bestattungspflicht zu sehen, insofern es ausdrücklich verboten ist, Leichenteile, Tot- oder Frühgeburten als sog. „Klinikmüll“ zu behandeln; sie müssen „ohne Verletzung des sittlichen Empfindens der Bevölkerung verbrannt“ werden (siehe § 8 Abs. 2). Gewürdigt werden kann auch die Bemühung, den Hinterbliebenen mehr Mitsprache- und Mitgestaltungsrechte zu geben. So wird ausdrücklich festgehalten, dass Verstorbene bis zu 36 Stunden in den Sterberäumen verbleiben dürfen (§ 11 Abs. 2); eine häusliche Aufbahrung und Aussegnung wird also leicht ermöglicht (nur 22,4 % aller Hausärzte kennen diese Regelung und kaum jemand empfiehlt sie). Darüber hinaus berücksichtigt die Aufhebung des Sargzwanges für Friedhofsbestattungen die Riten nichtchristlicher Religionsgemeinschaften; ein Einwickeln des Leichnams in Tücher ist nun möglich und kommt den Beerdigungsritualen des Islams sehr entgegen (§ 4 Abs. 1): „Die Friedhofsträger regeln durch Satzung ... die Durchführung der Bestattung ...“ Insgesamt aber bemüht sich § 7 Abs. 2 des NRW-Gesetzes festzulegen, dass Bestattungen „unter Berücksichtigung des Empfindens der Bevölkerung“ vorgenommen werden sollten. Dies ist zwar ein unbestimmter Rechtsbegriff und als solcher ein auslegungs- und entwicklungsfähiger Begriff; aber er ist durchaus auch christlich kompatibel, insofern darin der paulinische Gedanke von der Rücksicht auf die schwächeren Gewissen erkannt werden kann.
c) Die noch im Entwurf des Gesetzes vorgesehene und öffentlich umstrittene Aufhebung des Friedhofszwangs für Urnen ist im neuen Gesetz erheblichen Einschränkungen unterworfen. Die in einem „dauerhaft versiegelten Behälter“ nach eindeutiger Zuordnung gesammelte Asche ist „auf einem Friedhof beizusetzen“ (§ 15 Abs. 5). Lediglich für den Transport darf eine Urne den Hinterbliebenen (Beauftragten) ausgehändigt werden; ein Missbrauch dieser Regelung ist eine Ordnungswidrigkeit. Darüber hinaus dürfen die örtlichen Behörden ein Verstreuen der Asche außerhalb eines Friedhofes nur dann genehmigen, wenn
- der entsprechende Wunsch des Verstorbenen nachgewiesen wird,
- der Behörde nachgewiesen wird, dass es bodennutzungsrechtlich zulässig ist, und
- der Beisetzungsort „dauerhaft öffentlich zugänglich“ ist und nicht „in einer der Totenwürde widersprechenden Weise genutzt“ wird (§ 15 Abs. 6).
Damit sind alle radikal individualistischen Bestattungsorte und -ideen (der eigene Garten hinterm Haus oder die Vitrine im Wohnzimmer) ausgeschlossen, nicht aber Konzeptionen wie Friedwälder oder Ähnliches. Darüber hinaus sind – ähnlich wie bei längst etablierten Seebestattungen – wohl auch besondere landschaftliche Orte zum Verstreuen der Asche denkbar, nicht aber das Fußballfeld des Lieblingsvereins oder die Verkehrskreuzung als Erinnerung an den Todesort. Insgesamt ist diese Bestimmung zweifellos eine offene und gestaltbare Regelung, mit der es nun Erfahrungen zu sammeln gilt, wobei der vergleichende Blick auf andere europäische Länder mit weiter gehender Liberalisierung des Bestattungsgesetzes allerdings nicht den Schluss zulässt, dass es unvermeidlich zu entwürdigenden Umgangsformen mit Urnen oder Asche komme. Denn obwohl z. B. in Holland der Bestattungszwang für Urnen lange schon aufgehoben ist, wird diese Möglichkeit nur in 1 % der Fälle genutzt. Die Frage aber, wie die gefundenen Regelungen zu kontrollieren seien, ist eine zwar von den Kirchen zu stellende, aber von den örtlichen Genehmigungsbehörden zu lösende Frage. Dabei sollten aber die Chancen einer solchen relativen Öffnung nicht verkannt werden: Es bietet sich die Möglichkeit, die sich verstärkende Sehnsucht nach individuellen, familiennahen und persönlichen Erinnerungsorten aufzunehmen und eine christliche Begleitung solch individueller Bestattungswünsche denkbar zu machen. So vermeidet die Kirche den Eindruck, dass allein schon die Wahl eines alternativen Ortes per se eine antikirchliche Entscheidung sei.
3. Das neue NRW-Gesetz kann man vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen als Ausdruck der Pluralisierung in diesem Themenfeld verstehen. Das traditionell prägende christliche Monopol im Bestattungsbereich tritt zurück. Die Pluralisierung der Bestattungsrituale verlässt z. T. gänzlich den Rahmen der christlich geprägten Kultur und öffnet sich für die Kulturen anderer Hochreligionen ebenso wie für individualistische Varianten und Vorstellungen. Das Gesetz eröffnet eine Stärkung der Entscheidungshoheit der Verstorbenen und der Hinterbliebenen, wobei gerade in der nun beschlossenen Form die öffentlich geschützte „Totenwürde“ keineswegs aufgegeben wird. Eine Blick auf das europäische Umfeld zeigt, dass diese Tendenz zur Privatisierung und Individualisierung der Bestattungskultur in vielen Ländern deutlich weiter vorangeschritten ist. Das NRW-Gesetz nimmt die durchaus auch von Christen gewünschte größere individuelle Gestaltungsmöglichkeit bei der Bestattung auf, ohne eine generelle Aufhebung des Friedhofs- und Bestattungszwangs vorzunehmen. Die damit eingeleitete verstärkte Rückkehr des Verstorbenen in die Hände der Familien bzw. der Hinterbliebenen kann dabei auch als Wendung gegen jene kühle Professionalität verstanden werden, die die Trauerkultur der Moderne auszeichnet. Die faktische öffentliche Bestattungskultur ist jedenfalls in den Ballungszentren oft geprägt von einer höchst effektiven, hygienisch perfekten und atmosphärisch sterilen Trauer(un)- kultur. Die Individualisierung der Bestattungsformen kann daher auch als ein Stück Abkehr von der verbreiteten Delegation des Themas Tod und Sterben an eine anonyme, professionelle und durchrationalisierte Öffentlichkeit der Krankenhäuser, Heime und Bestattungsinstitute gelesen werden. Die christlichen Kirchen können darin Intentionen realisiert erkennen, die sie selbst lange Zeit angemahnt haben.
