Wie ein Riss in einer hohen Mauer
Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, EKD-Texte 100 (2., um den Anhang erweiterte Auflage), 2009
IV. „Wenn ihr umkehrtet …, so würde euch geholfen.“
Es ist offenkundig, dass diese Krise nur politisch – und zwar gemeinsam in der internationalen Staatengemeinschaft – bewältigt werden kann. Einigkeit besteht weithin darüber, dass es kurzfristig die vorrangige Aufgabe der Politik ist, für Stabilität auf den Finanzmärkten zu sorgen und Massenarbeitslosigkeit zu verhindern. Dazu müssen „systemrelevante Komponenten“ der Finanzmärkte erhalten werden. Die kurzfristig notwendigen Stabilisierungsmaßnahmen sollten aber im Einklang mit langfristig sinnvollen neuen Regulierungen der Finanzmärkte stehen.
Die internationalen Diskussionen haben deutlich unterschiedliche Auffassungen darüber offenbart, wann und wie der „Tiefpunkt“ der Krise erreicht sein wird, das heißt: in welchem Ausmaß Kreditausfälle zu Tage treten werden und wie intensiv die Realwirtschaft in die Krise hineingezogen werden wird. Daher gibt es erhebliche Differenzen in den Krisenbewältigungsstrategien. Die einen setzten sehr rasch auf eine intensive Konjunkturpolitik, um neue Wachstumsimpulse zu erzeugen. Den anderen ging es zunächst vorrangig darum, die Krise an ihrem Ursprung, also in den schlecht regulierten Finanzmärkten, zu bekämpfen. Inzwischen geben alle Industrienationen umfassende konjunkturelle Impulse, um die Wirtschaftskrise zu bekämpfen, und bekennen sich zu einer verbesserten Finanzmarktregulierung, um die Finanzmarktkrise zu bewältigen.
Kurzfristig wird der Krise in den meisten Ländern durch Konjunkturprogramme begegnet. Es besteht allerdings die große Gefahr, dass die Kosten hierfür in sozial unausgewogener Weise über den Abbau staatlicher Leistungen und Reduktionen bei den sozialen Sicherungssystemen, vor allem aber zu Lasten künftiger Generationen aufgebracht werden müssen.
Wenn die Finanzmärkte nicht international reguliert werden, werden sie sich erneut von der Realwirtschaft abkoppeln – mit den bekannten Risiken. Zudem wird der derzeitig hohe Kapitalbedarf der entwickelten Industrieländer dazu führen, dass den Schwellen- und Entwicklungsländern die Kapitalbeschaffung erheblich erschwert wird.
Mittelfristig kann diese Krise nur durch eine politische Gestaltung der Finanzmärkte bewältigt werden. Die ersten internationalen Gipfeltreffen lassen einen politischen Willen erkennen, die Weltfinanzmärkte besser als bisher zu regulieren. Ob es tatsächlich gelingt, mit hohem Risiko behaftete Finanzmarktprodukte konsequent zu regulieren oder sogar zu verbieten und Steuerhinterziehung in den so genannten Steueroasen zu unterbinden, ist noch offen. Prinzipiell scheint jedoch das vorherrschende Paradigma von Wachstum und Wettbewerb unangetastet zu bleiben. Ziel der Wirtschafts- und Ordnungspolitik bleibt zur Zeit offenbar die Herstellung neuer Impulse für quantitatives Wirtschaftswachstum.
Langfristig können Krisen dieses Ausmaßes nur durch ein umfassendes Umsteuern der internationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik bewältigt und verhindert werden. Dabei genügt es nicht, die zutage getretenen Risiken heutigen Wirtschaftens in den Blick zu nehmen. Es ist vielmehr überlebenswichtig, auch die Risiken für die zukünftigen Generationen, für die armen Länder und für die natürlichen Grundlagen des Lebens als Kern künftiger Krisen zu erkennen. Die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise muss deshalb über die Veränderung der internationalen Finanzmarktregulierung hinaus zu internationalen Abkommen führen, die der nachholenden Entwicklung in den armen Ländern des Südens, der sozialen Sicherung, der Begrenzung und Milderung der Folgen des Klimawandels und der Sicherung von Ernährung und natürlichen Ressourcen dienen. Wenn das gelingt, wird die Krise zur Chance dafür, Elemente einer Rahmensetzung für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung über die nationale Ebene hinaus zu entwickeln und Impulse für eine Neuorientierung der Wirtschaft am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung zu setzen.