Voneinander und miteinander lernen
An der evangelischen Schule „Dr. Eckart Schwerin“ funktioniert Inklusion auch in der Praxis
Anja Tiek betritt den Raum der Gruppe „Gelb“, wo die Kinder in der Mitte des Raumes im Kreis um eine Kerze zusammensitzen. Sie ist die Schulleiterin der Evangelischen Schule „Dr. Eckart Schwerin“ in Hagenow im Westen Mecklenburg-Vorpommerns und Stammgruppenlehrerin der Gruppe „Gelb“. Die Kinder haben heute schon ohne Anja Tiek mit dem Morgenkreis angefangen. „Wir sind schon fertig“, lassen sie die Kinder wissen.
Noch ein paar Worte der Lehrerin, dann gehen die Kinder eigenständig an ihre Arbeit. Alle, außer Jonathan. Er begrüßt die Besucherin, die sich die Schule an diesem Morgen mal anschauen möchte auf seine Weise und umarmt sie stürmisch. Dass Jonathan nicht so ist wie die anderen Kinder, merkt jeder schnell, der ihn eine Zeit lang beobachtet. Er wird es aber ganz bestimmt nicht daran merken, dass seine Mitschüler oder die Erwachsenen in der Gruppe ihn anders behandeln. Denn niemand hier gibt Jonathan auch nur einen Moment lang das Gefühl, irgendwie anders zu sein.
Schülerzahlen steigen wieder
„Eigentlich ist genau DAS das Besondere an unserer Schule“, sagt Anja Tiek. Inklusion wird hier nicht nur großgeschrieben – sie funktioniert. Die Kinder lernen gemeinsam – miteinander und voneinander – und dabei ist es ganz gleich ob sie behindert sind oder nicht.
Die Kinder lernen in jahrgangsübergreifenden Gruppen. Aktuell sind es 122 Kinder in vier Gruppen für die Grundschulkinder – Gelb, Blau, Violett, Orange – und zwei Gruppen – Terra und Flora – für die Fünft- und Sechstklässler. Die Schule hatte schon mal sechs Grundschulgruppen, dann kamen aber geburtenschwache Jahrgänge und die öffentliche Diskussion um die Kosten für die Schülerbeförderung in Mecklenburg-Vorpommern.
Fürs kommende Schuljahr gibt es aber wieder sehr viele Anmeldungen, dann wird es voraussichtlich wieder eine fünfte Gruppe geben. Allerdings hat die Schule aktuell ein Problem, gutes Personal zu finden. Darum sind die Gruppen derzeit auch etwas größer als Schulleiterin Anja Tiek sie sich wünschen würde.
Bei der Gruppeneinteilung achtet sie darauf, dass etwa gleich viele Jungen und Mädchen in jeder Gruppe sind und auf Besonderheiten, die einige Kinder mitbringen. So wie Jonathan zum Beispiel.
Kinder lernen selbstbestimmt
Dem hilft eine Mitschülerin bei den Matheaufgaben. Und sie bringt ihn auch sanft wieder in die Spur, wenn er sich zu schnell ablenken lässt. Auch andere Kinder arbeiten zusammen an ihren Aufgaben oder helfen sich gegenseitig. Wieder andere bearbeiten ihre Arbeitsmaterialien allein. Die Kinder bekommen immer montags ihre Aufgaben, die sie bis Freitag erledigen müssen. Wann sie was lernen möchten, das entscheiden sie alleine. Und sie setzen sich jede Woche eigene Ziele. Die trägt jedes Kind in sein Logbuch ein, am Ende der Woche gibt es ein Feedback durch die Stammgruppenlehrerin.
„In unserer Arbeit mit den Kindern geht es uns um selbstbestimmtes Lernen in eigenem Lerntempo auf individuellen Lernwegen. Das heißt, die Kinder brauchen Zeit zum Lernen und den Umgang miteinander“, erklärt Tiek. Als Stützpfeiler nennt sie unter anderem Maria Montessori, vor allem mit ihrem Material, Peter Petersen mit der Idee der Jahrgangsmischung und Celestin Freinet mit der Freiarbeit, seinen Werkstätten und der Druckerei. „Aber ich denke, wir sind da noch einen Schritt weiter, wir machen es noch ein bisschen freier“, ergänzt sie. Das brauche anfangs einige Unterstützung, aber die Kinder schätzen diese Art zu lernen. Fragt man sie, was sie an ihrer Schule besonders mögen, so sagen viele, sie mögen die Ruhe und den netten Umgang miteinander.