B. Grundlegende Erwägungen zum Thema Bestattungskultur in unserer Zeit
1. Die Feuerbestattung ist im späten 19. Jahrhundert (erstes Krematorium: Gotha 1878, dann Heidelberg 1891, dann Hamburg 1892) eingeführt worden und das vollkommene Spiegelbild des Industriezeitalters; sie ist hygienisch, raumsparend und preiswert. Zum Durchbruch verhalfen der Kremation vier Aspekte:
a) das rapide Bevölkerungswachstum,
b) die hygienischen Probleme der Großstädte, die ihre Innenstadtfriedhöfe aus der Stadt legen wollten,
c) die „Entzauberung des Todes“ und die entsprechende pragmatische und rationalistische Einstellung zum Tode und
d) die Beseitigung von Missverständnissen im Glauben an die „Auferstehung des Fleisches“.
Musste sich im 19. Jahrhundert eine unter antireligiösen Vorzeichen stehende Bewegung für die Feuerbestattung etablieren, hat die evangelische Kirche diese Form schon in den 20er Jahren akzeptiert (die katholische Kirche hat sie offiziell erst 1963 erlaubt). Allerdings spiegeln die Krematorienbauten des Kaiserreiches oft noch die deutliche Ambivalenz zwischen Trauer und Technik, der säkulare Kern der Häuser (Verbrennungsanlagen) wurde unzugänglich gestaltet und durch eine kirchenähnliche Bauweise versteckt. Entsprechend lässt sich die Erfindung von Parklandschaftsfriedhöfen (Hamburg-Ohlsdorf) und eindrücklichen Totenhäusern als Gegenbewegung zu dieser Rationalisierung verstehen. Aus jenem Geist heraus entstanden auch die modernen Formen der Urnenbeisetzung: Sie sind großstadtfreundlich, weil sie weniger Platz brauchen, sie ermöglichen strenge Homogenität und sind komplett hygienisch. Die European Federation of Funeral Service geht trotz der stark zunehmenden Altersbevölkerung davon aus, dass europaweit kein Zuwachs an Friedhofsfläche entsteht, weil die Tendenz eindeutig zur Feuerbestattung geht und die „Lagerung“ von Asche deutlich weniger Fläche beansprucht. Erreichte die Feuerbestattungsquote in der ehemaligen DDR 85 % (z. B. haben Städte wie Gotha, Jena, Eisenach, Gera Kremationszahlen von über 90 %), so ist sie heute in Deutschland insgesamt 38,8 % (Berlin 68 %), in Dänemark 70 %, in Holland 47,3 % und in Frankreich 20 %, überall mit deutlichen Zuwachszahlen. Die Bereitschaft zur Feuerbestattung wächst proportional zur Zahl der Einpersonenhaushalte. Entsprechend wächst auch die Zahl der „anonymen Beerdigungen“, bei der die Urne für die Hinterbliebenen nicht präzis zu lokalisieren ist (Rasenbeisetzung).
2. Friedhöfe und Bestattungsformen waren und sind immer Spiegel der Menschen- und Todesbilder einer Kultur und Gesellschaft. Die zunehmende Individualisierung wandelt die Friedhofskultur, aber lässt sie nicht verloren gehen. Erinnerung an Verstorbene wird zu Recht als eine anthropologische Konstante seit den Anfängen der Menschheit betrachtet. Die moderne Kommunikations- und Erlebniswelt sucht sich nun ihre eigenen Ausdrucksformen. Etwas überzogen wirken daher alle Einwände, nach denen die Bestattungs-, Erinnerungs- und Friedhofskultur insgesamt in Gefahr sei. Es gibt „Trauerhaine“ und „Friedwälder“, die die Rolle gemeinschaftlicher Gedenkorte jenseits kirchlicher Friedhöfe annehmen. Auch andere Ideen wie beispielsweise der „Friedhof senkrecht in den Himmel“, den Bazon Brock schon 1973 gleichsam als Urnenhochhaus mitten in die Städte setzen wollte, um der Erinnerungskultur auf die Sprünge zu helfen, oder die Idee eines „Virtuellen Friedhofes“, 1997 vom Architekten Hadi Teherani (Hamburg) entwickelt und als eine Art Bibliotheksbau geplant, in dem alle Biographien der Verstorbenen digital gespeichert werden können (vgl. auch die Internet-Gedenkseiten, die sog. „Hall of Memory“, die solches Erinnern schon kommerziell anbieten), spiegeln die Innovationsbereitschaft in der Gesellschaft. Das ewige Gedächtnis der Toten, bisher als Fähigkeit Gottes gesagt und als Glaubenstrost verkündigt, wird gleichsam computeranimiert rekonstruiert, wobei der Vorreiter für diese Entwicklung wohl in den digitalen Archivierungsbemühungen des in der Shoah vernichteten jüdischen Lebens durch Steven Spielberg zu sehen ist. Es liegt nahe, dass angesichts solcher Digitalisierungstendenzen der tatsächliche Verbleib des Leichnams immer unwichtiger wird. Die Entwicklung läuft zu auf einen Abschied vom konkreten Grabmal bei gleichzeitiger „Verewigung“ der individuellen Biographien in medialer Form.
3. Zugleich zeigt sich städtebaulich eine zunehmende Tendenz in der Gesellschaft, die Friedhöfe nicht mehr aus den Ballungszentren hinauszuverlagern, sondern sie wieder mitten in sie hineinzunehmen, so dass nun statt landschaftlicher Parkfriedhöfe am Rande der Stadt kleine wohngebietsbezogene Friedhöfe entstehen sollen. „Der Friedhof wird in Zukunft viel mehr als bisher zur lokalen Identität und zur symbolischen Ortsbezogenheit beitragen“ (Prof. Dr. Gerhard Richter, in: http://www.lebewohl.%20net/). So, wie jeder Stadtbezirk eine Bezirkssportanlage hat, sollen die Stadtteile auch wieder eigene Beisetzungsräume oder Trauerhallen haben. Da die Kremationen zunehmen und die Zahl der Erdbestattungen (Reihen- oder Einzelgrab) schon aufgrund der Kosten abnehmen wird, kann man mit ganz neuen Erinnerungsorten in den Stadtteilen rechnen. Neben den schon genannten Formen wie Trauerhainen und Friedwäldern sind Urnengemeinschaftsanlagen, Aschegemeinschaftsanlagen, Aschestreuwiesen, anonyme Bestattungsfelder, Urnenwände bzw. Kolumbarien in der Diskussion, die für Formen eines neuartigen, kollektiven Gedächtnisortes stehen. Die Kirchen, die sowohl mit ihren Räumen wie in ihrer jahreszyklischen Gliederung Zeiten und Atmosphären des Erinnerns an die Toten in besonderer Weise anbieten können, bekommen so gesehen Konkurrenz in ihrem ureigensten Kernkompetenzbereich der öffentlichen Trauerbewältigung. Im Blick auf die zukünftigen Entwicklungen in diesem Bereich geht es also auch darum, dass die christlichen Kirchen ihre Kirchenräume, ihre Gottesdienste und ihre jahreszyklische Erinnerungskultur (Volkstrauertag, Ewigkeitssonntag) vielen, auch „kirchlich ungeübten“ Menschen verstärkt anbieten als Orte und Zeiten, an und zu denen der Verstorbenen gedacht werden kann. Indem die Kirchen ihre „Räume für die Ewigkeit“ öffnen und z. B. auch wieder häufiger Trauerfeiern in den Kirchen (und nicht nur in den Friedhofskapellen) zulassen, schaffen sie öffentliche Erinnerungsräume für die Toten, deren Gedenken nicht unbedingt an erreichbare oder konkrete Friedhöfe und Grabsteine gebunden ist. Die Kirchen können sich so selbst als Orte öffentlichen Totengedenkens imponieren und damit ihre gesellschaftliche Funktion als „Kirche für andere“ (D. Bonhoeffer) stärken.
