Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen
Ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017, GT 24, Hg. DBK und EKD, September 2016
5. Erinnern – heilen – Christus bezeugen
1. Das Reformationsgedenken 2017 soll ein ökumenisches Ereignis werden; dazu bedarf es einer Heilung der Erinnerung.
Reformationsjubiläen haben bisher weniger zum Abbau als vielmehr zur Bekräftigung der konfessionellen Gegensätze beigetragen. Die bevorstehende 500-Jahr-Feier soll ausdrücklich ein anderes Zeichen setzen. Sie soll unter der gemeinsamen Wahrnehmung des Evangeliums die ökumenische Verbundenheit stärken, die in den letzten Jahrzehnten zwischen uns gewachsen ist. Dies schließt ein, dass wir uns unserer Geschichte stellen. Diese war nicht nur von großen theologischen Entdeckungen und tiefen geistlichen Erfahrungen bestimmt, sondern auch von gegenseitigen Verletzungen und Verwundungen. Von beidem ist nicht nur die Beziehung zwischen uns geprägt, sondern auch die Gesellschaft, in der wir leben. Die Zeit war reif, einen Prozess einzuleiten, der sich ausdrücklich der Heilung der Erinnerung widmet. Auf diese Weise kann unser Verständnis füreinander weiter wachsen und das Zeugnis für Jesus Christus und der Dienst der Kirchen in der Welt gestärkt werden.
2. Die Heilung der Erinnerung ist ein vielschichtiger Prozess. Die Erklärung, die wir in ökumenischer Verbundenheit abgeben, ist ein Teil dieses Prozesses.
Die Entwicklung der weltweiten ökumenischen Bewegung hat eine Situation geschaffen, in der wir uns der Geschichte der Reformation und ihrer Wirkungen gemeinsam annähern und es lernen, sie so zu erzählen, dass Vorurteile, Missverständnisse, Verzerrungen und Verhärtungen überwunden werden. Martin Luther und die reformatorischen Bewegungen wollten die Kirche unter den befreienden Ruf des Evangeliums stellen und sie im Geiste des Evangeliums umfassend erneuern. Der katholischen Seite ging es ihrerseits um eine Erneuerung der Kirche in der Gemeinschaft mit dem Papst und den Bischöfen. Dennoch entstanden Zerwürfnisse, in deren Folge die Einheit der Kirche trotz aller Bemühungen um ihre Bewahrung zerbrach.
Im Streit um die Wahrheit des Evangeliums, wie er dann zwischen unseren Kirchen seit dem 16. Jahrhundert erbittert geführt worden ist, wollte jede Seite vor allem Irrtümer und Versagen beim Gegner feststellen. Man war nicht in der Lage, das Gemeinsame zu suchen, und hat stattdessen lieber die Gegensätze zugespitzt und damit die bestehenden Konflikte weiter verschärft. Wir können heute die Ursachen und Mechanismen dieser Entwicklung kritisch analysieren. Wir können typische Orte benennen, an denen die Strategien der Abgrenzung und Ablehnung lange nachgewirkt haben. Wir nennen beispielhaft die Mythisierung und Heroisierung Luthers, der spiegelbildlich eine Dämonisierung Luthers entsprochen hat; wir verweisen auf die Funktionalisierung konfessioneller Unterschiede, die Herrschaftsinteressen legitimieren und sogar Kriege rechtfertigen sollten; wir machen auf die Konfessionalisierung aufmerksam, die Identität durch Abgrenzung bilden wollte. Um das rechte Verständnis der Wahrheit des Evangeliums muss weiter gerungen werden, aber das kann nicht so geschehen, dass sich die einen auf Kosten der anderen profilieren. Die Heilung der Erinnerungen ist ein Weg, der hier neue Horizonte erschließt. Wer daran teilnimmt, verpflichtet sich, die eigene Geschichte mit den Augen des anderen zu betrachten und sich in die Geschichte des anderen zu versetzen. Auf diese Weise entstehen Freiheit für Schuldeinsicht und Empathie.
