Bischof Bilz: Verzichtet auf Wählerbelehrung!
Der stellvertretende Ratsvorsitzende der EKD, der sächsische Landesbischof Tobias Bilz, hat in einem Gastbeitrag in der Tageszeitung "Welt" angesichts hoher Zustimmungswerte für die AfD in Ostdeutschland zum offenen Gespräch aufgerufen.

„Ich habe mich diesmal für die blaue Farbe entschieden.“ Es traf mich wie ein Schlag, als mir das einer meiner besten Freunde wenige Tage nach der Bundestagswahl schrieb. Er schien sich zu schämen, den Namen der blauen Partei zu nennen. Er hatte aber immerhin den Mut gefasst, mir diese Information zuzumuten. Wenige Stunden vorher hatte ich noch in einer Wahlauswertungsrunde gefragt, wo denn die vielen AfD-Wähler seien. Mir wäre keiner bekannt. Andere meinten, man sähe es ihnen ja nicht an, aber sie säßen ja überall mit dabei, wenn in den ländlichen Gegenden Sachsens beinahe fünfzig Prozent diese Partei wählten. Vielleicht machten sie es so wie viele zur DDR-Zeit. Sie versteckten ihre politische Position in der Öffentlichkeit und teilten sie nur mit ausgewählten Gleichgesinnten. Ist sie wieder da, diese erzwungene Schizophrenie jener scheinbar vergangenen Zeit?
Ich bin in eine hitzige Debatte mit meinem Freund eingestiegen. Der Kern seiner Begründung aber klingt bei mir nach: „Es kann nicht gutgehen, wenn in einer Demokratie eine Brandmauer gegenüber einem so großen Teil der Bevölkerung hochgezogen wird. Wir müssen einander anhören, sonst verlieren wir uns. Wenn das passiert, ist die Demokratie am Ende. Ich gehe jetzt für einen Moment auf die andere Seite der Mauer“, sagt der Freund. Und ich frage mich: Was stärkt die Demokratie und was zerstört sie? Wie können brandgefährliche Ideen entlarvt und abgewehrt werden, ohne Menschen auszugrenzen, die von ihnen angezündet wurden?
Während ich noch darüber nachdenke, steigt ein anderer Satz aus meiner Erinnerung auf. Ein Mädchen hat ihn gesagt, die das Kind einer binationalen Partnerschaft hier in Sachsen ist: „Mama, kommst du eigentlich mit, wenn wir aus dem Land müssen?“ Die Eltern hatten sich am Abendbrottisch über die Correctiv-Recherche zum Thema „Remigrations“-Pläne rechtsextremer und extrem rechter Politiker ausgetauscht. Sprachlos, machtlos und wütend sei sie gewesen, schreibt mir die Mutter, eine Mitarbeiterin unserer Landeskirche.
Mit ihr und anderen tausche ich mich später über vielfältige Erfahrungen mit Rassismus hier in Sachsen aus. Wir diskutieren über ein offensichtlich tiefsitzendes Phänomen, das Menschen nutzen, um ... ja, wofür eigentlich? Um andere Ungleichheiten zu kompensieren? Helfen nationalistische Ressentiments dabei, eigene soziale oder andere Benachteiligungen zu verarbeiten? Führt die wie auch immer definierte Volkszugehörigkeit zur erhofften Aufwertung der eigenen Person? Wird da gar Ablehnungsschmerz kompensiert?
Mit dem gerade veröffentlichten Wort „Christliche Perspektiven für unser gesellschaftliches und politisches Miteinander“ will der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) dazu ermutigen, persönliche Erfahrungen in die anstehenden Debatten über Rechtspopulismus einzubringen und sie im Lichte christlicher Überzeugungen zu deuten. Dort heißt es: „Eine politische Polemik, die zwischen Volk im Sinne einer ethnischen oder kulturell einheitlichen Größe und Bevölkerung unterscheidet, kollidiert mit der Menschenfreundlichkeit Gottes.“
Die eigentliche Herausforderung der hier benannten Menschenfreundlichkeit Gottes besteht wohl darin, dass sie eben auch denen auf der anderen Seite der Mauer gilt. Deshalb heißt es im Text weiter: „Andere als Freie oder Gleiche anzuerkennen, bedeutet deshalb auch, Positionen nicht nur deswegen abzulehnen, weil sie von einer bestimmten Gruppe kommen oder mit der eigenen Position nicht übereinstimmen.“ Wie aber können wir die Menschenfreundlichkeit Gottes stark gegenüber denen halten, die sie nicht teilen, weil sie Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Abstammung, Nation oder Herkunft, Glauben oder politischen Anschauung ablehnen? Wie können wir uns selbst davor hüten, menschenunfreundlich zu werden, wenn wir Brandmauern aufrichten?
