Demokratie braucht Tugenden
Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens, Gemeinsame Texte Nr. 19, November 2006
1. Die deutsche Demokratie angesichts der Herausforderungen der Gegenwart
Die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland hat – nicht zuletzt im Prozess der Vereinigung Deutschlands – ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt. In der Erfahrung der Sicherung von Frieden und steigendem Wohlstand hat sie bei den Menschen in Deutschland großen Rückhalt gefunden. Die Legitimation und Kontrolle staatlicher Macht durch die Bürgerinnen und Bürger, auch durch den Gebrauch der Meinungs- und Pressefreiheit, die zeitliche Begrenzung von Herrschaft, die Unabhängigkeit der Justiz, die Teilung der Gewalten, all diese Grundanforderungen an eine politische Ordnung für ein Leben in Würde und Freiheit hat das Grundgesetz denkbar gut gewährleistet. Das sind gute Voraussetzungen für die Erfüllung politischer Aufgaben, selbst wenn sie schwierig sind und teilweise sogar unlösbar erscheinen mögen. Unter den zahlreichen, von der deutschen Politik heute zu bearbeitenden Aufgaben und Problemen ragen zwei heraus:
Das zentrale Gegenwartsproblem ist die hohe Arbeitslosigkeit. Zahlreiche Folgeprobleme haben darin ihre Ursachen: In immer größerem Umfang müssen Steuergelder aufgebracht werden, um die Folgeschäden der Unterbeschäftigung zu begleichen. Die Menschen spüren diese Krise. Viele Arbeitslose fühlen sich von einer Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ausgeschlossen. Das gilt insbesondere auch, wo die Integration von Zuwanderern nicht hinreichend gelungen ist und ihnen deshalb der Zugang zu Gesellschaft und Arbeitsleben fehlt. Eine grundlegende Besserung ist nicht in Sicht. Zugleich kann das Gemeinwesen seinen Bürgerinnen und Bürgern immer weniger die gewohnten Leistungen in den Bereichen Gesundheit, Alterssicherung, Sozialhilfe, Bildung usw. gewährleisten. Es ist nötig, das rechte Verhältnis zwischen dem herzustellen, was der Staat leisten soll und was er leisten kann, und den Aufgaben, die die Einzelnen zu übernehmen haben. Mehr Beteiligungsgerechtigkeit ist notwendig.
Das zentrale Zukunftsproblem ist die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft. In Deutschland gibt es zu wenig Menschen, die sich für eine Familie und Kinder entscheiden. Die Ursachen dieser Entwicklung sind vielfältig: Am Anfang mag für viele die Scheu vor der Übernahme langfristiger Bindungen und Lasten stehen. Aber auch die unsichere Situation auf dem Arbeitsmarkt und eine unzureichend auf Kinder eingestellte Lebensumwelt machen die Entscheidung für Kinder nicht eben leicht. Wer sie für seine Familie nicht trifft, verzichtet aber auf eine nachhaltige Lebensfreude. Für die Familie wie für die Gesellschaft gilt: Ohne Kinder gibt es keine Zukunft. Deshalb darf es bei den gesellschaftlichen und politischen Erschwernissen für das Leben mit Kindern nicht bleiben. In der derzeitigen Struktur der sozialen Sicherung werden „die Alten“ gegenüber „den Jungen“ und insbesondere die Kinderlosen gegenüber jenen bevorzugt, die Kinder großziehen. Die Möglichkeiten zu einer Vereinbarung von Elternverantwortung und Berufstätigkeit einerseits und zur Entscheidung für eine Erziehungstätigkeit ohne Benachteiligung andererseits sind noch unzureichend ausgestaltet. Mit dem Rückgang der Familien ist auch der Verlust einer wesentlichen Form gesellschaftlicher Solidarität verbunden. Die Überschuldung des Staates begrenzt nicht nur den Handlungsspielraum der politischen Akteure erheblich, mit ihrer Hilfe leben wir heute auf Kosten der nach uns kommenden Generationen. Wesentliche Strukturen entsprechen weder der Gerechtigkeit zwischen noch innerhalb der Generationen.
