Betroffen sein ist nicht genug
Kirche muss den Menschen in praktischer Solidarität beistehen, die Rassismus erfahren
Am 19. Juni vor 30 Jahren wurde das erste Apartheidsgesetz in Südafrika aufgehoben. Doch bis heute ist der Rassismus nicht überwunden. Er lebt in den Köpfen weiter. Über Apartheid in Südafrika und den Rassismus in Deutschland haben wir mit Sabine Dreßler gesprochen; sie ist als Oberkirchenrätin bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für Menschenrechte, Migration und Integration zuständig.
Sie waren 1989 ein knappes Jahr als Vikarin in einem Township bei Kapstadt tätig. Wie haben Sie die so genannte Rassentrennung erlebt?
Sabine Dreßler: Die Menschen, mit denen ich zusammengelebt und gearbeitet habe, wurden in den 70er Jahren zwangsumgesiedelt, nachdem die Regierung ihren bisherigen Wohnort für weißes Land erklärt hatte. Eines der wesentlichen Stützpfeiler der Apartheid war der Group Areas Act, das Gesetz, das festlegte, wer wo zu wohnen hat. Nach dem Prinzip „Teile und herrsche“ wurden die Leute dann in ein Niemandsland verfrachtet, in erbärmliche Behausungen, ohne Infrastruktur, ohne Elektrizität, weit weg von ihren bisherigen Arbeitsplätzen.
Und all das war möglich, weil die Menschen in den Augen der Regierung und der weißen Gesellschaft so genannte Non-Whites waren, Menschen, die nicht zählten. Rassismus gibt es leider überall. Aber dort war er gesetzlich verankert, Menschen waren per Gesetz ausgeschlossen von Bürger- und Menschenrechten.
Welche Bedeutung hatten die Kirchen in Südafrika?
Es gab Kirchen, die sich der Apartheid widersetzt und den farbenblinden Gott verkündigt haben, die Apartheid als Sünde und den Versuch der Rechtfertigung von Apartheid als Häresie entlarvt haben. Diese Kirchen haben den Kampf gegen Apartheid unterstützt und wurden zu Orten der Zuflucht und Befreiung.
Heute, 30 Jahre später sorgt der Rassismus weltweit für Proteste. Wie bewerten sie den Rassismus in Deutschland?
Wir können täglich von rassistischer Hetze lesen. Wir nehmen wahr, dass es Übergriffe und Anschläge gibt. Die NSU-Morde, die über Jahre möglich waren, werden eine offene Wunde bleiben. Es reicht nicht, wenn Betroffenheit geäußert wird.
Ich finde es immer verdächtig, wenn Menschen sagen „Ich bin kein Rassist, aber …“. Dann folgen Zuschreibungen, Vorurteile und Schlimmeres. Der Bundespräsident sagte gerade, dass es nicht reicht, kein Rassist zu sein, wir müssen Anti-Rassismus lernen und leben. Erfahrungen der „People of Color“, der Menschen von Farbe, zeigen, wie tief verwurzelt dieses Denken auch in Deutschland ist. Es müsste eine staatliche Aufgabe sein, dass hier Offenheit vermittelt wird, Verschiedenheit akzeptiert wird.
Wo sehen Sie strukturellen Rassismus in diesem Land?
Rassismus beginnt dort, wo Menschen als „fremd“ markiert werden, als „anders.“ Und damit ausgegrenzt, stigmatisiert. Die Diskussion um strukturellen Rassismus macht deutlich, dass wir genauer hinsehen müssen. Das heißt nicht, bestimmte Gruppen, etwa die Polizei, unter Generalverdacht zu stellen. Aber wenn Menschen nur aufgrund ihres Aussehens ins Visier geraten, häufiger kontrolliert werden als andere, dann ist solches „Racial Profiling“ struktureller Rassismus.
Auffällig ist, wie schnell man in der aktuellen Debatte von der Sache wegkommt und einen Pauschalverdacht wittert. Es fällt schwer, die blinden Flecken in den eigenen Strukturen wahrzunehmen. Und ich frage mich, ob nicht auch der Umgang mit Geflüchteten, etwa das Errichten von geschlossenen Einrichtungen für Menschen, die zu uns kommen, struktureller Rassismus ist.
