Erfahrungen
minderheitlich werden – eine Denkfigur zur Kirchenentwicklung
Entscheidend für das Selbstverständnis der evangelischen Kirchen in der DDR wurde der Aufruf des Erfurter Probstes Heino Falke an die Christinnen und Christen in der DDR, sich ebenda zu engagieren „für eine verbesserliche Kirche in einem verbesserlichen Sozialismus“.
Was das für die Menschen mindestens bedeutete, beschreibt Falcke in folgender Erinnerung: „Als uns 1980 Roger Schutz aus Taizé besuchte, kam es auf dem Domberg in Erfurt zu folgender Szene: Wir standen als Leiter des Gottesdienstes oben vor dem Dom, da löste sich aus der Gemeinde zu Füßen der Domstufen ein kleiner Junge und stieg ganz allein vor allen die Treppe hinauf. Wir hielten den Atem an. Das war ein wunderbares Symbol für uns Christen in der DDR – sich zu wagen, alleine aus der Menge heraus seinen Weg zu gehen.“
Die Kirchen in der DDR wurden in kleinen Schritten zu Orten der Veränderung und boten ein Dach für verschiedene Aktivitäten und Aktivisten in Bereichen wie Frieden, Menschenrechte und Bewahrung der Schöpfung. Sie bot unangepassten bzw. verbotenen Dichtern, Liedermacherinnen, Bands und Künstlern provisorische Plattformen und setzte sich für Wehrdienstverweigerer, Ausreisewillige und andere politisch Verfolgte ein, die meist nicht ihre Mitglieder waren. Neben offiziellen Treffen und Gesprächen mit staatlichen Stellen fand diese Existenzform des Christseins in der Minderheit ihren Ausdruck in unkonventionellen Gesten wie der folgenden:
Der Schweriner Bischof Heinrich Rathke kündigte dem Rat des Bezirkes an, wenn eine junge Frau, die von der Polizei wegen ihres Aufnähers – jenes auf Vliespapier gedruckte Motiv eines sowjetischen Denkmals vor dem UNO-Gebäude in New York, das einen Schmied zeigt, der mit dem aus dem Propheten Micha zitierten Satz ‚Schwerter zu Pflugscharen‘ umschmiedet – festgehalten wurde, nicht innerhalb einer halben Stunde freigelassen werde, stünde er mit dem Aufnäher auf seinem Ärmel vor dem Gebäude des Rates des Bezirkes – eine belebte Gegend in der Bezirksstadt Schwerin –, bis er ebenfalls festgenommen würde oder bis die junge Frau frei sei. Sie wurde alsbald freigelassen.
Rathke arbeitete nach seiner Zeit als Landesbischof übrigens als einfacher Pastor in der evangelischen Kirche der mecklenburgischen Kleinstadt Crivitz zwischen Schwerin und Parchim.
Für die Kirchen der ehemaligen DDR entwickelt sich die Erfahrung der Wende zur Lektion eines minderheitlichen Im-Werden-Bleibens. Und dies nicht nur in ihrer Rolle den Verhältnissen der ehemaligen DDR gegenüber. Auch im Zusammenspiel mit den Kirchen aus der alten Bundesrepublik stellte sich die kirchenpolitische Realität als eine Lektion heraus. Sie besteht bis heute darin, zu verstehen, dass minderheitlich werden eben gerade nicht bedeutet, mehrheitlich werden zu wollen.
Dietrich Sagert