Eltern arbeiten mit
Aber natürlich sind die Kinder nicht vollkommen auf sich allein gestellt. In den Gruppen gibt es unterschiedlich viele Erwachsene, neben der Stammgruppenlehrerin können das zum Beispiel Sozialassistenten sein, FSJler oder Integrationshelfer, sofern in der Gruppe Kinder sind, die einen Integrationshelfer brauchen. Und teilweise unterstützen Eltern die Arbeit in der Schule. An diesem Morgen näht eine Mutter mit den Kindern der Gruppe „Violett“ kleine Portemonnaies. Anna ist Drittklässlerin und die Klassensprecherin in ihrer Gruppe, sie hat den rot karierten Stoff bereits zurechtgeschnitten und so gefaltet, dass sie jetzt nähen kann. Sie sitzt an der Nähmaschine und näht mit etwas Hilfe, vor und zurück, bis das Täschchen fertig ist. Später wird sie noch einen Knopf annähen.
Die Ergebnisse eines anderen Workshops sind überall im und am der Schulgebäude zu sehen: Mosaike, die eine andere Mutter mit den Kindern herstellt. „Wir brauchen die Unterstützung durch die Eltern“, sagt Schulleiterin Anja Tiek. Mit 20 Stunden Elternarbeit pro Schuljahr können sich die Eltern laut Schulvertrag einbringen. Darunter fallen nicht nur Workshops, sondern auch Arbeiten am Schulgebäude oder auf dem Gelände, Mitarbeit bei Veranstaltungen, Festen oder Ausflügen.
Der Unterricht in der evangelischen Schule findet nicht nur in den Gruppen statt, für verschiedene Kurse, Workshops oder Fachunterricht gehen die Kinder gemeinsam mit Gleichaltrigen in die entsprechenden Fachräume. Drittklässler Paul ist gerade auf dem Weg zum Englischunterricht mit Muttersprachlerin Emma Penschow aus Kenia. Thema heute: Zootiere. Bei Emma gibt es phasenweise auch klassischen Frontalunterricht, immer wieder unterbrochen von Partnerarbeit. Die Kinder stellen und beantworten sich gegenseitig Fragen und üben so die neuen Worte. Emma geht herum, hört zu, erklärt und stellt ihrerseits Fragen. Wie für den Englischunterricht, verlassen die Schüler die Stammgruppen auch für Musik, Religion oder Sport.
Kontakt zur Kirchengemeinde
Weil die Schule eine evangelische Schule ist – Träger ist die Schulstiftung der Nordkirche – spielt Religion eine große Rolle im Schulalltag, anders als das die meisten Schüler das von zu Hause gewohnt sind. In Mecklenburg-Vorpommern haben rund 80 Prozent der Menschen mit Religion wenig oder nichts zu tun und so haben die meisten Schüler noch gar keine oder nur wenig Erfahrung mit dem Thema, wenn sie neu an die Evangelischen Schule „Dr. Eckart Schwerin“ kommen. Nach einiger Zeit an der Schule entscheiden sich immer wieder Kinder bewusst für die Taufe. Darüber freut sich Anja Tiek sehr. Die Schule arbeitet eng mit der evangelischen Gemeinde in Hagenow zusammen. Auch Projekte mit der Gemeindepädagogin finden statt. Gottesdienste durchziehen das Schuljahr, sie finden zum Beispiel statt zur Einschulung, zum Schuljahresanfang, zu Festen oder zum Ende des Jahres, wenn alle verabschiedet werden, die die Schule verlassen. Jeden Freitag findet zum Abschluss der Woche außerdem eine Andacht statt, die immer eine andere Gruppe von Kindern vorbereitet und auch selbst hält.
Auch über andere Kulturen und Religionen erfahren die meisten Kinder erst in der Schule etwas, aber Kinder mit anderen Nationalitäten oder Religionen, gibt es an der Schule sehr selten. Nicht ganz verwunderlich, schließlich hat Mecklenburg-Vorpommern auch den geringsten Ausländeranteil aller Bundesländer.
Jana Bergmann (für evangelisch.de)
Serie von evangelisch.de