Der Einsturz der Carolabrücke in der Nacht zum 11. September 2024 in meiner Heimatstadt Dresden hat bei vielen hier eine große Nachdenklichkeit hinterlassen. Der bereits durch Korrosion angegriffene Stahl in der Spannbetonbrücke ist durch die starke Abkühlung in jener Nacht gerissen. Materialermüdung und atmosphärische Veränderungen haben die Brücke überfordert. Sie stürzte ein. Gibt es so etwas wie eine mentale und emotionale Ermüdung, die wir gerade erleben? Sorgen zusätzliche atmosphärische Störungen für Überforderung? Reißen scheinbar feste Verbindungen zwischen uns, weil wir die Spannungen nicht mehr aushalten? Was können wir tun, um das zu verhindern?
„Damit das gesellschaftliche Miteinander gelingen kann, müssen Chancen und Belastungen fair verteilt werden, gerade angesichts vielfältiger Krisen- und Transformationserfahrungen.“ Der Rat der EKD möchte mit seinen Perspektiven die Aufmerksamkeit auch auf Ungleichheiten richten. Ich denke an die zwischen Ost und West. Wenn der Osten stärker blau wählt, hat das Ursachen, die nicht mit Bewusstseinsbildung überwunden werden können. Eine größer werdende Bevölkerungsgruppe hier fühlt sich benachteiligt. Das gilt sowohl im Blick auf die aktuellen finanziellen und damit wirtschaftlichen Möglichkeiten als auch im Blick auf die Zukunftsperspektiven. Die Wirtschaftskrise trifft den härter, der weniger hat. Zukunftsängste haben mehr Kraft, wenn man nahe am Existenzminimum lebt. Dazu kommt eine gehörige Portion Resignation. Wenn die Perspektiven negativ sind, schwindet die Bereitschaft, die bestehenden Verhältnisse zu verteidigen.
Es scheint noch etwas Weiteres hinzuzukommen. Menschen im Osten Deutschlands fühlen sich in Teilen fremdbestimmt. Andere, die ihre Lebenswirklichkeit und -perspektive nicht teilen, scheinen gesellschaftliche Entwicklungen zu dominieren. Manche fühlen sich ausgeliefert. Darüber muss gesprochen werden. Sprechen heißt auch, auf Belehrung zu verzichten und schmerzhafte Worte auszuhalten, um der Menschenfreundlichkeit willen. Dazu gehört auszusprechen, was man wirklich denkt und empfindet, sowie sich damit verletzlich zu machen.
Gibt es dafür Grenzen? Wann sind Spannungen nicht mehr auszuhalten? Niemandes Würde darf herabgesetzt werden. Das gilt für die Worte und Taten aller. Es beginnt aber mit inneren Haltungen. Demut statt Herablassung wird gebraucht. Es ist die Fähigkeit zur Selbstkritik, die sich darin zeigt, auf Überzeugungsarbeit zu verzichten und stattdessen auf Nachdenklichkeit zu setzen. Jeder muss es für möglich halten, sich (in Teilen) zu täuschen. Verstehen wollen und Verständnis gewinnen gehören zusammen sowie die Bereitschaft, andere dann auch zum Zuge kommen zu lassen.
„WENN BEI DIR EIN FREMDER IN EUREM LAND LEBT, SOLLT IHR IHN NICHT UNTERDRÜCKEN“
„Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken.“ (3. Mose 19,33) Der Rat der EKD veröffentlicht seinen Text im März 2025, der für die christlichen Kirchen unter diesem Leitwort steht. Das biblische Gebot ist eindeutig. Niemand soll unter Druck gesetzt werden, weil er fremd ist. Das gilt zuerst für Menschen, die aus anderen Ländern gekommen sind. Es gilt genauso für die, die sich aus einem anderen Grund fremd fühlen. Druck machen dagegen hilft nicht – weder dem Freund gegenüber, der AfD wählt, noch den Fremden gegenüber, die manche am liebsten aus dem Land haben möchten. Stattdessen gilt es, das spannungsvolle Miteinander auszuhalten und anzunehmen. Daraus können tragfähige Brücken werden.
Tobias Bilz ist Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens und stellvertretender Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Tageszeitung "Welt"