4. Es gibt darüber hinaus eine zunehmende Enttabuisierung und Entkrampfung der Gesellschaft im Umgang mit dem Tod. Ähnlich wie im Bereich Sexualität hat sich durch sachliche Aufklärung und freizügige Medien eine Unaufgeregtheit eingestellt, die den Tod nicht mehr in die technisierte Anonymität verdrängen will. Immer mehr Menschen wollen eine ganzheitliche Begleitung des Sterbens, der Widerstand gegen eine rein technisch funktionale Behandlung der Toten nimmt zu. Alte Formen wie Aufbahrung und Aussegnung, gemeinsames Waschen und Bekleiden der Leiche, ja selbst das Beobachten der Leichenverbrennung sind zunehmend erwünscht. Im Grunde kann man dahinter eine „Ausweitung der Hospiz-Ethik“ (Professorin Dr. Sabine Bobert-Stützel) erkennen, weil sich durch die Erfahrungen mit den vielen jung sterbenden Aidskranken und der gesellschaftlichen Solidarität mit ihnen ein offenerer Geist eingestellt hat. Nach einer Umfrage des Allensbacher Instituts vom Mai 1998 („Tod und Grabkultur“ – eine Repräsentativumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach) wollen 25 % der Deutschen ihre Grabstelle selber gestalten, 20 % wollen Gräber auf dem eigenen Grundstück anlegen, ebenfalls 20 % wollen die Asche der Verstorbenen mit nach Hause nehmen und 21 % möchten ihre Asche verstreut wissen. Umfragen sind Signale, keine Realität, aber als solche nicht zu vernachlässigen.
5. Gleichzeitig wird man nicht verkennen können, dass gleichsam als „Rückseite“ dieser Individualisierungstendenz ganz neue Herausforderungen und Probleme entstehen. So nimmt die Zahl der sog. „anonymen Bestattungen“ in auffälliger Weise zu: Je stärker sich die demographische Entwicklung in Richtung Vergreisung verschiebt und je kräftiger die Individualisierung die Einpersonenhaushalte fördert, desto häufiger enden Menschen in der „anonymen Trinität des Alters“: einsames Leben, sang- und klangloses Sterben und unkenntliches Grab. Anonyme Bestattung gibt es in Form einer anonymen Verstreuung der Asche auf einem Friedhofsfeld, in Form einer Urnenbeisetzung auf einem anonymen Urnenfeld auf dem Friedhof oder in gewisser Weise auch in Form einer Seebestattung. Inhaltlich geht es darum, dass der Ort des Verbleibens der Überreste nicht lokalisiert werden kann; nüchtern betrachtet aber geben bei der anonymen Beerdigung zumeist psychologische und finanzielle Gründe den Ausschlag. Einerseits sind anonyme Beerdigungen besonders kostengünstig, weil sie keine Grabpflege nötig machen; andererseits wollen alte Menschen den Jungen keine Last sein und ihnen keine Grabpflegeverpflichtungen auferlegen, so, wie umgekehrt viele Familienbande oft gar nicht mehr stark genug sind, solche Verpflichtungen zu tragen. Allerdings ist es seelsorgerlich und psychologisch nachgewiesen und tritt faktisch auch immer wieder ein, dass Hinterbliebene, die einer anonymen Beerdigung zugestimmt haben, später erhebliche Probleme mit der „Ortlosigkeit der Trauer“ bekamen. Ein konkreter Erinnerungsort, ein identifizierbarer Grabstein, ja schon ein umgrenzter Bereich auf einem Friedhof haben für nicht wenige Menschen zentrierende und darum heilende Bedeutung. Die christlichen Kirchen standen auch deswegen den anonymen Bestattungen immer deutlich kritisch gegenüber.
Nun wird man allerdings anerkennen müssen, dass die Aufhebung des Urnenzwanges und also die Möglichkeit, die Urnen bzw. die Asche an individuell wichtigen Lebensorten zu verorten, gerade die konsequente Anwendung eben jener seelsorgerlichen Weisheit ist. Denn wer sich einen besonderen Bestattungsort wünscht, der will ja gerade die Ortlosigkeit der Trauer und die Anonymität der Bestattung überwinden. Aber natürlich werden dennoch in Zukunft manche Hinterbliebene, die die neue Verstreuensform der Asche „in alle Winde“ erbaten, ebenso wie viele der öffentlich ermöglichten anonymen Bestattungen auf Friedhöfen in Kummer über diese „ortlose Trauer“ geraten. Gerade deswegen sollte es Aufgabe der Kirchen sein, ihre besonderen Räume (Kirchen) und spezifischen Zeiten (Kirchenjahr) immer wieder als Orte und Zeiten anzubieten, an und zu denen Hinterbliebene die Möglichkeit haben, ihrer „u-topischen Toten“ zu gedenken. Nicht zuletzt die Gedenkgottesdienste anlässlich des 11. September 2001 oder nach der Katastrophe in Erfurt im April 2002 zeigen dabei deutlich die geistliche Kraft, aber auch die missionarischen Chancen dieses Ansatzes.
C. Grundlegende theologische Gesichtspunkte im Umfeld der Bestattungsfragen
1. Von der christlichen Glaubensgewissheit aus gesehen gehören alle Fragen der Bestattungskultur zu den „adiaphora“, insofern das Evangelium die Zusage ist, dass kein Leben verloren gehe, unabhängig von aller innerweltlichen Erinnerungskultur. Entsprechend ist schon bei Augustin die Einsicht festgehalten, dass „die Bestattung oder Nichtbestattung für das künftige Ergehen an sich ohne Bedeutung“ sei (De civitate Dei I, 12). Der Glaube sieht aber in der Bestattungskultur von alters her ein „Werk der Barmherzigkeit“ (nach Tobias 4, 3: „Wenn Gott meine Seele zu sich nehmen wird, so begrabe meinen Leib und ehre deine Mutter, solange sie lebt“) und hat sich im Laufe seiner Geschichte mit ganz unterschiedlichen Bestattungsformen verbunden. Es gibt daher keine bestimmte Begräbnisform, die sich zwingend aus Bibel und Bekenntnis oder aus dem christlichen Menschenbild ableiten ließe. Die christlichen Bemühungen um die Bestattungskultur zielen darauf, dass – ähnlich, wie es im NRW-Gesetz in § 7 Abs. 1 formuliert wird – die „Ehrfurcht vor den Toten“ bzw. „die Totenwürde“ geachtet und gewahrt wird. Innerhalb dieses Rahmens hat der christliche Glaube „Spielraum“, die Menschen in ihren Bedürfnissen wahrzunehmen und auch ihren Wünschen entgegenzukommen.
