Geistliches Wort und Gedanken zum Tag der Heimat beim Bund der Vertriebenen am 27. August 2022 in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin
Oberkirchenrat Joachim Ochel, Theologischer Referent bei der Bevollmächtigten des Rates der EKD
Musik
Geistliches Wort
Herr Präsident, verehrte Damen und Herren,
ich freue mich persönlich sehr, als Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Ihnen sprechen zu dürfen und grüße Sie ausdrücklich auch von Prälat Dr. Karl Jüsten, dem Leiter des Kommissariats der Deutschen Bischöfe. Wir freuen uns auch darüber, dass der Bund der Vertriebenen den diesjährigen Tag der Heimat in dieser Flüchtlingskirche – der Hugenottenkirche im Herzen Berlins – ausrichtet. Er hat damit – wie ich finde – einen sehr angemessenen Ort gewählt.
Lassen Sie uns den geistlichen Teil des heutigen Festaktes damit beginnen, dass wir auf Worte von Psalm 126 hören:
Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird
dann werden wir sein wie die Träumenden.
Dann wird unser Mund voll Lachens
und unsere Zunge voll Rühmens sein.
Dann wird man sagen unter den Heiden:
Der Herr hat Großes an ihnen getan.
Ja, der Herr hat Großes an uns getan;
des sind wir fröhlich.
Herr bringe zurück unsere Gefangenen,
wie du die Bäche wiederbringst im Südland.
Die mit Tränen säen,
werden mit Freunden ernten.
Sie gehen hin und weinen
und streuen ihren Samen
und kommen mit Freuden
Und bringen ihre Gaben.
Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen
Im Februar dieses Jahres ist ein überaus bemerkenswertes Buch erschienen, verfasst von der Stellv. Regierungssprecherin Christiane Hoffmann. Es hat einen auf den ersten Blick irritierenden Titel „Alles, was wir nicht erinnern.“ Ich habe das Buch während meines Sommerurlaubs gelesen und war gefesselt von der Lektüre. Der Untertitel deutet an, um was es geht: „Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters“. Die 1967 in Hamburg geborene und in Wedel aufgewachsene Christiane Hoffmann hatte über viele Jahre gespürt, wie sehr die Fluchtgeschichte ihres Vaters vom Winter 1945 sie selbst noch geprägt, ja bis in ihre Träume hinein verfolgt hat. Auch – und vielleicht gerade weil – in der Familie so wenig von der Flucht gesprochen wurde. So begibt sich Christiane Hoffmann nach dem Tod ihres Vaters im Winter 2020 zu Fuß auf dessen Fluchtweg über 550 km von Rosenthal in Niederschlesien an die bayerische Grenze im früheren Sudetenland. Im Gepäck eine Art Tagebuch einer Großtante, in dem die Etappen und Geschehnisse der Flucht festgehalten wurden. Auf ihrem Weg kommt Christiane Hoffmann nicht nur ihrem Vater nahe – genauer: den tiefen Narben, die die Flucht bei dem damals Neunjährigen hinterlassen hatte. Zu Fuß auf dem Wege ihres Vaters kommt Christiane Hoffmann auch sich selbst nahe. Denn „alles, was wir nicht erinnern“ bestimmt und prägt den Menschen mitunter mehr als ihm bewusst ist. In der Psychologie spricht man inzwischen auf der Grundlage breiter Forschungen von transgenerationellen Traumatisierungen. Insbesondere die Erforschung von Träumen hat bestätigt, dass sich Traumata förmlich vererben. Auch Christiane Hoffman berichtet von Albträumen, die sich nur durch die Fluchterfahrungen ihres Vaters verstehen und erklären lassen.
Interessanterweise sind schon der Bibel solche Phänomene nicht fremd. Bei den Propheten wird gleich zweimal ein in Israel gängiges Sprichwort zitiert: Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden. Es gibt einen Zusammenhang, ein Kontinuum zwischen dem Tun oder Schicksal der Väter und Mütter und dem Ergehen der Kinder. Das gilt für schuldhaftes Tun ebenso wie für traumatisierende Erfahrungen. Was die Väter taten und den Müttern widerfuhr betrifft noch die Kinder und Kindeskinder. Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden. Das gilt auch und erst recht für Flucht und Vertreibung.
Bemerkenswert ist nun, dass für die Propheten dieses Sprichwort, das sie zitieren, eigentlich seine Gültigkeit verloren hat. Achten wir darauf, auf welche Weise sie es interpretieren! Beim Propheten Ezechiel heißt es:
Und des Herrn Wort geschah zu mir: Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: ‚Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.’ So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr; dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; wer sündigt, soll sterben. Wenn nun {aber} einer gerecht ist und Recht und Gerechtigkeit übt ... soll er leben.“
Weil jeder und jede Einzelne in einem eigenen, individuellen Verhältnis zu Gott steht, werden sie von Gott nicht für die Schuld und das Schicksal der Väter haftbar gemacht, erhalten sie eine eigene Lebenschance.
Und vergleichbar, aber etwas anders nuanciert lautet es bei Jeremia:
Ich will einen neuen Bund schließen. Dann wird man nicht mehr sagen: ‚Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden’.
Weil Gott eine grundlegend neue Situation herbeiführt, wird die Schuldverstrickung begrenzt und die Wirkkraft der bitteren Erfahrungen beschränkt.
Die prophetische Revision des Sprichworts setzt historisch sowohl bei Jeremia wie bei Ezechiel die Katastrophe von 587 voraus - also die Nullpunktsituation des staatlichen Untergangs Israels. Eine Situation vergleichbar der von 1945 in Deutschland. Der Situation also, wo der Vater von Christiane Hoffmann versucht, in ein normales Leben zurückzufinden. Ein Versuch, der nicht vollständig gelingt. Und es hat 75 Jahre und ein Buch von über 200 Seiten gebraucht, um die Gründe zu benennen, sie so nachzuvollziehen, dass sie ihre Macht verlieren, dass „alles, was wir nicht erinnern“ gebannt wird.
