Fünf Fragen zu Theodor Fontane
EKD-Kulturbeauftragter Johann Hinrich Claussen zum 200. Geburtstag des Schriftstellers
Das Fontane-Jahr war sehr groß. Das ist dem Jubilar zu verdanken, der es sich erlaubt hat, erst am 30. Dezember 1819 geboren zu werden – nur damit 200 Jahre später eine zwölfmonatige Feier stattfinden kann. Und sie wurde gut gefüllt mit Lesungen, Ausstellungen, Büchern und Artikeln. Da blieb fast nichts offen. Aber was bleibt übrig von diesem Festival? Und mit welchen Anregungen und Fragen könnte man ins nächste Jahr gehen?
Fontane ist ein so interessanter Schriftsteller gewesen, dass man eigentlich kein Jubiläum braucht, um ihn zu lesen. Deshalb seien hier fünf Fragen über Theodor Fontane gestellt, über die man auch 2020 noch nachdenken könnte.
1. Wer war Theodor Fontane?
Nicht selten sind die einfachsten Fragen zugleich die schwierigsten und interessantesten. Zum Beispiel diese: Wer war Fontane wirklich? Das lässt sich kaum sagen. Denn anders als es das Klischee vom heiter-gemütvollen Klassiker des alten Preußens will, war er eine widersprüchliche, undurchsichtige Person. Es ist das Verdienst des besten Buches zum Jubiläumsjahr, genau dies herausgestellt zu haben. In „Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung“ zeigt Iwan-Michaelangelo D'Aprile seinen Helden als einen Mann mit sehr vielen, zu vielen Eigenschaften. Er lässt sich nicht eindeutig zuordnen. Immer ist er in einem heiklen Dazwischen. Zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen den Progressiven und den Konservativen sucht er seinen Weg – als Einzelperson, Ehemann und Familienvater, als Berufsschreiber, der mühsam einen unsicheren Lebensunterhalt zu verdienen versucht, dabei so manche Kompromisse eingeht und doch seiner Bestimmung als Schriftsteller folgen möchte, schließlich als politischer Mensch, der instinktiv Abstand zum herrschenden Establishment sucht, sich von diesem aber auch bezahlen lässt, sich zugleich keiner fortschrittlichen Partei verschreiben mag. Als ein Mensch im Widerspruch dürfte Fontane für heutige Leser zunächst verwirrend, dann aber besonders anziehend sein. Denn hier zeigt sich ein Autor, der nicht Bescheid weiß, der unauflösbare Ratslosigkeiten und eigene Fehler mit Humor und weiser Resignation zu nehmen weiß und so seine Leser anregt, einen ehrlichen Blick auf ihre eigene Lebensspannungen zu werfen.
2. Was sollte man von Theodor Fontane als erstes lesen?
Wer Fontane, den Undurchsichtigen, dennoch ein bisschen näher kennenlernen will, sollte nicht zu seinen berühmten Romanen greifen. Er sollte lieber „Meine Kinderjahre“ zur Hand nehmen. Der Legende nach schrieb Fontane dieses kleine, feine Erinnerungsbuch auf Anraten seines Arztes. Schon in hohem Alter, war er ernsthaft erkrankt, wieder gesund geworden, doch als Nachwirkung in eine schwere Depression gefallen. Da er keine anderen Medikamente anzubieten hatte, riet ihm sein Arzt, über seine Kindheit zu schreiben. Dieses war eine der besten therapeutischen Ideen der Literaturgeschichte. Man kann es als Leser heute noch nacherleben, wie dieses Buch froh und heiter stimmt. Über den historischen Wert jedoch gehen die Meinungen der Gelehrten auseinander: Auch als Autobiograph blieb Fontane ein Romancier.
Sehr zu empfehlen ist zudem die Auswahl der Briefe, die Theodor Fontane und seine Ehefrau Emilie sich geschrieben haben. Das Buch trägt den schönen Titel „Die Zuneigung ist etwas Rätselhaftes“. Es zeigt das Bild einer sehr langen Ehe, die nicht nur leicht war. Das gemeinsame Leben war oft ärmlich und unsicher. Das ist der Preis für die Freiheit eines Schriftstellers, den allerdings vor allem Emilie bezahlen musste. Hinzu kam, dass Fontane seine Grundeinstellung so beschrieben hat: „Egoistisch bin ich, aber nicht lieblos.“ Aber es finden sich in diesem Buch auch ganz wunderbare Sätze, zum Beispiel: „Ich kann mir nicht helfen, ich finde Geld, so lange man genug zu einem bescheiden-anständigen Leben hat, gleichgültig. Ein guter Magen und guter Schlaf sind viel wichtiger zu dem, was man Glück nennt.“ Und ganz so schlimm kann es für Emilie, all seiner Selbstsucht zum Trotz, am Ende nicht gewesen sein, sonst hätte sie nicht, als sie an sein Totenbett trat, gesagt: „Es war ein schönes Leben mit ihm, ich würde es gleich noch einmal beginnen.“
3. Wenn Theodor Fontane heute durch die Mark Brandenburg wandern würde, welche Geschichten würde er aufsammeln und erzählen?
