Weltentstehung, Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube in der Schule
Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD-Texte 94, 2008
3. Bildungstheoretische Perspektiven, Schule, Religionsunterricht
3.1 Anforderungen an eine umfassende und differenzierte Bildung
Nach evangelischem Verständnis ist Bildung mehr als Wissen oder Können. Bildung umfasst auch die Fragen nach dem Grund allen Wissens sowie nach dem Ziel allen Erkennens. Wissenschaftstheoretische und erkenntnistheoretische Fragen gehören deshalb ebenso zur Bildung wie die nach dem Woher und Wohin des menschlichen Lebens. Wissen und Wissenschaft tragen nur dann zur Bildung bei, wenn sie auch im ethischen Horizont wahrgenommen werden. Bildung bedeutet Wertschätzung von Wissen, Erkenntnis und Vernunft, schließt aber auch die Einsicht in deren Grenzen ein (vgl. die Bildungsdenkschrift der EKD "Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft", 2003).
Umfassende und differenzierte Bildung wird erst möglich, wenn verschiedene Weltzugänge und Erkenntnisweisen voneinander unterschieden, aber eben auch aufeinander bezogen werden können. Das in den Naturwissenschaften gewonnene Verständnis von Komplementarität als der Notwendigkeit, einander widersprechende Erklärungsmöglichkeiten nebeneinander zu benutzen, ist auch bildungstheoretisch fruchtbar zu machen. In der Bildungsdiskussion der Gegenwart können dafür Unterscheidungen wie die zwischen Verfügungs- und Orientierungswissen stehen oder auch die Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen der Weltbegegnung. Dazu gehören die Modellierung der Welt durch Mathematik und Naturwissenschaften, die Begegnung und Gestaltung durch Sprache, Literatur, Musik, Malerei und Bildende Kunst, die Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft in Geschichte, Ökonomie, Politik und Recht (kognitiv-instrumentelle, ästhetisch-expressive, moralisch-evaluative Rationalität, vgl. PISA-Studie 2000). Von all dem zu unterscheiden sind Religion und Philosophie, weil es hier um "Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu des menschlichen Lebens" und somit um "Probleme konstitutiver Rationalität" (Jürgen Baumert) geht. Insgesamt bildet die systematische Beschäftigung mit unterschiedlichen Formen der Weltbegegnung das grundlegende Gerüst der Bildungsprogramme moderner Schulen. Auf diese Weise werden unmittelbare Welterfahrungen und zwischenmenschliche Beziehungen mit den wissenschaftlichen Weltdeutungen verbunden. Dabei müssen sich die Schülerinnen und Schüler mit den bestehenden Differenzen auseinandersetzen und diese reflektieren lernen.
3.2 Religion und Naturwissenschaften in der Schule
Wenn zur Bildung unverzichtbar unterschiedliche Weltzugänge sowie die Einsicht in diese gehören, dann kann in der Schule weder auf Religion noch auf die Naturwissenschaften verzichtet werden. Bildungstheoretisch entscheidend ist nicht, wie dies im Einzelfall in einer bestimmten Schule realisiert wird - ob beispielsweise bestimmte Unterrichtsfächer für die Pflege einzelner wissenschaftlicher Disziplinen eingerichtet werden oder nicht. Sichergestellt sein muss allerdings, dass Kinder und Jugendliche in der Schule unterschiedliche Weltzugänge kennen lernen und sich deren jeweiliger Eigenart bewusst werden können. Dies schließt notwendigerweise auch das Nachdenken über das Verhältnis solcher Zugänge zueinander ein. Die Einrichtung spezialisierter Unterrichtsfächer beispielsweise für Biologie, Physik und Religion gewährleistet die Wahrnehmung entsprechender Perspektiven auf die Wirklichkeit, kann jedoch auch zu einer (Selbst-)Isolierung der verschiedenen Weltzugänge führen. Für eine nach Fächern organisierte Schule sind fächerverbindende Einheiten oder Arbeitsweisen deshalb besonders wichtig.
Über seine bildungstheoretische Begründung hinaus ist der schulische Religionsunterricht Ausdruck der im Grundgesetz (Art. 4 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 3) garantierten Religionsfreiheit. Er dient der freien Religionsausübung im Sinne der positiven Religionsfreiheit (vgl. die Denkschrift der EKD zum Religionsunterricht "Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität", 1994). Diesem Ziel kann auch die fächerverbindende Kooperation mit dem Religionsunterricht entsprechen, indem sie beispielsweise im naturwissenschaftlichen Unterricht aufbrechende religiöse Fragen aufnimmt oder bloß scheinbare Widersprüche zwischen Glaube und naturwissenschaftlicher Erkenntnis klärt. Der Religionsunterricht bemüht sich schon seit mehr als einhundert Jahren um eine Darstellung des Schöpfungsglaubens, die der kategorialen Unterscheidung zwischen Glaube und Wissenschaft entspricht und die für die Erkenntnisse der Naturwissenschaften offen ist.