2. Die Alte Kirche sah die Bestattung von Beginn an so sehr als Sache der Gemeinde, dass die Christen mitunter als Bestattungsverein missverstanden werden konnten. Man zählte die Bestattung zu den sieben Werken der Barmherzigkeit, so dass für manche Arme die christliche Gemeinde die einzige Möglichkeit war, eine würdige Bestattung zu erlangen. Bestattet wurde ursprünglich mit dem Gesicht nach Osten, erst der mittelalterliche Friedhof um die Kirche herum sorgte für eine ovale Anordnung. Der Leichnam wurde erst zu Hause aufgebahrt, wobei die Psalmengesänge den traditionellen Ritus der Totenklagen zu kanalisieren versuchten. Der Sarg war in der Regel (aus Kostengründen) nur ein Transportmittel zum Friedhof, der Leichnam wurde in Leinentücher gewickelt beerdigt. Am offenen Grab wurde dann Eucharistie gefeiert, ein Ritus, aus dem sich allmählich die Totenmesse entwickelte. Diese „missa pro defunctis“ des Mittelalters zentrierte die Bestattung auf das Seelenheil der Verstorbenen im Jenseits. Im Unterschied zu den „ewigen Grabstätten“, die im Judentum und Islam religiöse Pflicht sind, kennen Christen schon im Mittelalter die Praxis des sog. „Abräumens“, also die Wiederbenutzung der Gräber. Die Überreste wurden dann in sog. „Beinhäusern“ gesammelt und nicht selten den Lebenden als „Memento mori“ gezeigt.
3. Die Reformatoren zentrierten die Bestattung auf die Verkündigung des Evangeliums an die Lebenden in der Hoffnung auf Christi Auferstehung und wehrten sich gegen jede Form der rituellen Fürsorge für die Verstorbenen (Totenmesse). Drei Kennzeichen prägen die evangelische Bestattungs- und Verkündigungskultur dabei bis heute, klassisch formuliert z. B. in der württembergischen Kirchenordnung von 1536:
a) öffentliche Kundschaft der Auferstehung,
b) Beweinung der Liebe und Freundschaft mit dem Verstorbenen und seiner trauernden Familie und
c) Erinnerung an den eigenen Tod und Mahnung zur Vorbereitung auf ihn. Im Zuge der später einsetzenden Aufklärung wandelte sich nicht selten dieser Verkündigungsauftrag zu sog. „Leichenreden“, bei denen vornehmlich über die geistlichen und ethischen Lebensleistungen des Verstorbenen gesprochen wurde. Mit dieser Wendung einher ging, dass die Bestattungsfeiern auch zunehmend als „rein private Feiern“ aufgefasst wurden. Erst die liturgische Erneuerung seit dem 19. Jahrhundert konnte die Bestattung als Akt der ganzen Gemeinde wiederentdecken. Insgesamt zeigt aber die Geschichte der christlichen Bestattung eine hohe Flexibilität in den äußeren Formen, die theologisch in der schon genannten Einsicht Augustins wurzelt, nach der „die Bestattung oder Nichtbestattung für das künftige Ergehen an sich ohne Bedeutung“ sei (De civitate Dei I, 12).
4. Der Tod ist nach biblisch-christlichem Verständnis der Eintritt in die „Verhältnislosigkeit“ (E. Jüngel) oder in den „Zustand völliger Passivität“ und also das „definitive Ende aller aktiven Möglichkeiten“ (W. Härle). Die Bibel kennt im Alten wie im Neuen Testament das Phänomen des guten, gnädigen Todes, für den Abraham (1. Mose 25, 8) und Simeon (Luk. 2, 29 f.) als Beispiele dienen mögen. Der biologische Tod als solcher, die Sterblichkeit des (ganzen) Menschen gehört zu seiner Geschöpflichkeit. In aller Regel aber kommt im Tod und durch den Tod die Verhältnislosigkeit des Menschen zu sich, zu seinen Mitmenschen und zu Gott besonders deutlich und endgültig zum Ausdruck. Insofern versteht Paulus in Röm. 6, 23 den Tod als „der Sünde Sold“, also als die Strafe bzw. gnädige Begrenzung Gottes für den „wie Gott sein wollenden Menschen“. Die christliche Erlösungshoffnung knüpft daran an und betont gemäß Röm. 8, 38 f., dass durch Christi Opfer nichts den Glaubenden trennen kann von der Liebe Gottes. Entsprechend kehrt nach christlichem Verständnis jeder Mensch in und mit seinem Tod zurück zu Gott und findet durch Christi Fürbitte bei ihm eine ewige Heimat. Alle christliche Trauerpredigt sollte daher im Kern Rechtfertigungsbotschaft sein, die zu verkündigen versucht, wie die jeweilige Lebensgeschichte in Gott beheimatet war und bleiben wird. Das Ziel einer evangelischen Bestattungspredigt ist daher weder allein der Trost der Hinterbliebenen noch allein das jenseitige Heil der Seele, sondern das Lob Gottes, der in Christus die Kontinuität der Beziehung zu jedem Menschen zugesagt hat. Dieser christliche Grundgedanke angesichts des Todes konkretisiert sich darin, dass der Verstorbene – bei welchem Grad von innerweltlicher Anonymität auch immer – niemals in eine Anonymität vor Gott geraten kann. Auch die allergrößte Beziehungslosigkeit der Menschen zu Gott in der Welt macht nach christlichem Verständnis Gott nicht beziehungslos zu dem Menschen. Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, ins Leben gerufen durch seinen Lebensodem, erwählt zu einem einzigartigen Weg und durch die Taufe gewürdigt und berufen, dies auch zu glauben und zu leben im Dienst an Gott und den Menschen. Der Mensch kann daher zwar Gott und auch sich selbst vergessen, er kann auch in unserer Welt vergessen und verscharrt werden, bei Gott aber bleibt er ein einzigartiger, unverlierbarer und unvergessener Mensch mit seiner je besonderen Lebensgeschichte („Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“: Jes. 43, 1). Dies gilt nicht nur für die vielen anonym gestorbenen Seeleute der Jahrhunderte, nicht nur für die vielen verschollenen Toten der Kriege, sondern das gilt auch für alle Menschen heute, die in beziehungsloser Einsamkeit leben müssen und deren Leichnam entsprechend beziehungslos „entsorgt“ wird.
