"Gewalt gegen Frauen als Thema der Kirche" (Teil II)
I. Aufgaben einer theologischen Reflexion der Gewalt gegen Frauen
Ungezählte Frauen und Mädchen werden weltweit und auch in der Bundesrepublik täglich zu Opfern sexueller Gewalt, zu Opfern von Vergewaltigung, Prostitution, Kinderpornographie, Sextourismus und Frauenhandel. Obwohl in den letzten Jahren die öffentliche Aufmerksamkeit für diese Gewalt gewachsen ist, wird sie noch immer dort weitgehend ignoriert, wo sie den eigenen Nahbereich, die eigene Familie und die Institutionen betrifft, in denen wir uns gewöhnlich bewegen. Auch in den Kirchen und in der universitären Theologie wird Gewalt gegen Frauen nur selten zum allgemein relevanten Thema, obwohl sich alle schnell einig darin werden, daß diese Gewalt in keiner Weise zu rechtfertigen ist, daß sie die Menschenwürde zutiefst verletzt. Welchen Beitrag können die Kirchen und die Theologie leisten, die Gewalt zu beenden und dauerhaft zu verhindern?
1. Wahrnehmen der Gewalt
Von Frauen, die Gewalt erlitten haben, ist zu lernen, daß sich die Bemühungen um eine Überwindung der Gewalt nicht auf einen Appell beschränken dürfen, sondern daß ein erster Schritt einer theologischen Reflexion der Gewalt gegen Frauen darin besteht, die Gewalt als Realität wahr-zu-nehmen. Gewalt darf nicht länger ignoriert, geleugnet und verharmlost werden, sondern muß in der Familie, in den Institutionen und in der Öffentlichkeit aufgedeckt werden. Daß das Unrecht und die Verletzungen von anderen erinnert werden, fördert den Befreiungsprozeß von Frauen, denen sie zugefügt wurden, und zwingt die Täter, sich mit der Verantwortung für ihr Tun auseinanderzusetzen.
2. Selbstaufklärung über den Anteil theologischer Reflexion an der Gewalt gegen Frauen
An der Gewalt gegen Frauen, durch die Männer Frauen und Mädchen zu Opfern ihrer körperlichen und psychischen häufig sexuellen Gewaltausübung machen, ist die Theologie, das Nachdenken über Gott, nicht direkt beteiligt. Dennoch müssen sich die Kirchen und die Theologie "heute der Frage stellen, ob sie nicht über Jahrhunderte das Evangelium so gepredigt haben, daß sie zur Gewaltbereitschaft von Männern, zur Ohnmacht von Frauen und Mädchen und zur gesellschaftlichen Duldung von Gewalt in der Familie beigetragen haben." (EFD, 1996, S. 6) In biblischen, theologischen und kirchlichen Texten spiegelt sich zum einen die gesellschaftliche patriarchale Wirklichkeit, gleichzeitig prägen diese Texte die Wirklichkeit eigens mit. Die Kirchen sind einerseits Teil der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, andrerseits stehen sie ihr als eine eigene Öffentlichkeit gegenüber. Inwieweit der Ursprung der Gewalt gegen Frauen und des Patriarchalismus in der Religion und der Theologie zu suchen ist oder ob sich die gesellschaftliche Realität und die faktische Gewalt gegen Frauen in ihnen niederschlagen, läßt sich nicht immer trennen und muß im einzelnen diskutiert werden. In der Kultur sowie in den biblischen, theologischen und kirchlichen Texten und der kirchlichen Praxis ist der Patriarchalismus verwoben. Text und Kontext beeinflussen sich in diesem Sinne gegenseitig. Die Strukturen der Gewalt, die fördern, daß Frauen und Mädchen zu Opfern und Männer zu Tätern werden, sind vielfältig und komplex. Auch theologische Denkmuster haben Anteil daran. Viele, auch zentrale, Elemente des theologischen Nachdenkens über Gott, die Menschen, die Sünde, die Kirche und die christliche Ethik können gewaltfördernd verstanden oder mißverstanden werden. Bestimmte theologische Argumentationsfiguren können Männer darin bestärken, daß züchtigende Gewalt gegenüber Frauen und Kindern im Sinne Gottes sein könne, und Frauen darin, daß ein Gott wohlgefälliges Leben das Erdulden von Gewalt und das Opfer des eigenen Leibes einschließe.