3.3 Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie im Unterricht der Schule
In Schulen, die keiner bestimmten Weltanschauung verpflichtet sind, kann es keine Thematisierungsverbote geben. Deshalb können sich prinzipiell alle Unterrichtsfächer sowohl mit dem Schöpfungsglauben als auch mit der Evolutionstheorie auseinandersetzen, allerdings unter strenger Beachtung ihrer jeweiligen Kompetenz und der Anforderungen einer wissenschaftlich verantworteten Bildung. Da beide, Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie, in freilich nicht zu übergehender unterschiedlicher Art und Weise, unsere Kultur und Geschichte geprägt haben und prägen, ist es auch wünschenswert, dass sich die Schule damit - kritisch - befasst.
Ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit von Schülerinnen und Schülern oder von deren Eltern kann darin zumindest dann nicht gesehen werden, wenn der Unterricht nicht in religiöser oder antireligiöser Hinsicht beeinflusst. Das Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates bedeutet nicht, dass Religion in der staatlichen Schule nicht vorkommen dürfte oder dass Kinder und Jugendliche überhaupt davor bewahrt werden müssten, religiösen Ausdrucksformen zu begegnen. Die positive Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler schließt im Gegenteil ein, dass sie im Dialog mit anderen Auffassungen im Unterricht eigene - zum Beispiel auch kreationistische - religiöse und weltanschauliche Überzeugungen zum Ausdruck bringen dürfen. Allerdings können Lehrerinnen und Lehrer schon aufgrund ihrer pädagogischen Verantwortung und der mit ihrem Beruf verbundenen Mäßigungspflicht kein vergleichbares Recht für sich geltend machen, weder hinsichtlich des Kreationismus noch hinsichtlich anderer - zum Bespiel atheistischer - Weltanschauungen.
Im Religionsunterricht hat das christliche Bekenntnis eine grundlegend andere Bedeutung als in anderen Fächern. Zu diesem Bekenntnis gehört der Glaube an Gott, den Schöpfer, nicht jedoch der Kreationismus. Ein evangelischer Religionsunterricht, der gemäß Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen" der evangelischen Kirche erteilt wird, kann deshalb den Kreationismus zwar thematisieren, ihn jedoch nicht vertreten. Ein solcher Religionsunterricht folgt dem oben beschriebenen Verständnis von Schöpfungsglauben und ist deshalb an einem offenen, differenzbewussten Gespräch mit den naturwissenschaftlichen Fächern interessiert.
Bei der bildungstheoretisch und schulisch wünschenswerten Auseinandersetzung mit Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie, aber auch mit dem Kreationismus sowie mit deren Verhältnis zueinander stoßen die einzelnen Unterrichtsfächer notwendigerweise an Grenzen ihrer Kompetenz. Dies gilt für den Religionsunterricht ebenso wie für den Biologieunterricht oder andere naturwissenschaftliche Fächer. Eine besondere Chance kann darin liegen, wenn Lehrerinnen oder Lehrer Theologie und Biologie studiert haben. In der Regel empfiehlt sich jedoch ein fächerverbindender Unterricht, in den zwei oder mehr Lehrkräfte ihre unterschiedlichen Kompetenzen einbringen können. Auf diese Weise kann eine wissenschaftlich verantwortete Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Weltzugängen und wissenschaftlichen Disziplinen beziehungsweise mit deren Ergebnissen gewährleistet werden. Gegen eine solche Kooperation beispielsweise des Biologieunterrichts mit dem Religionsunterricht spricht im Übrigen auch nicht das Recht, sich vom Religionsunterricht abzumelden. Ein derartiger fächerverbindender Unterricht ist kein Religionsunterricht im Sinne von Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes; er steht daher insgesamt nicht unter der Voraussetzung eines bestimmten Bekenntnisses, auch wenn dabei evangelische oder katholische Religionslehrkräfte auf dem Hintergrund ihres jeweiligen Bekenntnisses christliche Perspektiven und Weltzugänge erläutern. Die Bildungsbedeutung des fächerverbindenden Unterrichts besteht vielmehr gerade in der Offenheit für unterschiedliche Perspektiven und Weltzugänge.