Das Buch von Christiane Hoffmann ist gleichsam zu verstehen als Versuch, das beschwörende Wort auszusprechen: Das Sprichwort soll nicht mehr gelten! Es wird außer Kraft gesetzt durch Verstehen, Bewusstmachen und Nacherzählen der Traumata und Schulderfahrungen. Der Weg zum Heilwerden führt über das Erinnern, wie Christiane Hoffmann eindrucksvoll gezeigt hat. Oder in der Tradition des Tages der Heimat über das Gedenken. Dazu bitte ich Sie nun, sich von ihren Plätzen zu erheben:
Traditionelles Gedenkwort
Wir gedenken hier der alten Heimat, der Heimat unserer Eltern und Großeltern mit den Kirchen und Häusern, die sie gebaut, den Bäumen, die sie gepflanzt, mit den Äckern, die sie bearbeitet haben, mit den Menschen – auch aus anderen Völkern –, deren Lieder sie gern gesungen haben, deren Sprache ihnen vertraut war, bei deren Klang ihnen heute noch die Tränen kommen. Wir wollen sie weiter in unseren Herzen bewahren, die Erinnerung an sie pflegen und weitergeben.
Wir gedenken hier der vielen Todesopfer bei Flucht und Vertreibung, bei Deportation und Zwangsarbeit. Wir gedenken der Kinder, der Frauen und Männer, die auf der Flucht mit den Trecks umkamen, auf verschneiten und verstopften Straßen, von Kälte, Entkräftung und Verzweiflung überwältigt, von Panzern überrollt, von Bomben und Granaten zerrissen; ihre Leichname blieben oft unbegraben zurück.
Wir gedenken hier derer, die auf der Flucht im winterkalten Wasser des Kurischen und des Frischen Haffs und der Flüsse versanken, weil das Eis nicht mehr hielt oder unter Beschuss zerborsten war. Wir gedenken hier derer, die in unvorstellbar großer Zahl bei Schiffsuntergängen nach Torpedo- und Fliegerangriffen in den eisigen Fluten der Ostsee ertranken.
Wir gedenken hier der in den Jahren 1944-47 aus der alten Heimat verschleppten und seitdem verschollenen Frauen, Männer und Kinder, der auf den Straßen entkräftet Zusammengebrochenen, der Erschossenen und Erschlagenen, der auf den wochenlangen Bahntransporten in den Weiten Sibiriens Umgekommenen und an den Bahntrassen unbestattet Zurückgelassenen.
Wir gedenken hier derer, die in den Straf-, Internierungs- und Todeslagern der Rache für die nationalsozialistischen Verbrechen hilflos ausgeliefert waren, ohne Recht und Gerichtsverfahren blieben und dort schließlich auf elende Weise zu Tode kamen.
Wir gedenken hier all derer, die als Opfer von Massakern, von willkürlichen Vergeltungs- und sogenannten Säuberungsaktionen starben und an deren Gräber sich niemand mehr erinnert.
Wir gedenken hier der in den letzten Kriegstagen und in der ersten Nachkriegszeit in der alten Heimat in großer Zahl an Hunger und Epidemien ohne ärztliche Hilfe Verstorbenen und in Massengräbern hastig Verscharrten.
Wir gedenken hier der verwaisten und vermissten Kinder, deren Spur sich in den Kriegswirren und Heimen verloren hat. Wir erinnern uns hier an das grausame Schicksal derer, die auch noch Jahre nach Kriegsende willkürlich und zu Unrecht, oft unter grausamen und entwürdigenden Umständen, aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat vertrieben und abtransportiert wurden.
Wir erinnern uns in Dankbarkeit an die Männer, Frauen und Kinder anderer Völker, die aus Menschlichkeit und Nächstenliebe ungeachtet eigener Gefährdung und oft selbst große Not leidend den deutschen Deportierten, Vertriebenen und Flüchtlingen Hilfe geleistet und das karge Brot mit ihnen geteilt haben.
Im Gedenken an unsere Toten der „vorigen Zeiten“, in der Erinnerung an die Grausamkeit von Flucht und Vertreibung nehmen wir mitfühlend Anteil am Schicksal der Menschen unserer Tage, die vor Krieg, Not und Religionshass auf der Flucht sind oder aus ihrer angestammten Heimat im Zuge ethnischer, politischer oder religiöser sogenannter Säuberungen vertrieben werden.
Die Erinnerung mahnt uns, zu unseren Zeiten für Wahrheit und Versöhnung einzutreten, damit dem Bösen zu rechter Zeit gewehrt werde, Recht und Gerechtigkeit gewahrt werden und Frieden das Zusammenleben der Völker bestimme.
Wir vertrauen darauf, dass Gott, der Gerechte und Barmherzige seiner Menschenkinder gedenkt, dass sie mit ihrem Namen und Schicksal in seinem Gedächtnis bewahrt bleiben und dass dies auch für unsere Verschollenen und an unbekannten Orten ruhenden Toten gilt. Wir vertrauen sie aufs Neue ihm an. Mögen sie in Frieden ruhen und das Licht des neuen Lebens in der anderen Welt schauen.
So lasst uns mit Worten des Chorals beten: Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott zu unseren Zeiten. Es ist doch ja kein anderer nicht, der für uns könnte streiten, denn du unser Gott alleine. Amen.
Musik: Verleih uns Frieden gnädiglich
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