In einem zweiten Schritt, den eine theologische Reflexion der Gewalt gegen Frauen vollziehen kann, können mögliche Zusammenhänge zwischen theologischen Denkmustern und Vorstellungen, die Gewalt gegen Frauen fördern, aufgedeckt und gewaltüberwindende Argumentationen entwickelt werden. Dies kann geschehen, indem sich die theologische Reflexion auf die biblisch überlieferte wahrheitsstiftende, befreiende und erneuernde Kraft sowie auf die Nähe und Solidarität Gottes mit den Opfern von Gewalt konzentriert. Dazu gehört, sich über die eigene direkte und indirekte Verantwortung für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Gewaltstrukturen klar zu werden und sich aufgrund der eigenen theologischen Überzeugungen am Aufbau gewaltmindernder und gewalthindernder Denkmuster und gesellschaftlicher Strukturen zu beteiligen.
3. Öffentliche theologische Gewaltkritik
Damit ist schon der dritte Schritt angesprochen. Kirchen und Theologie sollten ihre theologischen Argumente gegen die Gewalt in die öffentliche Diskussion einbringen. Sie sollten daran erinnern, daß sich der biblisch bezeugte Gott in seiner Identifikation mit seinem geliebten Volk Israel und mit Jesus von Nazareth auf die Seite der Opfer von Gewalt gestellt hat und daß seine Liebe zu den Opfern und zu den Tätern Gewalt kritisiert und überwindet. Wird die von Gott den Frauen geschenkte Würde verletzt, trifft dies nach biblischer Überzeugung auch Gott selbst. Eine christliche Ethik fordert Täter von Gewalt auf, die Würde und das Freiheitsrecht derer wahrzunehmen und zu achten, denen sie Gewalt angetan haben, und die gewohnten Strukturen der Gewalt zu verlassen. Sie ermutigt Frauen, die Gewalt erlitten haben, zur Klage und zum Protest sowie dazu, aus dem Teufelskreis der Gewalt aus- und in ein neues Leben aufzubrechen. Aus christlicher Perspektive sind auch Wissende von Gewalt dazu verpflichtet, die Opfer von Gewalt solidarisch zu unterstützen, und zur Gerechtigkeit und zum Frieden unter allen Menschen und in aller Kreatur beizutragen.
4. Der Perspektive von Frauen, die Gewalt erfahren haben, in der theologischen Reflexion Raum geben
Ein weiterer Schritt, mit dem die Theologie der Gewalt gegen Frauen entgegnen kann, besteht darin, die eigenen Überzeugungen und die kirchliche Wirklichkeit so wahrzunehmen, wie es Frauen als Opfer der Gewalt tun. Wenn sie die Gelegenheit haben, sich aus einem Abstand und im geschützten Raum mit ihren häufig traumatisierenden Erfahrungen auseinanderzusetzen, können sie die eigenen Verletzungen und die eigenen möglicherweise auch widerspruchsvollen Verstrickungen in die Tat erkennen, zu denen z.B. Schuldgefühle gehören können. Eine Frau, die Gewalt erlitten hat, kann in einem oft langwierigen und anstrengenden Heilungsprozeß lernen, wie wichtig es ist, ihrem lange geheim gehaltenen Schmerz einen Ausdruck zu geben. Sie muß sich selbst als Opfer, den möglicherweise von ihr geliebten Mann, der ihr die Gewalt zugefügt hat, als Täter und nicht selten andere geliebte Menschen als Verbündete des Täters erkennen. Solche Perspektiven von Frauen, die Gewalt erfahren haben, in die theologische Reflexion einzubeziehen, bedeutet nicht, sie zu verabsolutieren. Es geht darum, mit ihnen als relevanter Perspektive zu rechnen, und ihnen dasselbe theologische Recht und denselben Raum der Reflexion einzuräumen wie Perspektiven von anderen. Die Perspektive der Opfer läßt uns erkennen, welche theologischen Denkmuster dazu führen (können), Täter in ihren Gewalthandlungen zu rechtfertigen und zu unterstützen, welche den Opferstatus der Frauen festigen (können) und welche dazu beitragen können, Gewalt zu überwinden.