Frischer Sprit für die Seele der Rastlosen
Der Trucker-Treff an der Autobahnkapelle Christophorus engagiert sich für Lkw-Fahrer
Der bosnische Lkw-Fahrer hupt und winkt aus dem Seitenfenster, als er seinen Sattelzug vom Parkplatz an der Kochertalbrücke wieder auf die Autobahn 6 steuert, Richtung Nürnberg, Richtung Osteuropa. Es muss ja weitergehen, immer weiter, die Zeit ist knapp, seine Familie sieht er höchstens am Wochenende. Immerhin: Bei der kurzen Rast in Hohenlohe hat er eine Handvoll Menschen getroffen, die sich für ihn interessierten, die ihn zum Essen eingeladen haben, die ihm eine Bibel mit auf den Weg gaben.
Diakon Martin Heubach aus Rot am See ist einer dieser Menschen. „Früher“, sagt er, „hat man Trucker als die Könige der Landstraße bezeichnet. Aber heute sind sie doch – Verzeihung – die ärmsten Säcke. Alles muss ‚just in time‘ geliefert werden, sie stehen unter einem Riesendruck und ständig im Stau. Auf den Rastplätzen werden viele dunkle Geschäfte gemacht. Wir wollen diese geschundene Berufsgruppe würdigen, ihnen ein Dankeschön geben.“
„Es wäre wichtig, öfter Hilfe zu bekommen“
„Wir“, das ist eine Gruppe Ehrenamtlicher, die sich vor drei Jahren zusammengefunden hat, und seither sechsmal im Jahr – immer von Ende April bis Ende September – einen monatlichen Trucker-Treff am Parkplatz neben der Autobahnkapelle Christophorus abhält. Die Idee dazu kam beim Männerkreis in der Bäckerei Kretzschmar in Obersteinach auf. Da erzählte an einem Abend ein Teilnehmer, wie er einen Lkw-Fahrer, der sich in der Region nicht auskannte, zu einer Apotheke und anschließend wieder zurück zu dessen mobilem Arbeitsplatz gefahren hatte. „Es wäre wichtig, öfter Hilfe zu bekommen“, hatte der Fahrer gesagt. Seither also gibt es den Treff, an dem sich auch die Hausherrinnen der Kapelle, die Christusträger-Schwestern vom Hergershof, beteiligen.
Die Bäckerei Kretzschmar spendet die Weckle, Grillgut gibt's von der bäuerlichen Erzeugergemeinschaft, Trucker-Bibeln, die das Neue Testament und sinnstiftende Fernfahrer-Geschichten enthalten, liegen in verschiedenen, vor allem osteuropäischen, Sprachen bereit. Aber das alles ist nur die Basis für das Wichtigste: das Gesprächsangebot. Die Hohenloher streifen sich signalfarbene Leibchen über, laufen von Lkw zu Lkw, laden die Fahrer ein. Manch einer ist gerade dabei, sich selbst ein Würstchen in heißem Wasser zu erwärmen und muss danach schnell wieder los, andere wollen so lange schlafen, bis die Lenkzeit-Regeln eine Weiterfahrt erlauben, viele aber kommen gerne und freuen sich über die seltene Abwechslung.
„Wir wollen diese geschundene Berufsgruppe würdigen, ihnen ein Dankeschön geben.“
Dass Martin Heubach bei dieser Aktion dabei ist, überrascht nicht. Schließlich entspricht sie voll und ganz seinem Motto, dass die Kirche zu den Menschen kommen muss. Er organisiert Motorrad-Gottesdienste, ist mit der Zeltkirche unterwegs, arbeitet als Abgesandter der evangelischen Kirche auf der Stuttgarter Messe. Die „Seelsorge zwischen Tür und Angel“, wie er das nennt, ist sein Metier – auch in Form der Seelsorge zwischen Heilbronn und Nürnberg. „Ich habe festgestellt, dass ich von meinem Vater die Gabe geerbt habe, auf Leute zuzugehen“, sagt er. Tatsächlich ist Heubach einer, der schnell Vertrauen schafft, der viel von sich preisgibt und so den anderen ermuntert, selbst zu reden – und zwar möglichst jenseits des „Alles gut“, dieser Leerformel der Gegenwart, die er immer wieder zu hören bekommt, und die er als solche enttarnen will. Denn: Wo, bei wem, ist denn schon alles gut?