D. Die Kirchen und die Veränderungen in der Bestattungskultur
1. Friedwald-Konzeption
Als eine neue Bestattungsform etabliert sich zurzeit auch in Deutschland die sog. „Friedwald-Konzeption“. Die Form ist eine Idee des Schweizers Ueli Sauter, bei der in einem umzäunten und definierten Waldstück an einem Baum die Asche des Toten in einer biologisch abbaubaren Urne im Wurzelwerk verbracht wird. Dabei unterscheidet der Friedwald zwei Typen der Bestattung, nämlich einmal den sog. Familienbaum, der wie ein Familiengrab bis zu zehn Personen einer Familie aufnehmen kann, und zum anderen eine Einzelruhestätte an einem Gemeinschaftsoder auch Einzelbaum, wobei diese Unterschiede natürlich auch eine Frage des Geldes sind. In jedem Fall erhalten die Angehörigen eine Art „Urkunde“ über die Lage ihres Baumes, so dass sie den Ort leichter auffinden können. Außerdem ist ein geeignetes kleines Zeichen (Plakette oder dergl.) an dem Baum anzubringen, so dass eine Anonymität nicht zwingend gegeben sein muss. Der Baum ist bis zu 99 Jahre gegen Abholzung geschützt, bei einem früheren Verlust des Baumes aus anderen Gründen wird für Ersatz gesorgt. Der „Friedwald“ ist öffentlich ausgewiesen und zugänglich, er ist in der Regel religiös neutral gestaltet (kein Kreuz oder dergl.) und also mit fast allen Bestattungsriten kompatibel. Der kostensparende Grundgedanke ist hier, dass die Natur die Grabpflege übernimmt. Die Friedwald-Konzeption bietet eine individuelle, naturnahe Urnenbestattung in einem gekennzeichneten Waldgebiet an, die ein persönlich-familiäres Gedenken an einem konkreten Ort erlaubt, ohne den traditionellen Friedhofscharakter zu haben. In Deutschland gibt es Ende 2003 zwei Friedwälder, beide im Bundesland Hessen (seit dem 7.11.2001 in Reinhardswald; seit dem 21.6.2002 im Odenwald). Ein dritter Friedwald soll in Kürze in der Eifel eröffnet werden; weitere sind geplant.
a) Der stärkste bisher aus christlicher Sicht geäußerte Vorwurf gegen diese Friedwald-Konzeption geht dahin, dass es sich um „naturreligiös verbrämten Kommerz“ handele. Man wird – entgegen allen Beteuerungen der Betreiber hinsichtlich ihrer weltanschaulichen Neutralität – nicht völlig von der Hand weisen können, dass die Rückkehr des toten Leibes in den Naturkreislauf in der Friedwald-Konzeption besonders anschaulich gemacht wird. Soweit sich also mit diesem Konzept naturreligiösimmanentisierende Reinkarnationsvorstellungen verbinden, gilt es, das christliche Zeugnis der Auferstehung dagegenzusetzen. Zugleich aber soll man sich auch daran erinnern lassen, dass die Rückkehr des Körpers in den Naturkreislauf in der Regel immer auch innerhalb einer christlichen Bestattungsfeier formuliert wurde. Die Agenden für die Feiern am Grabe erinnern daran, dass der Mensch „Erde ist und zur Erde werde“ (vgl. Gen. 3, 19) und dass darum der „Leib in Gottes Acker (gelegt wird), Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube“. Auch dass Theodor Fontane aufgrund seines „Herrn von Ribbeck“-Gedichtes, in dem der gleiche Gedanke variiert wird, als unchristlich zu gelten habe, muss als Übertreibung gewertet werden. Eine prinzipielle Unvereinbarkeit zwischen christlichen Einsichten über den Menschen und seine Würde auch im Tode und einer Bestattungsform innerhalb einer Friedwald-Konzeption ist daher nur schwer zu erkennen.
b) Zugleich ist es aber eine unbestreitbare Aufgabe christlicher Seelsorge zu verstehen, was Menschen zur Wahl der Friedwald-Konzeption treibt und welche Argumente oder Umstände sie besonders überzeugen. Dieser Intention jedenfalls folgen alle Bemühungen in den Gliedkirchen und Gemeinden, die Friedwald- Konzeption als eine christlich akzeptier- und begleitbare Entwicklung der Bestattungskultur zu würdigen. Denn einerseits muss man wahrnehmen, dass die aufgrund des kommerziellen Druckes immer kürzer werdenden sog. „Liegezeiten“ auf den städtischen wie kirchlichen Friedhöfen die lange Beständigkeit der Friedwaldgräber (99 Jahre) für viele verlockend erscheinen lässt; andererseits sind die – absolut gesehen – niedrigen Bestattungskosten für viele auch ein gewichtiges Argument. Daher ist es richtig und verständlich, dass an manchen Orten versucht wird, eine größere Kompatibilität zwischen Kirche und Friedwald herzustellen, sei es, dass die Friedwaldbäume mit deutlichen christlichen Zeichen oder Symbolen verbunden werden, sei es, dass man die Friedwaldidee gleichsam „tauft“. Daran arbeitet einmal der in einigen Gliedkirchen favorisierte Vorschlag, dass die Friedwald-Konzeption innerhalb christlicher Friedhöfe in Gestalt von Urnenhainen etabliert und angeboten werden soll. So wird die Verankerung im christlichen Glauben sichtbar und dennoch könnten die unbestreitbaren Vorteile jener Bestattungsform gewahrt werden. Dass damit allerdings die Offenheit der Friedwaldidee für jede religiöse Bestattungsform eingegrenzt wird, liegt auf der Hand. Zum anderen gibt es aus der württembergischen Kirche (Dekanat Brakenheim) den Vorschlag, innerhalb eines Friedwaldes die Kennzeichnung der Bäume auf Wunsch stärker mit christlichen Symbolen zu versehen, sei es durch ein Kreuz, durch den Namen oder durch einen individuell wichtigen Bibelvers. In beiden Modellen aber könnte und sollte auf Wunsch von Angehörigen das Verbringen der Urnen in einen Friedwald von Pfarrern und Pfarrerinnen gottesdienstlich begleitet werden – liturgisch ähnlich wie bei einem zeitlich von der Trauerfeier getrennten Urnengang auf dem Friedhof.
c) Obwohl die Urteilsbildung in dieser Frage innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland noch nicht abgeschlossen ist, gilt es festzuhalten: Ob und inwieweit die Friedwald-Konzeption mit den christlichen Grundüberzeugungen zur Würde des Toten(-Gedenkens) vereinbart werden kann, hängt in hohem Maße davon ab, wie die Konzeption im konkreten Fall aussieht. Aus christlicher Sicht sind etwa folgende Elemente für eine Akzeptanz unverzichtbar:
I. Das ausgewiesene Waldstück muss öffentlich zugänglich sein und in deutlicher Weise als ein besonderes, eben „friedhöfliches Flurstück“ gekennzeichnet sein.
II. Es muss die Möglichkeit zugelassen werden, auf Wunsch des Verstorbenen bzw. der Angehörigen den Namen des Verstorbenen am Baum anzubringen. III. Es muss die Möglichkeit gewährleistet sein, auf Wunsch den entsprechenden (Familien-)Baum mit einem Kreuz oder einem Bibelvers oder einer anderen christlichen Glaubenssymbolik zu kennzeichnen (z. B. Fisch, Kelch usw.).
Bei Beachtung dieser Bedingungen ist die Friedwald-Konzeption mit den christlichen Grundüberzeugungen zur Würde des Toten(-Gedenkens) jedenfalls nicht vollkommen inkompatibel. Denn öffentlich zugängliche Orte können die je eigene Trauer heilsam relativieren, individuell gekennzeichnete Bestattungsstellen vermeiden „u-topische Trauer“, und gemeinschaftliche Begräbnisorte ermöglichen die nach christlichem Verständnis unerlässliche Gleichheit und Gemeinschaft aller Menschen im Tode angemessen zu symbolisieren. Und allein die Tatsache, dass die Friedwald- Konzeption bisher nur von privaten Betreibern initiiert und unter Kostenersparnisgesichtspunkten entwickelt wurde, ist wohl doch kein hinreichender Grund, diese Konzeption für unvereinbar mit christlichen Grundsätzen zu halten, auch wenn sie natürlich faktisch eine nicht unerhebliche Konkurrenz zu den bisherigen öffentlichen oder kirchlichen Friedhofsträgern darstellt.