3.4 Didaktische Prinzipien für die schulische Behandlung von Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie
Sowohl für den Unterricht in den einzelnen Fächern als auch für fächerverbindendes Arbeiten sind folgende Prinzipien hervorzuheben:
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Weltbilder und Weltzugänge entstehen nicht erst im Unterricht. In der Didaktik der Naturwissenschaften wie in der Religionsdidaktik finden deshalb sogenannte Alltagstheorien oder entwicklungsbedingte Verstehens- und Deutungsweisen zunehmend Beachtung. Auch im Blick auf Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie sollten die Vorstellungen der Kinder und Jugendlichen einen konstitutiven Ausgangspunkt für Lehren und Lernen bilden.
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Ein angemessener Umgang mit Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie setzt Einsichten in erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Zusammenhänge voraus. Es ist deshalb eine besonders wichtige didaktische Aufgabe, Kinder und Jugendliche mit der Eigenart unterschiedlicher Weltzugänge und Deutungen von Mensch und Wirklichkeit bekannt zu machen sowie zu klären, nach welchen Prinzipien wissenschaftliches Erkennen erfolgt. Als besonders klärungsbedürftig müssen dabei häufig von populären Missverständnissen begleitete Begriffe wie "Tatsache", "Beweis" und "Widerlegung" (Verifikation und Falsifikation), "Hypothese", "Theorie", "Erkenntnisfortschritt" usw. gelten. Darüber hinaus sollten die unterschiedlichen Zuordnungsmodelle für unterschiedliche Weltzugänge, insbesondere im Sinne eines komplementären Denkens, eingeführt werden.
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Weiterführende Klärungen lassen sich nur erzielen, wenn beide, Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie, nicht von ihren problematischen Verzerrungen, sondern von einem ihnen jeweils angemessenen differenzierten Verständnis her aufgenommen werden. Der Bezug auf den Ultradarwinismus oder auf den Sozialdarwinismus eignet sich dazu ebenso wenig wie der auf den Kreationismus, so wichtig die kritische Auseinandersetzung mit ihnen im Übrigen ist. Ähnlich verhindert eine Einführung der Evolutionstheorie als wissenschaftliche Kritik am Schöpfungsglauben oder gar als Ersatz für diesen von vornherein ein sachliches Verständnis der Eigenart beider Weltzugänge in ihrer Unterschiedenheit. Nicht nur die Evolutionstheorie, sondern auch der Schöpfungsglaube müssen unter sorgfältiger Berücksichtigung ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Klärung thematisiert werden.
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Die Auseinandersetzung mit Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie vollzieht sich für Kinder und Jugendliche nicht unabhängig von den kulturellen Zusammenhängen, in denen sie aufwachsen. In religiöser Sicht problematisch sind vor allem die in den Medien weit verbreiteten populär- oder pseudowissenschaftlichen Darstellungen, die aus der Evolutionstheorie eine Weltanschauung machen, welche den Glauben überflüssig werden lasse. Der Unterricht sollte sich auch mit solchen Verzerrungen der Evolutionstheorie kritisch befassen.
So ist festzuhalten, dass sowohl die These "Darwin beweist, dass es Gott nicht gibt" als auch die These "Gott beweist, dass Darwin Unrecht hat" eine didaktische Fehlleistung wäre. Auch darf der Biologieunterricht nicht beanspruchen, weltanschaulich-religiöse Bildung zu vermitteln und so unter der Hand zum Religionsunterricht - auch nicht in einem antireligiösen Sinn - zu werden.
3.5 Unbewältigte Zukunftsprobleme als gemeinsame Herausforderung
Die Auseinandersetzungen zwischen Evolutionstheorie und Kreationismus sowie ihre Auswirkungen auf die Schule haben in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit gefunden. Darüber sollte nicht übersehen werden, dass tatsächlich andere Probleme, vor die sich Naturwissenschaften und Schöpfungstheologie gestellt sehen, eine weit höhere Dringlichkeit besitzen. Die Frage, ob und wie Leben und Überleben in einer auf viele Weisen gefährdeten Welt gesichert werden können, mit welchen Mitteln etwa den Folgen eines durch menschliches Handeln mitverursachten Klimawandels begegnet werden soll und wie die Rechte zukünftiger Generationen im Blick auf endliche Ressourcen gewahrt werden können, ist ebenso offen wie die Frage nach den Grenzen für menschliche Eingriffe im Bereich der Humangenetik. Diese und viele andere Herausforderungen betreffen Naturwissenschaften und Theologie gleichermaßen; die größte Herausforderung besteht darin, wie sie gemeinsam zu einem Leben und Überleben in Humanität beitragen können. Christlicher Glaube versteht die Güter des Lebens als Gottes Gaben, erzieht zu Dankbarkeit, schärft ein, Maße und Grenzen menschlicher Geschöpflichkeit ernst zu nehmen, und ermutigt dazu, in der Kraft des befreienden Evangeliums von Jesus Christus an den gesellschaftlichen Aufgaben verantwortungs- und hoffnungsvoll mitzuwirken.