Diese grundlegenden Probleme stellen sich unserer Gesellschaft vor dem Hintergrund weltweiter Veränderungen: Die Globalisierung erweitert und verdichtet die Beziehungen zwischen Staaten, Gesellschaftssystemen und Unternehmen. Die stärker globalisierte Ökonomie verschärft den Wettbewerb weltweit. Die Steuerungsfähigkeit der Nationalstaaten verändert sich. Um Handlungsmöglichkeiten zu bewahren, bilden Staaten miteinander neue, supranationale Räume politischen Handelns wie die Europäische Union. Die damit verbundene Abtretung von Souveränitätsrechten an überstaatliche politische Ordnungen relativiert den Einfluss der einzelnen Mitgliedstaaten und den ihrer Wählerinnen und Wähler.
Sicher hat die Politik weder hinsichtlich der Arbeitslosigkeit noch hinsichtlich der demographischen Entwicklung oder der Auswirkungen der wirtschaftlichen Globalisierung einen Generalschlüssel zur Lösung der Probleme in der Hand, auch wenn viele Bürgerinnen und Bürger dies erwarten und darin von der Rhetorik des Parteiwettbewerbs bestärkt werden. Aber die Politik muss ihre nach wie vor recht erheblichen Möglichkeiten ausschöpfen. Ihr Instrumentarium ermöglicht aussichtsreiche Arbeit an den bestehenden Herausforderungen. Wäre Politik völlig bedeutungslos, so wäre bei allen Unterschieden im Einzelnen unverständlich, warum es vergleichbare Länder gibt, die in der Auseinandersetzung mit ähnlichen Problemen deutlich erfolgreicher sind als Deutschland.
In Deutschland scheint die Problemlösung besonders schwer zu fallen. Das liegt nicht nur an der bereits genannten Reduzierung des politischen Handlungsspielraums. Hinzu kommen in den politischen, administrativen und gerichtlichen Verfahren vielfältige Möglichkeiten, Veränderungen des Bestehenden abzuwehren oder zu erschweren. Sie werden ausgiebig genutzt nach einer Entwicklung, die im Ganzen durch einen ständig steigenden Lebensstandard aller Bevölkerungsgruppen einschließlich der Rentner, Pensionäre und Bezieher von staatlichen Hilfen geprägt war. Deutschland hat für die hier lebenden Menschen eine im internationalen Vergleich hohe Lebensqualität ermöglicht, auch durch den immer wieder erweiterten und verbesserten Bestand an Sicherheit und öffentlichen Diensten.
Finanziert werden diese Verbesserungen seit langem auch mit Hilfe von Kreditaufnahmen. Die damit verbundene Belastung künftiger Generationen findet bei den heutigen Leistungsempfängern zu wenig Beachtung. Befremdet sind sie vielmehr darüber, dass sie jetzt Stillstand und auch Kürzungen in Kauf nehmen sollen. Der damit bei den Bürgerinnen und Bürgern verbundene Vertrauensverlust in die Handlungsfähigkeit der Parteien und ihrer Vertreter hat zur Folge, dass sich die Parteien ihrer angestammten Wählerschaft nicht mehr sicher sein können. Um gleichwohl Unterstützung für ihre Politik zu gewinnen, berücksichtigen Parteien stärker individuelle Wählerinteressen und durch Verbände formulierte Partikularinteressen. Im Ergebnis tritt, verstärkt durch die häufigen Wahlen, eine langfristige Perspektive in den Hintergrund, nachhaltige Politik wird zweitrangig und ihre Umsetzung schwierig, ja nahezu unmöglich.
Die entscheidenden Fragen lauten mithin: Wie kann demokratische Politik von den schwierigen Ausgangsbedingungen her die Kraft gewinnen, ihren Teil zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen beizutragen? Und besonders: Wie kann die Gegenwartsfixierung der Politik aufgebrochen werden, damit sie ihrer Zukunftsverantwortung gerecht werden kann? Die Institutionen und Verfahrensweisen der Demokratie müssen dazu ihren Beitrag leisten. Doch dies wird nur Erfolg haben, wenn die Politiker den Mut zu einer langfristig orientierten Politik aufbringen und die Bürger bereit sind, die daraus entstehenden Lasten für die Gegenwart zu tragen.