2. Wer wird kirchlich bestattet?
Die Privatisierung des Todes ist nicht nur in den Städten längst Realität geworden. Ein öffentlicher Abschied eines Menschen, der in der Gemeinde ebenso beheimatet war wie in der Gesellschaft und der durch Anzeigen in der Zeitung, durch Gottesdienst und allgemeine Traueranteilnahme zu Grabe getragen wird, wird heute immer seltener und ist in der Regel Prominenten vorbehalten. Deswegen ist die erwünschte (gemeindliche) Öffentlichkeit jedenfalls in den großen Städten oft ersetzt durch die ebenso professionelle wie anonyme Öffentlichkeit der Bestatter. Diese Tendenz der Trauerbegleitung hat ein System von Professionalität und Geschäftigkeit etabliert, das auch den Kirchen bzw. den Pfarrern und Pfarrerinnen nur noch einen bestimmten Platz einräumt: Die Leichname sollen möglichst schnell aus dem Sterbehaus entsorgt werden und der/die Pastor(in) erst danach zum Trauerbesuch kommen. Die Trauerfeier geschieht nur im engsten Familienkreis und die Predigt soll möglichst kurz sein, damit die Kapellenzeiten nicht überschritten werden. Die Bestattung soll anonym sein und öffentliche Todesanzeigen gibt es erst nach der Bestattung. Eine echte Öffentlichkeit jenseits des privaten Raumes der Hinterbliebenen wird so immer seltener. Die jetzt einsetzende Individualisierung und Privatisierung bei der Gestaltung der Trauerfeier signalisieren auch ein hohes persönliches und familiäres Engagement für die Wiederentdeckung einer selbst zu gestaltenden „Totenwürde“. Diese Entwicklung sollten die Kirchen positiv aufnehmen, begleiten und mitgestalten, obwohl sie dabei auch vor neue Herausforderungen gestellt sind.
a) Die gliedkirchlichen Regelungen in den Lebensordnungen verfolgen an dieser Stelle die Absicht, die Identifizierbarkeit des christlichen Glaubens und die Glaubwürdigkeit der Kirche mit dem diakonisch-seelsorgerlichen Wunsch nach geistlicher Begleitung aller Trauernden in einer guten Balance zu halten. So heißt es einerseits sehr offen und allgemein in den Leitlinien kirchlichen Lebens der VELKD, dass die „Entscheidung, ob eine kirchliche Bestattung gewährt oder abgelehnt wird, ... die Pfarrerin oder der Pfarrer in seelsorgerlicher Verantwortung“ trifft, wobei „Verstorbene, die keiner christlichen Kirche angehörten, ... in einer Form bestattet werden (sollen), die die Situation angemessen berücksichtigt. Dabei muss es keine Einschränkungen in der äußeren Form (Amtstracht, Glocken) geben.“ Zugleich geben die Leitlinien die Näherbestimmung vor, dass eine „kirchliche Bestattung von Verstorbenen, die keiner christlichen Kirche angehörten, ... in Ausnahmefällen geschehen (kann), wenn
- die evangelischen Angehörigen den Wunsch nach einer kirchlichen Bestattung äußern und wichtige seelsorgerliche Gründe dafür sprechen,
- dem nicht der zu Lebzeiten geäußerte Wunsch der Verstorbenen entgegensteht,
- das Verhältnis der Verstorbenen zur Kirche und zur Gemeinde so war, dass eine kirchliche Bestattung zu verantworten ist,
- es möglich ist, während der Trauerfeier aufrichtig gegenüber den Verstorbenen und ihrem Verhältnis zur Kirche zu sein,
- die Entscheidung vor der Gemeinde verantwortet werden kann“ (aus: Leitlinien kirchlichen Lebens, S. 90).
Die in der „Ordnung des kirchlichen Lebens“ der EKU getroffenen Regelungen sind nicht nur inhaltlich, sondern bis in die Formulierungen hinein identisch (Artikel 68 Abs. 4, Ordnung des kirchlichen Lebens der EKU, S. 78 f.).
Es ist offensichtlich, dass die Leitlinien hier eine Art „Korridor kirchlicher Praxis“ definieren, innerhalb dessen seelsorgerliche bzw. landeskirchliche Spielräume bestehen. So gibt es in den Städten wohl häufiger die Tendenz, der Bitte um die kirchliche Bestattung eines Nichtkirchenmitgliedes zu entsprechen. Dadurch wird faktisch der sich in den Agenden spiegelnde Grundsatz in Frage gestellt, nach dem die kirchliche Bestattung „eine gottesdienstliche Handlung sei, bei der die Gemeinde ihre verstorbenen Glieder zur letzten Ruhe geleitet ...“ (aus Artikel 65, Präambel der „Ordnung des kirchlichen Lebens der Evangelischen Union“ von 1999). Doch in welche Missverständlichkeiten eine Kirche geraten kann, wenn sie sich der Beerdigung von Nichtkirchenmitgliedern öffnet, hat jüngst die Diskussion um die Trauerfeier für Rudolf Augstein im Hamburger Michel bzw. in Keitum auf Sylt gezeigt. Die Kirchen nehmen bei diesen Fragen eine uneinheitliche Position ein und werden so immer wieder in öffentliche Spannungsfelder zwischen Glaubwürdigkeit und Anpassung an Erwartungen geraten. Diese Uneinheitlichkeit kirchlichen Handelns signalisiert allerdings auch, dass es hier doch einige gewichtige theologische und seelsorgerliche Gesichtspunkte gibt, die einer einheitlichen Regelung im Wege stehen.