Die Heilung der Erinnerungen ist eingebettet in die Geschichte des ökumenischen Lernens und nimmt die wechselseitigen produktiven Erfahrungen in der Diakonie und Caritas auf. Im Kern handelt es sich um einen geistlichen Prozess, der Schuld und Vergebung, die gottesdienstliche Zuwendung zu Gott und die engagierte Liebe zum Nächsten in sich schließt. Unsere Erklärung verdeutlicht exemplarisch, wie weit wir - Gott sei es gedankt - auf diesem Weg inzwischen vorangekommen sind.
3. Im Prozess der Heilung der Erinnerung haben ökumenische Buß- und Versöhnungsgottesdienste eine Schlüsselstellung. In der Zeit bis zum 31. Oktober 2017 istfür sie die beste Gelegenheit.
Am Vorabend des Sonntags Reminiscere - „[Herr,] gedenke Deines Erbarmens ...“ -, dem 2. Sonntag der Passions- und Fastenzeit, werden der Rat der Evangelischen Kirche Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz zu einem ökumenischen Buß- und Versöhnungsgottesdienst nach Hildesheim einladen. Sie ermutigen dazu, dass anschließend auch auf regionaler und lokaler Ebene ähnliche Gottesdienste gefeiert werden. In diesen liturgischen Feiern sprechen wir unsere Schuld vor Gott aus und bitten ihn um Vergebung, um frei zu werden für die Vergebung untereinander. So geben wir Zeugnis von Jesus Christus, der uns zur Umkehr ruft und uns Vergebung schenkt. Versöhnt mit ihm und versöhnt untereinander, wissen wir uns gesandt, in der Welt Zeugnis von Gottes Liebe abzulegen. Wir bringen zum Ausdruck, dass die christlichen Kirchen nicht gegeneinander, sondern füreinander da sind.
4. Die Buß- und Versöhnungsgottesdienste für die Heilung der Erinnerung weisen über sich hinaus. Sie stehen in innerer Verbindung sowohl zu carita- tiven und diakonischen Aktionen als auch zu katechetischen und theologischen Vorhaben, die dem Geist der Ökumene und eines geschwisterlichen Miteinanders entsprechen. So kann die Heilung der Erinnerung zu einer breiten Bewegung werden.
Wir bekennen uns zu den Zielen der Charta Oecumenica, an deren Erarbeitung auch unsere Kirchen beteiligt waren und die auf dem ersten Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin von den Mitgliedskirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) mit unterzeichnet wurde. Wir verpflichten uns, „in der Kraft des Heiligen Geistes auf die sichtbare Einheit der Kirche Jesu Christi in dem einen Glauben hinzuwirken, die ihren Ausdruck in der gegenseitig anerkannten Taufe und in der eucharistischen Gemeinschaft findet sowie im gemeinsamen Zeugnis und Dienst“ (Charta Oecumenica 1). In diesem Sinne verpflichten wir uns, gemeinsame Projekte zur Verkündigung des Evangeliums zu entwickeln, die Freiheit der Religion und des Gewissens zu achten und zu fördern, die Begegnung miteinander zu suchen und nach Kräften gemeinsam zu handeln, insbesondere dort, wo unsere soziale Verantwortung in der Gesellschaft und unser Beitrag zur Versöhnung zwischen Völkern, Kulturen und Religionen gefragt sind, so zum Beispiel bei der Vorbereitung eines gesellschaftsdiakonischen Kongresses, den das Zentralkomitee der deutschen Katholiken und der Deutschen Evangelische Kirchentag gemeinsam mit der Evangelischen Kirche Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz im September 2017 ausrichten werden. Wir setzen auf die theologische Wissenschaft und die Bedeutung der Ökumene in Forschung und Lehre.
5. Wenn wir von der Heilung der Erinnerung sprechen, übersehen wir nicht, dass es weiterhin offene Fragen gibt, die uns noch trennen. Aber wir lassen uns dadurch nicht von unserem ökumenischen Weg abbringen.