Freundliche Hand-und-Fuß-Kommunikation
Viele Lkw-Fahrer sprechen naturgemäß kein Deutsch, und Heubach spricht nicht ihre Sprachen. Dann bleibt's eben bei freundlicher Hand-und-Fuß-Kommunikation. Aber bei fast jedem Trucker-Treff, so berichtet der Seelsorger, kommt es auch zu einem Gespräch, das sich nicht lange mit Oberflächlichkeiten aufhält. Immer wieder hört Heubach dann von Schicksalen, die sich gleichen: von mehrfachen Scheidungen, von sozialer Vereinsamung, von der Unmöglichkeit, in Vereinen Halt zu finden, weil man ja immer in ganz Europa unterwegs ist. Nicht selten geben die Fahrer zu, schon einmal Suizidgedanken gehabt zu haben. „Manche Verzweiflung ist hier zu Hause“, sagt Heubach. Er weiß selbst, wie es ist, durch ein dunkles Tal zu schreiten. Vor Jahren war er einem Burn-out nah. Wahrscheinlich hilft es, wenn das Gegenüber spürt, dass hier einer nicht nur den Willen zum Einfühlen hat, sondern tatsächlich mitfühlen kann.
Nicht nur Heubach führt Gespräche, auch seine Mitstreiter tun es. Manche sprechen Rumänisch, andere Russisch, was extrem hilfreich ist an der Schnellstraße gen Osten. Werner Kretzschmar, der Bäcker, tut's wie Heubach auf Deutsch und Englisch, und er erinnert sich an einen rumänischen Fahrer, „der hat mir sein Herz total ausgeschüttet“. Sie haben lange zusammengesessen, am Schluss haben sie miteinander gebetet. „Die Bibel nehmen dann alle mit“, sagt Kretzschmar. „Die lehnt keiner ab.“ Einmal kam ein Lkw-Fahrer nach einem Jahr zufällig wieder zum Treff und erzählte, dass er das Buch stets herausziehe, wenn er mal wieder im Stau stehe. Kretzschmar freut sich sehr über solche Rückmeldungen, denn die Aktion hat für ihn wie für Heubach durchaus auch einen missionarischen Aspekt.
Kurz in Ruhe rasten – bei Grillwurst oder Steak
Der Diakon aus Rot am See formuliert das so: „Ich möchte den Menschen sagen, dass es eine Lösung gibt, dass es da jemanden gibt, der in ihre Dunkelheit hineinscheinen kann. Wenn ich aber nicht den Eindruck habe, dass die Bibel auf fruchtbaren Boden fällt, bin ich sehr zurückhaltend.“ Er akzeptiere Ablehnung, er wolle nicht als einer rüberkommen, der „die Weisheit mit Löffeln gefressen“ habe, sondern den Menschen auf Augenhöhe begegnen.
Für Heubach freilich ist völlig klar, dass einer nicht religiös sein muss, um sich die aus einer Sicht zentralen Fragen zu stellen: Wo komme ich her? Warum lebe ich? Wo gehe ich hin? „Das muss jeder für sich klären, auch der Atheist.“ Es ist Heubachs täglich Brot, sich diesen Fragen gemeinsam mit fremden Menschen zu nähern, oder diese zumindest wieder darauf zu stoßen, am Schutzpanzer zu kratzen, der viele von uns umgibt.
Wer freilich auf Höhe von Autobahnkilometer 681 partout keinen Nerv hat für so Tiefschürfendes, wer eilen muss, weil er am Wochenende seine Familie sehen will, wer an seine Lenkzeiten denkt statt an den Sinn des Lebens, wer einfach nur kurz in Ruhe rasten möchte, der bekommt eine Wurst oder ein Steak und etwas zu trinken – und fährt bestenfalls hupend, winkend und mit einem Lächeln auf den Lippen weiter, auf die A 6, Richtung Nürnberg, Richtung Osteuropa. Immer weiter.
Sebastian Unbehauen
Diese Reportage erschien erstmals am 30. Juni 2018 im „Zum Sonntag“, einer Beilage des Hohenloher Tagblatts am Wochenende.