b) Zu diesen Gesichtspunkten gehört in jedem Fall die Frage, ob nicht eine kirchliche Trauerfeier immer auch ein seelsorgerlich- diakonischer Dienst an trauernden Angehörigen ist, an Menschen also, die in einer existentiell schwierigen und seelisch oft hilflosen Situation den Dienst der Kirche erbitten. Ihnen aufgrund fehlender Voraussetzungen (Kirchenmitgliedschaft) diesen Dienst vorzuenthalten ist mitunter eine außerordentlich schwierige geistliche Entscheidung. Darüber hinaus gibt es in den stark säkularisierten Ballungszentren zunehmend Situationen, in denen Nichtkirchenmitglieder für Nichtkirchenmitglieder um eine kirchliche Bestattung bitten. Natürlich ist dies auf den ersten Blick ein ausgeschlossenes Ansinnen, weil der Resonanzraum des Glaubens vollends verlassen wird und der/die Pastor(in) leicht nur als „Zeremonienmeister( in)“ benutzt wird. Auch können im Hintergrund solcher Ansinnen sachfremde Motive wie z. B. finanzielle Ersparnisgründe stehen. Gleichwohl stellt sich in der konkreten Pfarramtspraxis oft die seelsorgerlich bedrängende Frage, ob sich in diesen Anfragen nicht doch eine Art spezifische Kompetenzerwartung an die Kirche verbirgt, die etwa heißen mag: „Die Kirche versteht etwas von Sterbebegleitung und Tod und Trauerbegleitung“ (Hermann Barth). Dieses Kompetenzzutrauen eines durchweg säkular und kirchenfern, oft aber durch eine Krisensituation religiös sehnsüchtig gewordenen Menschen ist ein hohes Gut, denn es zeigt einerseits auf seine Weise die gesellschaftliche Relevanz der Kirche „extra muros ecclesiae“ und bietet andererseits der Kirche durchaus auch missionarische Möglichkeiten, die Tragkraft christlicher Seelsorge und Liturgie zu entfalten – auch wenn man diese Möglichkeit nicht überschätzen sollte. So stehen die einzelnen Pastoren und Pastorinnen immer öfter vor der Frage, ob sie die spezifisch kirchliche Kompetenz der Trauerbegleitung gerade in angefochtenen Lebenssituationen nicht doch – ähnlich wie bei den öffentlichen Gottesdiensten in Katastrophenfällen – als einen „geistlichen Dienst am Nächsten“ verstehen können. Können also die Kirchen nicht im Rahmen der bestehenden Regelungen ihren Pfarrer(inne)n geistlich Mut machen, auf diese durchaus schwierigen und auch verunsichernden Situationen dennoch selbstbewusst zuzugehen?
c) Dabei kann man immerhin darauf verweisen, dass die unverlierbare Bedeutung der Taufe jedenfalls theologisch die Aussage impliziert, dass die Kirche mit der wachsenden Zahl getaufter Nichtkirchenmitglieder weiterhin umgehen will. Denn unbestritten ist die Einsicht, dass die Kirche eine bleibende Zuständigkeit behält auch für die Getauften, die aus der Kirche ausgetreten sind. In dem Text der Kammer für Theologie „Taufe und Kirchenaustritt“ aus dem Jahre 2000 heißt es zusammenfassend: „In evangelischer Verantwortung muss die Rede vom ,character indelebilis‘, den die Taufe den Getauften verleiht, in fünffacher Weise entwickelt werden: 1. als bleibende Zugehörigkeit des Ausgetretenen zu Jesus Christus und damit als unzerstörbarer Indikativ des Heilszuspruches; 2. als Hinweis auf den unheilvollen Widerspruch des Ausgetretenen zu dieser ihm geltenden Verheißung; 3. als seine bleibende Ansprechbarkeit auf den Glauben hin; 4. als bleibende Anfrage an die Identität des Ausgetretenen, die ihm durch die Taufe als die Würde eines Christenmenschen zugesprochen ist; 5. als bleibende Bezogenheit der Gemeinde auf alle Getauften, also auch auf die, die die Kirche verlassen haben.“ (EKDTexte 66, S. 13)
Natürlich haben die Aussagen dieses Textes von Haus aus eine andere Zielrichtung und sind keine Orientierung für Bestattungsfragen. Gleichwohl sind die Überlegungen des EKD-Textes insofern wegweisend, als trauernde Angehörige, die trotz fehlender Kirchenmitgliedschaft als getaufte Christenmenschen um eine Trauerfeier für einen Verstorbenen bitten, auf ihren Glauben ansprechbar bleiben und die Kirche in und mit einer Trauerfeier jene „bleibende Bezogenheit der Gemeinde auf alle Getauften“ kenntlich machen kann. Natürlich ist ein Verstorbener im landläufigen Sinne nicht mehr ansprechbar auf seinen Glauben; aber sollte theologisch nicht offen gehalten werden, ob nicht die „bleibende Zugehörigkeit des Ausgetretenen zu Jesus Christus“ auch für einen Verstorbenen gilt? Wird unser Glaubenszeugnis nicht zu sehr eingeschränkt, wenn wir das Zeugnis von der bleibenden Zugehörigkeit auch eines Ausgetretenen zu Jesus Christus am Ende eines Lebensweges nicht mehr ausrichten?
3. Wie wird kirchlich bestattet?
Insgesamt wird man folgender Beschreibung kaum widersprechen können: „Die Kirche hat ... ihr Monopol im Bereich Bestattungsrituale und Trauerbegleitung verloren. ... Mehr denn je ist der Bestatter in dieser Situation als qualifizierter Dienstleister gefordert“ (Ministerialdirektor Dr. Karl Epple). Die heutigen Bestattungsunternehmen unterliegen einem erheblichen Konkurrenzdruck und entwickeln daher eigene Qualitätsmerkmale für eine Bestattung. Darüber hinaus rezipieren sie die Ergebnisse der Trauerforschung, öffnen sich für andere kulturelle Hintergründe (Islam) und legen eine hohe Innovationsbereitschaft im Umgang mit individuellen Wünschen an den Tag. Die Bestatter richten multimedial ausgestattete und intim eingerichtete Abschiedsräume ein, lassen die Angehörigen Trauerfeiern in eigener Regie entwerfen und öffnen sich nicht nur für deren Musikwünsche, sondern auch für neu-alte Ritualwünsche wie z. B. das gemeinschaftliche Anziehen des Totenhemdes. Der Kunde und seine Wünsche stehen im Mittelpunkt. „Durch Spezialisierung, Professionalisierung und Ausweitung der Angebote erobern Bestattungsunternehmen ... immer weitere Bereiche der Trauerkultur“ (in: Zeichen der Hoffnung angesichts des Todes. Theologische Erwägungen zum Umgang mit den Toten und zur Gestaltung der kirchlichen Bestattung. Ein Votum der Theologischen Kammer der Evangelischen Kirche in Kurhessen-Waldeck, S. 22). Entsprechend ist es für die Kirche äußerst beunruhigend, dass die Zahl evangelischer Kirchenmitglieder jedenfalls in den Städten steigt, die sich nicht mehr kirchlich bestatten lassen. Offenbar nimmt die Überzeugungskraft evangelischer Bestattungsrituale in den eigenen Reihen ab, weil die Konkurrenzfähigkeit anderer Anbieter auf dem Bestattungsmarkt auch in psychologischseelsorgerlichen Dimensionen zunimmt. Will die Kirche an dieser Stelle nicht den Anschluss verlieren, muss sie erhebliche Anstrengungen unternehmen, die Menschen geistlich kompetent zu begleiten und überzeugend kenntlich zu machen, dass und wie die christlichen Trauerrituale eine heilsame und würdige, aber auch eine individuell und persönlich mitzugestaltende Abschiedskultur sind.
