Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen
Ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017, GT 24, Hg. DBK und EKD, September 2016
3. Erinnerungsorte - Wertungen und Aktualisierungen
So sehr das Vertrauen zwischen den Konfessionen durch zahlreiche Gespräche und auch das Erleben von Gemeinsamkeiten gewachsen ist: Vielfach bleiben Verletzungen spürbar; oft leben sie unter der Oberfläche fort. Die Entwicklung, die zur Reformation geführt hat, lässt sich heute auf beiden Seiten historisch erklären und verstehen - und doch bleiben Bilder und Erinnerungen, die keineswegs nur gestrig sind, wirkmächtig. Wenn jemand ein Jubiläum vorbereitet, werden solche Erinnerungen neu bewusst und lebendig - und wenn andere Beteiligte bestreiten, dass man von einem Jubiläum sprechen könne, wird deutlich, dass Erinnerung viel stärker als historische Rekonstruktion mit Wertungen und Identitätsbildungen zu tun hat: Im erinnerten Bild wird auch deutlich, wie wir uns in der Gegenwart verstehen.
Angestoßen durch den französischen Historiker Pierre Nora, hat sich eingebürgert, die Kristallisationskerne, an die sich Erinnerungen heften, als „Erinnerungsorte“ zu bezeichnen. Damit ist mehr gemeint als ein konkreter geographischer Fleck: Auch Gebäude, Personen, ja sogar einzelne Ereignisse können solche „Erinnerungsorte“ sein, mit denen sich viel mehr verbindet als die historische Nacherzählung des Gewesenen. Sie sind symbolisch aufgeladen, in ihnen verdichtet sich eine Kette von Geschehnissen auf eine Weise, die sich zugespitzt und vereinfachend erzählen lässt. Solche Erinnerungsorte sind Ausdruck des kollektiven Gedächtnisses, mit ihnen verbinden sich viele Emotionen: Stolz ebenso wie Schmerz. Man könnte eine ausführliche Geschichte der Erinnerungsorte schreiben, die das Gedächtnis der konfessionellen Spaltung prägen, aber auch Ansätze einer Überwindung erkennen lassen. Im Folgenden kann es freilich nur darum gehen, einzelne markante Stadien zu benennen, die fortleben und in denen sich in markanter Weise die theologischen Grundfragen widerspiegeln, um die eine heutige ökumenische Klärung ringen muss.
3.1. Martin Luthers Thesenanschlag - das Problem der Mythisierung
Zentraler Erinnerungsort für das Reformationsgedächtnis 2017 ist zweifellos der protestantische Gründungsmythos schlechthin, der den Anlass für den Jubiläumstermin bietet: der Thesenanschlag. Luther selbst hat ein solches Ereignis nie erwähnt. Erst in seinen letzten Lebensjahren erzählten andere davon und nahmen damit an der einsetzenden Monumentalisie- rung des Reformators teil. Zunehmend wurde hieraus das Zentralsymbol protestantischer, vorwiegend lutherischer Selbstdarstellung. Schon die erste bildliche Darstellung im Umfeld des Reformationsjubiläums 1617 zeigt einen Mönch, der an die Wittenberger Schlosskirchentür Thesen zwar nicht hämmert, sondern mit einer Feder kratzt und mit dieser Feder von der Provinz aus Rom erschüttert. Zur heroischen Erzählung wurde der „Thesenanschlag“ erst, vielfach dargestellt, im 19. Jahrhundert. Er stand für den mannhaften Helden einer protestantisch dominierten Nation - und römisch-katholische Polemik antwortete mit dem Bild eines skrupulösen, von vornherein verkehrten Mönch, der sich eine Kritik anmaße, die ihm nicht zustehe. In einer Schlüsselszene verdichtete sich so, was den religiösen Impuls für die reformatorische Bewegung ausmachen sollte: der Kampf des Glaubenshelden Luther gegen ein vermeintlich werkgerechtes Mittelalter bzw. dessen Erben in der römisch-katholischen Konfession. Immer neu wiederholt, bot der Gedächtnistag des vermeintlichen Thesenanschlags Anlass, in diesen Mustern das Gegenüber reformatorischer zur katholischen Frömmigkeit zu profilieren und den Mut des Gründers der eigenen christlichen Lebensweise zu zelebrieren. Die katholischen Reaktionen entsprachen dieser Mythisierung spiegelbildlich.