Dass wir 2017 das Abendmahl bzw. die Eucharistie nicht gemeinsam feiern, zeigt, dass bei allen ökumenischen Annäherungen bis heute grundlegende Fragen des Kirchen- und des Amtsverständnisses nicht gemeinsam beantwortet sind. Es ist auch nicht an allen Stellen gelungen, in aktuellen Fragen der Individual- und der Sozialethik zu einer einvernehmlichen Betrachtungsweise zu gelangen und dort, wo es erforderlich wäre, mit einer Stimme zu sprechen. Gleichwohl werden dadurch unsere Erfahrungen mit der Heilung der Erinnerungen nicht entkräftet. Denn wir erörtern die kontroversen Fragen in einer Haltung des wechselseitigen Respekts, der Lernbereitschaft und der Offenheit für Kritik. Wir sehen, dass die Unterschiede die zwischen uns bestehenden großen Gemeinsamkeiten nicht zerstören. Wir sehen die Heilung der Erinnerung als eine Chance und als eine Ermutigung, auf dem ökumenischen Weg geduldig und zielstrebig weiterzugehen, damit die Einheit unter uns weiter wächst und Abendmahls- und Eucharistiegemeinschaft möglich wird.
6. Die Heilung der Erinnerung befreit uns zu einem gemeinsamen und darin glaubwürdigeren Zeugnis für Jesus Christus. Sie ermutigt uns, das bevorstehende Reformationsjubiläum gemeinsam als ein Christusfest zu begehen.
Luther hat mit den Ablassthesen, die er 1517 veröffentlichte, die Buße ins Zentrum gestellt und daran immer festgehalten: Menschen können und sollen ihre Sünden im Vertrauen auf Gottes Gnade bekennen; sie empfangen die Vergebung durch Jesus Christus. Der Ruf zur Umkehr hat nichts an Aktualität verloren. Der reformatorische Grundimpuls zielt auf die Umkehr der Kirche zu Jesus Christus. So sehen wir uns als Kirchen im 21. Jahrhundert zur Reform und Erneuerung gerufen; die Heilung der Erinnerung gehört in diesen Zusammenhang. Wir wollen durch unsere ökumenische Initiative zeigen, dass dem Glauben an Gott nichts Zerstörerisches innewohnt, sondern dass er dem Frieden dient, weil er Schuld, N ot und Leid, Hass und Feindschaft überwindet. Dafür stehen wir ein und lassen uns daran messen, dass die Verantwortung vor Gott die Freiheit der Menschen nicht beeinträchtigt, sondern fördert. Wir können in der Auseinandersetzung mit unserer eigenen Geschichte zeigen, dass Vielfalt und Einheit keine Gegensätze sein müssen, sondern einander bedingen, wenn das menschliche Miteinander vom Geist Gottes inspiriert ist und sich von Jesus Christus leiten lässt.
Gebet
Jesus Christus, du Sohn des lebendigen Gottes, unser Heiland, unsere Hoffnung, unser Erlöser:
Wir kommen zu dir mit der Last unserer Entzweiung und Trennung:
Wir kommen zu dir mit den Schatten der Vergangenheit.
Wir kommen zu dir in Scham und Trauer über das Leid, das aus unserem Streit entstanden ist.
Vor dir bekennen wir unsere Schuld und rufen dich an in unserer Not.
Wir wissen keine andere Zuflucht als dein unergründliches Erbarmen.
Vergib uns, was uns von dir und voneinander trennt.
Im Licht Deiner Wahrheit erkennen wir unser Versagen:
unseren Mangel an Behutsamkeit und Geschwisterlichkeit,
unseren Mangel an Zuwendung zueinander und Respekt füreinander.
Schenke uns den Geist der Versöhnung, der wegnimmt, was uns trennt,
und uns glaubwürdige Schritte zur Einheit der Kirche gehen lässt.
Jesus Christus, Du, unser Heiland, du unsere Hoffnung, du unser Erlöser:
Sei du das Brot, von dem wir leben.
Sei du das Licht, durch das wir sehen.
Sei du der Weg, auf dem wir gehen.
Amen.