Fontane war ein großer Geschichten-Finder. Von ihm inspiriert, habe ich versucht, auf einer eigenen Fahrt durch die Mark Brandenburg Geschichten aus jüngerer Zeit aufzuspüren, die Fontane gefallen hätten. Meine Lieblingsgeschichte habe ich in einem Ort gefunden, der für sein Werk eine besondere Bedeutung besitzt: Lindow. Die dortige Klosterruine kommt nicht nur in seinen „Wanderungen“ vor, sondern auch in seinem ersten und seinem letzten Roman – in „Vor dem Sturm“ und im „Stechlin“. Aber in Lindow gibt es nicht nur auratische Ruinen, sondern auch eine lebendige Gemeindekirche. Hier trug sich 1989 eine unerhörte Begebenheit zu. Denn die friedliche Revolution fand nicht nur in Leipzig statt. Auch in Lindow kam es zu Protesten, Verhaftungen, Friedensgebeten und Demonstrationen. Vielleicht brauchte der Widerstand in einer kleineren Stadt einen größeren Mut. Am 6. Oktober 1989 klebte Steffen Schubach, Sohn des Gemeindepfarrers, als Protest gegen die offizielle Jubelfeier zum Jahrestag der Staatsgründung ein Plakat an die Litfaß-Säule am Marktplatz, auf dem zu lesen war: „40 Jahre DDR. Wir fordern: Freie Wahlen statt deren Manipulation / Reisefreiheit statt Massenflucht / Pressefreiheit statt Volksverdummung / Zivilersatzdienst statt Kriegsdienst / Meinungsfreiheit statt Bespitzelung“. Schnell eskalierte die Lage: In der Nacht darauf protestierten etwa zwanzig Jugendliche vor dem Rathaus; sie wurden am nächsten Tag verhaftet, einige direkt vom Fußballspielen auf dem Sportplatz weggeholt; abends zog eine Demonstration durch die Hauptstraße; Polizei rückte an; eine Barrikade wurde auf der Hauptstraße errichtet; am 9. Oktober kamen mehr als 500 Menschen zum ersten von drei Friedensgebeten in der Kirche zusammen; Unglaubliches geschah: Menschen zogen mit Kerzen in der Hand aus der Kirche zum Rathaus; Inhaftierte wurden freigelassen; auf öffentlichen Debatten – ebenso wie in den Friedengebeten – sagten die Lindower endlich frei ihre Meinung; die Angst schwand und mit ihr die alte Macht, Hoffnung kam auf und die Mauer fiel. Was hätte Fontane wohl aus diesem Stoff gemacht?
4. Wie stand Theodor Fontane zum Christentum?
Wie alles an ihm, war auch Fontanes Verhältnis zum christlichen Glauben zwiespältig. Das zeigen am besten die Pastorengestalten in seinen Büchern. Da sind zunächst die vielen Landgeistlichen, die er in seinen „Wanderungen“ vorstellt. Ihr Blick umgreift das ganze Leben ihrer Gemeinde, nichts Menschliches ist ihnen fremd. So können sie ihren Dienst tun, Gegensätze zu versöhnen. Aber Fontane sah, dass die Zeit der alten Dorfpastoren, die für alle da waren, zu Ende ging. Mit dem wirtschaftlichen und politischen Niedergang des Adels verlor auch die Landgeistlichkeit ihr Fundament. Ein gefährlicher Prozess der Vereinnahmung begann, und der Pastor wurde zum Interessenvertreter seines Patrons. Mit antimodernistischer Wut und unevangelischem Dogmatismus stemmte er sich gegen die gesellschaftlichen Veränderungen, die die Stellung seines Herrn gefährdeten. In Briefen hat Fontane oft über die „schweifwedelnden Pfaffen“ geschimpft, „die uns diese Mischung von Unverstand und brutalem Egoismus als 'Ordnung Gottes' aufreden wollen.“
Vor diesem düsteren Hintergrund gestaltete Fontane einige pastorale Lichtgestalten. Diese stattete er mit einer eigentümlichen Widerständigkeit aus. Sie gewinnen ihre Glaubwürdigkeit dadurch, dass sie sich nicht zum Werkzeug der Herrschenden machen lassen. Einer von ihnen ist Pfarrer Lorenzen aus dem „Stechlin“. Er hat das Glück, im alten Dubslav von Stechlin noch einen weitherzigen Patron alter Prägung zu besitzen, der „seinen“ Pfarrer weitgehend gewähren lässt. Lorenzen nutzt diese Freiheit für ein intensives soziales Engagement und eine undogmatische Verkündigung. Er versucht, die frühere Weite des märkischen Landpfarrers durch den Einsatz für die unteren Schichten wiederzugewinnen und nähert sich deshalb – unerhört! – der Sozialdemokratie an. Zu kirchlichen Konventionen hält Lorenzen Abstand. Indoktrination, religiöser oder moralischer Zwang sind ihm fremd. Er will andere Menschen in die Freiheit führen und diese auch für sich selbst bewahren. Dies bewährt sich im Umgang mit den letzten Fragen. Indem Lorenzen angesichts des Todes den aufgesetzten Ton vollbrünstiger Gewissheiten vermeidet, wird er dem alten Stechlin zum vertrauenswürdigen und tröstlichen Seelsorger. „Sonderbar“, wundert sich der alte Dubslav, „dieser Lorenzen is eigentlich gar kein richtiger Pastor. Er spricht nicht von Erlösung und auch nicht von Unsterblichkeit, und is beinah, als ob so was für alltags zu schade sei. Is gerade wie mit den Doktors. Aber zuletzt begibt man sich und hat die Doktors am liebsten, die einem ehrlich sagen: 'Hören Sie, wir wissen es auch nicht, wir müssen es abwarten.' Seit beinah zwanzig Jahren kenn ich Pastor Lorenzen, und noch hat er mich nicht ein einziges Mal belogen. Und dass man das von einem sagen kann, das ist eigentlich die Hauptsache.“
