Das Prinzip der Solidarität steht auf dem Spiel
Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu den aktuellen Herausforderungen im Gesundheitswesen, EKD-Text 110, 2010
Vorwort
Deutschland erlebt zum wiederholten Mal eine gesellschaftliche Diskussion über die Reform des Gesundheitswesens. Mit Gesetzesinitiativen zur Eingrenzung der Arzneimittelpreise und zur "nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FinG)" will die Regierung nicht nur kurzfristig kostendämpfende Wirkungen erzielen; sie will zugleich eine strukturelle Veränderung der Finanzierungsgrundlagen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) einleiten und den Wettbewerb der gesetzlichen Krankenkassen intensivieren. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) nimmt mit der hier vorgelegten Orientierungshilfe des Rates zu diesem Reformvorhaben Stellung, weil es ihr um die grundlegenden Fragen der Gemeinwohlentwicklung in Deutschland geht. Dabei äußern wir uns auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen von diakonischen Trägern in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, in Diensten für behinderte Menschen und in der Arbeit mit benachteiligten Bevölkerungsgruppen.
Angesichts des enormen gesellschaftlichen und demographischen Wandels geht es heute darum, eine nachhaltige Finanzierung und eine eigenverantwortliche Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zu fördern, zugleich aber sicherzustellen, dass Gerechtigkeit und Solidarität erhalten oder – wo nötig – überzeugend neu gestaltet werden. Dabei kann auch der Wettbewerb dazu dienen, Anreize für fachliche Innovationen zu schaffen. Vor allem aber müssen Fachkräfte aus Medizin und Pflege und auch aus anderen therapeutischen Berufen gewonnen und zur Mitarbeit ermutigt werden. Angesichts der Komplexität des Gesundheitssystems ist es unvermeidlich, dass Gesundheitspolitik zwischen einer grundsätzlichen strategischen Ausrichtung und kurzfristigem Agieren changiert. Die immer umstrittenen kleinen Reformschritte einer jeden Regierung, die häufig von der nächsten neu angepasst werden und die darin erkennbare allmähliche, pfadabhängige Entwicklung und Veränderung des Gesundheitssystems in Deutschland dürfen aber nicht darüber hinweg täuschen, dass bei grundlegenden Veränderungsvorhaben politische Debatten zu Grundlagen, Zielen und Kriterien für die Gesundheitspolitik notwendig sind. Eine solche Debatte wollen wir mit dieser Orientierungshilfe anstoßen: Dabei geht es uns um die Grundlagen des solidarischen Krankenversicherungssystems in Deutschland.
Versicherte brauchen Vertrauen in eine gute Gesundheitsversorgung, Leistungserbringer Planungssicherheit und Gestaltungsmöglichkeiten und Kostenträger eine auskömmliche Finanzierung, die allerdings die Gesamtgesellschaft nicht überlasten darf. Die derzeitige Reforminitiative sieht zwar auf der Ausgabenseite erste Schritte in Richtung auf eine stärkere Regulierung des hochpreisigen deutschen Pharmamarktes vor; ob die erhofften Einsparungen greifen, ist aber umstritten. Im Blick auf die Leistungserbringerseite fehlen hingegen Ideen zur Hebung der Effizienzreserven und zur Eröffnung professioneller Steuerung – zum Beispiel durch eine überfällige Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung. Zugleich werden aber deutliche Veränderungen auf der Einnahmeseite, nämlich bei der Finanzierung der GKV, angestrebt. Hier soll ein kompliziertes neues System aus einem einkommensabhängigen Beitrag der GKV-Versicherten, einem einkommensunabhängigen Zusatzbeitrag und – wo nötig – einem Sozialausgleich eingeführt werden. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, ob die für dieses System notwendige Bürokratie nicht schon einen erheblichen Teil der erhofften Einnahmen verbraucht. Besonderen Anlass zur Sorge gibt die Möglichkeit, dass mit einer oberflächlich betrachtet rein technischen Reform der Finanzierungsmodalitäten grundlegende strukturelle Veränderungen des Systems eingeleitet werden. Manche sprechen in diesem Zusammenhang bereits von einer "stillen Revolution" der Krankenkassenfinanzierung.
Die Evangelische Kirche in Deutschland befürchtet, dass die hier vorgelegten Reformschritte eine weitere Aushöhlung der Solidarität mit sich bringen: Zum einen wird die paritätische Finanzierung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die schon in der letzten Gesundheitsreform unterminiert wurde, mittelfristig noch weiter zurück genommen. Sodann wird die einkommensrelative Beitragsfinanzierung zugunsten einer im Prinzip nach oben hin offenen einkommensunabhängigen Zusatzleistung ergänzt. Damit kommt es zu einer überproportionalen Belastung derer, die als Geringverdiener ihren eigenen Unterhalt sichern müssen. Darüber hinaus führt die Erleichterung des Wechsels zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung zu einer Bevorzugung der PKV und der nicht gesetzlich Versicherten. Vor allem aber steht zu befürchten, dass die kurzfristigen Kostendämpfungen zu weiteren Personaleinsparungen und Einschränkungen der Beschäftigungsqualität führen, die die Attraktivität der Gesundheitsberufe weiter verringern und den anstehenden Fachkräftemangel verschärfen.
Auf Grund ihrer Sorge um ein zukunftsfähiges und solidarisches Gesundheitssystem in Deutschland hat der Rat der EKD im Februar dieses Jahres eine ad-hoc-Kommission zu den zukünftigen Herausforderungen des Gesundheitswesens einberufen. Diese Kommission wird bis zum Frühjahr 2011 eine Schrift erarbeiten, die Vorschläge für notwendige Schritte zum Erhalt und zur Neugestaltung des Gesundheitssystems einschließlich der Pflegeversicherung macht und auch die Fragen allgemeiner Gesundheitspolitik nicht ausklammert. Angesichts des vorgelegten Gesetzentwurfes hielt es der Rat der EKD jedoch für notwendig, bereits kurzfristig eine Orientierungshilfe vorzulegen, die auf das aktuelle Reformvorhaben reagiert. Dabei sind wir überzeugt, dass eine gerechte und gute Gesundheitspolitik wesentliche Impulse aus religiösen Überzeugungen gewinnen kann. Wir rufen deshalb auch theologische Kriterien in Erinnerung, mit deren Hilfe politische Richtungsentwicklungen beurteilt und gegebenenfalls korrigiert werden können. Zwar machen Religion und Moral nicht einfach Politik; sie machen aber Politik möglich – und damit auch manche Politik unmöglich.
Ich danke den Mitgliedern der ad-hoc-Kommission zu den aktuellen Herausforderungen der Gesundheitspolitik, insbesondere ihrem Vorsitzenden, Prof. Dr. Peter Dabrock, für die Vorbereitung dieser Orientierungshilfe.
Hannover, am 27.10.2010
Präses Nikolaus Schneider
Amtierender Vorsitzender des Rates der EKD