Was unternimmt Kirche gegen Rassismus?
Wir stehen ein für die Würde eines jeden Menschen. Sie ist von Gott geschenkt, und niemand kann sie nehmen. Die Kirche muss das verteidigen. Nicht nur durch öffentliche Positionierung, sondern in praktischer Solidarität mit denen, die Rassismus erfahren. Das fängt damit an, Menschen wahrzunehmen, ihnen zuzuhören, ihre Geschichten zu glauben und ihre Erfahrungen ernst zu nehmen.
Es gibt kirchliche Bildungsprogramme wie antirassistisches Training, es gibt in Kirche und Theologie einen kritischen Diskurs. Das müsste aber alles viel mehr sein. Die EKD hat die Menschenrechtsinitiative #freiundgleich aufgestellt, mit der wir junge Menschen dafür sensibilisieren wollen, was ihre Rechte sind und die aller Menschen. Nur wenn ich meine eigenen Rechte kenne, kann ich die Rechte anderer Menschen verteidigen.
Trotzdem tritt in der Kirche Rassismus auf. Welche Beispiele sehen Sie?
Es tut weh, dass es Rassismus auch in der Kirche gibt. Umso wichtiger ist, dass wir eben nicht wegschauen, weil es uns unangenehm ist oder wir gerne bessere Menschen wären. Mich hat kürzlich bei einer Veranstaltung sehr berührt, wie jemand erzählt hat, dass er als "Person of Color" in der Gemeinde sehr aktiv war, auch im Kirchenvorstand mitgearbeitet hat. Aber aufgrund seiner Erfahrungen in der Gemeinde wieder gegangen ist. Er hat Formen von Alltagsrassismus erlebt und niemand hat ihm beigestanden.
Das ist ein Beispiel dafür, dass es bei Rassismus immer um uns selber geht. Wir müssen uns mit uns auseinandersetzen und das nicht nur von anderen erwarten.
Wie erklären Sie sich, dass sich Christen von der Durchschnittsbevölkerung bei der Wahrnehmung von Rassismus und auch in ihrem Verhalten nicht unterscheiden?
Wenn wir dabei nur auf uns, als Angehörige der verfassten Kirchen schauen, dann mag das so sein, weil wir Teil der Mehrheitsgesellschaft sind. Und die ist geprägt von bestimmten Vorstellungen und Gewohnheiten, zum Beispiel auch der scheinbaren Selbstverständlichkeit, dass Jesus weiß ist. Und wir bleiben ja auch weitgehend unter uns.
Wenn wir auf die vielen internationalen Gemeinden, die es in Deutschland gibt, sehen, dann stellt sich die Frage ganz anders oder gar nicht. Denn viele ihrer Mitglieder sind selbst von Rassismus betroffen, bei der Wohnungssuche, bei der Schulanmeldung, auf der Straße. Und hier müssen wir uns durchaus fragen, wie sich unsere Beziehung zu den Geschwistern gestaltet.
Wie können Gemeinde, wie können wir eigene Denkmuster überwinden und uns solidarisieren?
Indem wir zuerst unsere Seh-Gewohnheiten ändern und versuchen, die Perspektive zu wechseln: Wie würde es mir gehen, wenn ich zum tausendsten Mal erklären muss, dass ich in Deutschland geboren bin, und nicht vorgestern eingereist bin, obwohl ich anders aussehe und die Sprache mindestens so gut beherrsche wie die fragende Mehrheit? Ganz abgesehen von schlimmeren Erfahrungen, die "People of Color" machen.
Wir sollten überprüfen, wie offen wir für das sind, was andere mitbringen, aus ihrer Tradition, ihrem Glaubenszeugnis, und ob es bei uns dafür Raum gibt, ob wir bereit sind, gemeinsam unterwegs zu sein. Und deutlich machen bzw. wiederentdecken, dass Kirche von Anbeginn die Gemeinschaft der vielen Verschiedenen war.
Interview: Sven Kriszio