a) Diese „Wettbewerbssituation“ führt zuerst zu der Frage, wie viel Raum individuelle Wünsche in der Gestaltung der kirchlichen Bestattung haben können. Jüngere Forschungen zeigen, dass die Mitglieder der evangelischen Kirchen aus sehr unterschiedlichen Milieus zusammengesetzt sind, die jeweils ihre eigenen kulturellen Codes und ästhetischen Erwartungen haben. Bei der konkreten Gestaltung einer Trauerfeier bestehen die Pastoren und Pastorinnen angesichts dieses Wildwuchses an Erwartungen oft auf vertrauten Texten, musikalischen und agendarischen Gewohnheiten, wobei dies sicher auch das Bemühen um eine Identifizierbarkeit des Evangelischen in kirchlich unvertrauten Milieus spiegelt. Oftmals aber haben die Vertreter(innen) der Kirche den Eindruck, das Spezifische des Christlichen verliere sich, wenn zu viel vermeintlich triviale Kultur Raum greift (zum Begriff „trivial“ vgl. „Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive“, eine Denkschrift von EKD und VEF, 2002, bes. S. 76 ff. zum Stichwort „Inkulturation“). Andererseits gefährdet eine zu starke Zensurhaltung gegenüber den milieugeprägten individuellen Wünschen der Hinterbliebenen die theologisch und seelsorgerlich wünschenswerte Begleitung der Trauernden. Pastoren und Pastorinnen haben es daher mit der geistlich ebenso spannenden wie schwierigen Aufgabe einer individuell angemessenen Einzeichnung des Evangeliums zu tun, in der die Aufnahme mancher Wünsche und Erwartungen der Hinterbliebenen Raum findet und in der in Übersetzung der christlichen Glaubenshoffnung in die Sprachund Denkwelt der Angehörigen das Spezifische des evangelischen Hoffens kenntlich gemacht wird. Diese Fähigkeit, die Botschaft des Glaubens für die je spezifische Trauersituation und die je besondere Familie auszusagen, sollte den inhaltlichen Kern einer Kompetenzsteigerung der Pastoren und Pastorinnen bilden. Dafür ist es möglicherweise sinnvoll, in den Agenden verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten für die Trauerfeiern anzubieten und – ähnlich wie beim Gottesdienstbuch – Alternativen zu entwickeln, die auch für unterschiedliche Milieus durchlässig sind.
b) Jene „Wettbewerbssituation“ hat aber auch dazu geführt, dass einige Gemeinden Bestattungsunternehmen (z. B. als gGmbH) gegründet haben, um in diesem Marktsegment mit der spezifischen Kompetenz der christlichen Tradition die Menschen zu erreichen. Es ist nicht überraschend, dass die weltlichen Bestatter zuerst den enormen „Startvorteil“ dieses kirchlichen Engagements beklagen. Ob allerdings die Kirche gut beraten ist, sich in diesen kommerziellen Dimensionen zu bewegen und also auch für ihre eigenen Angebote die strikten Gesetze des Marktes zu übernehmen, muss sehr kritisch geprüft werden. Denn zuerst muss man ja nüchtern sehen, dass das Verhältnis der Kirchen zu den örtlichen Bestattungsunternehmen außerordentlich belastet würde, wenn die Kirche zum „Mitbewerber“ aufstiege. Ein gutes und kooperatives Verhältnis der Kirchen zu den Bestattern der Region ist aber für alle Kirchen sehr wichtig, so dass man nur jedem Kirchenbezirk oder -kreis empfehlen kann, regelmäßig Kontakte zu den örtlichen Bestattern aufzunehmen und Gespräche mit den Verbandsvertretern zu suchen, um die Zusammenarbeit zu verbessern. Darüber hinaus sei darauf hingewiesen, dass es doch eine sehr lange Strecke ist, bis eigene kirchlich gestützte Bestattungsunternehmen den Grad an Professionalität erreicht haben, den die seit Generationen erfahrenen Unternehmen haben. Es ist – wie in allen Märkten – nicht sehr leicht, ein neues Unternehmen zu etablieren; die Kirche sollte ihre „Marktchancen“ an dieser Stelle also nicht überschätzen. Zuletzt aber und vor allem liegt der entscheidende Beitrag der evangelischen Kirche zum Erhalt einer würdigen Bestattungskultur in der spezifisch geistlichen Kompetenz im Umgang mit der Trauer- und Beerdigungssituation, nicht aber in der Fähigkeit von Kirchenvertretern, die Etablierung besonders kostengünstiger Angebote z. B. für die Sargausstattung herzustellen.
c) Vor allem aber muss jene „Wettbewerbssituation“ zu einer Überprüfung der kirchlichen Aus- und Fortbildung führen. Die pastorale Kompetenz muss gestärkt werden, so dass es ein dringendes Erfordernis ist, die Aus- und Fortbildung der Kirchen auf die Frage hin zu prüfen, ob die Pastoren und Pastorinnen auch angemessen für jene seelsorgerliche Herausforderung ausgebildet sind bzw. werden. Die innere Überzeugungskraft des eigenen Glaubens, die sensible Wahrnehmung der Trauersituation und die angemessene (Sprach-)Gestaltung im Blick auf die identifizierbaren Elemente des Glaubens sollten immer wieder gestärkt und sensibilisiert werden. Angesichts der immensen Fortbildungs- und Kompetenzsteigerungsbemühungen, die weltliche Bestattungsunternehmen ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen angedeihen lassen, reichen die Reflexionen der Vikariatszeit kaum für einen lebenslangen Arbeitseinsatz aus. Regelmäßige Supervisionsangebote sollten verhindern, dass Pastoren und Pastorinnen auf Dauer allein gelassen werden in diesem sensiblen Bereich des geistlichen Umganges mit trauernden Menschen. Schon die universitäre Ausbildung sollte Sorge dafür tragen, dass die Theologiestudierenden die vielen wahrzunehmenden Dimensionen eines Trauerprozesses erkennen können. Weiter gehört zur Kompetenzsteigerung des kirchlichen Dienstes, dass die weit verbreitete – oft allerdings auch unfaire – Kritik an den schwer erreichbaren oder spröde abweisenden Pastoren und Pastorinnen (Stichwort: Anrufbeantworter) abgebaut wird und dass die Fähigkeit gesteigert wird, eine zugewandte und an der Einzigartigkeit der Situation interessierte Atmosphäre entstehen zu lassen. Den einzigartigen Sinn und die besondere heilsame Kraft der christlichen Trauerbegleitung in Wort und Ritual für die Trauernden plausibel und glaubhaft zu machen ist die zentrale Aufgabe. Erschwerend kommt dabei allerdings hinzu, dass die Pastoren und Pastorinnen dafür heute kaum noch auf allgemeine religiöse Kenntnisse oder liturgische Selbstverständlichkeiten zurückgreifen können, sondern dass sie jeweils die individuellen Hinterbliebenen-Gemeinden davon überzeugen müssen, dass der Abschied von den Toten bei der evangelischen Kirche im doppelten Sinne des Wortes „gut aufgehoben“ ist. Dies ist eine anspruchsvolle, aber auch wertvolle Aufgabe, denn eine seelennahe und geistlich überzeugende Trauerfeier ist eine der wirksamsten Möglichkeiten, die Glaubwürdigkeit der Kirche bei den kirchlich Fernstehenden zu erhöhen. Die Kirchen sollten es sich daher – trotz aller Sparzwänge – nicht nehmen lassen, gerade in diesem wichtigen Bereich der kirchlichen Kernkompetenz die Pastoren und Pastorinnen intensiv aus- und fortzubilden.
Handreichung zum Thema Bestattungskultur als pdf-Datei