5. War Theodor Fontane ein Judenfeind?
Es gehört zu jedem sinnvollen, nachdenklichen Jubiläum, dass man auch die dunklen Seiten des Jubilars betrachtet. Das ist in Deutschland inzwischen einfach Standard, zum Glück. Es hat also nichts mit einer angeblichen politischen Korrektheit zu tun, wenn wir uns auch an judenfeindliche Äußerungen Fontanes erinnern, sondern dies ist notwendiger Teil einer aufgeklärten Gedenkkultur. Allgemein bekannt ist, dass vor allem der alte Fontane judenfeindliche Ressentiments gehabt und sich besonders in späten Briefen sehr hässlich geäußert hat. Der älteren Sekundärliteratur noch hatte ich entnommen, dass Fontane seine Judenfeindlichkeit zwar privat „gepflegt“, aber nicht so sehr in seine Romane hat einfließen lassen – jedenfalls viel weniger als zeitgenössische Kollege wie Gustav Freytag. Doch der Germanist Norbert Mecklenburg hat in einem Vortrag zum Fontane-Jahr, den ich nachlesen konnte, gezeigt, wie viele antijüdische Spuren auch in den ansonsten so beliebten und menschenfreundlichen Romanen zu finden sind. Gerade in den künstlerisch besten Romanen werde auch die Herabsetzung der Juden immer subtiler, raffinierter und damit wirkungsvoller betrieben.
Den für mich schrecklichsten Fontane-Text fand ich jedoch in einem dicken Band mit all seinen Gedichten, den ich im Sommer gelesen habe. Viele Verse haben mich mit ihrer volkstümlichen, humorvollen, hintersinnigen Humanität angesprochen. Dann aber bin ich weit hinten auf eine Ballade mit dem Titel „Die Jüdin“ gestoßen. Sie erzählt, wie eine junge Jüdin einen Christenknaben mit einem roten Apfel in ihr Haus lockt, ihn mit einem silbernen Messer ermordet und anschließend in einem Brunnen versenkt, so dass die christliche Mutter ihn vergeblich sucht. Ein sentimentales Schauermärchen, das aus der üblen Motiv-Kloake des Antisemitismus schöpft. Auch das also war Fontane.
Es kann hier nicht darum gehen, sich nachträglich über Fontane zu empören – um sich über ihn zu erheben. Das wäre eine langweilige, fruchtlose Ideologiekritik, die sich darauf beschränkte, von einer vermeintlich höheren moralischen Warte aus über die bösen Menschen damals zu urteilen. So etwas fördert nur die eigene Selbstgerechtigkeit. Zu solch einem historischen Chauvinismus hat die Gegenwart kein Recht. Echte Ideologiekritik muss am Ende bei sich selbst ankommen und ein selbstkritisches Nachdenken eröffnen. Gerade hier aber ist Fontanes Judenfeindlichkeit so wichtig. Denn anders als im Fall des nationalsozialistischen Antisemitismus oder im Fall der antijüdischen Pöbeleien des späten Luther, von denen man sich doch persönlich leicht distanzieren kann, wird man den anderen, den dunklen Fontane nicht so schnell los. Dafür ist er als liberaler, heiter-freundlicher, humanistischer Bürger und Erzähler einem zu nahe, ein Bruder im Geiste. Dass gerade er ebenfalls diese unheimliche Neigung in sich trug, eine willkürlich ausgewählte Menschengruppe der grundsätzlichen Verachtung preiszugeben, das kann seinen Lesern heute besonders zu denken geben. Denn wie viel Fontane steckt auch in uns?
Johann Hinrich Claussen (für evangelisch.de)