Dass diese religiöse Typisierung zutiefst mit dem erzählten Geschehen zusammenhing, zeigt die emotionale Diskussion, die ausbrach, als der katholische Kirchenhistoriker Erwin Iserloh 1961 mit guten Gründen die provokante These aufstellte: „Der Thesenanschlag fand nicht statt“. Süffisant fasste „Der Spiegel“ damals die Aufregung zusammen: „Protestanten können wieder protestieren: Ein Katholik will ihnen weismachen, daß Martin Luther mitnichten den Hammer zur Hand genommen und damit seine 95 Thesen an die Kirchentür zu Wittenberg genagelt hat“ (Der Spiegel 1/1966). Zwar gehen die Fronten in der Frage des Thesenanschlags heute nicht einfach an den Konfessionslinien entlang, aber der Umstand, dass die Diskussion im Vorfeld der Reformations-Dekade neu aufbrandete, zeigt etwas von der bleibenden Empfindlichkeit.
Dabei ist der Erinnerungsort „Thesenanschlag“ selbst, historisch betrachtet, von vergleichsweise geringer Bedeutung: Sollte er stattgefunden haben, handelte es sich um ein Geschehen im akademischen Alltag einer Universität. Sollte es sich - wofür vieles spricht - um eine bloße Legende handeln, nähme dies der theologischen Botschaft des jungen Luther, die sich freilich in der Alternative von Glauben und Werken nicht erschöpft, nichts an Kraft. Doch scheint sich mit der Frage nach dem „Thesenanschlag“ auch die Alternative zu verbinden, ob die Person Martin Luthers als Leitbild eines tapferen, entschiedenen Kampfes gegen vermeintliche päpstliche Unterdrückung gefeiert - oder ob er als theologischer Reformer bedacht werden soll, dessen geistliche Anliegen sehr wohl auch in der römisch-katholischen Kirche ihren Raum haben könnten. Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit den Thesen selbst angezeigt. Luthers Reformation kann zwar auf sie nicht reduziert, aber ohne sie auch nicht verstanden werden.
3.2. Der Reichstag in Worms und Religionskriege - das Problem der Politisierung
Wohl kaum weniger tief verwurzelt im kollektiven Gedächtnis ist der Erinnerungsort des Reichstages in Worms 1521. Das unter Teilnahme der politischen Vertreter des gesamten protestantischen Deutschland 1868 eingeweihte Wormser Denkmal zeugt von der Heroisierung des Geschehens im 19. Jahrhundert ebenso wie die eindrücklichen Nachstellungen in den modernen Lutherfilmen - bis hin zur Banalisierung in Gestalt von „Luthersocken“ mit dem historisch unkorrekten, in der Erinnerung aber äußerst wirksamen Wort: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Luther wird in dieser Szenerie immer wieder als Held nicht nur der religiösen, sondern auch der bürgerlichen Freiheit gefeiert. So verbindet sich mit diesem Erinnerungsort auch eine einseitige Vereinnahmung von Freiheitsvorstellungen, denen das andere Bild vom obrigkeitshörigen „sanftlebenden Fleisch zu Wittenberg“ (Thomas Müntzer) entgegensteht.
Dieses Gegenbild kulminiert im Erinnerungsort des Bauernkrieges. Luther wird oft als Vertreter einer auch gewaltsamen Unterdrückung der Interessen des Bauernstandes, als Wegbereiter autoritärer und unfreiheitlicher Strukturen gesehen. So wenig die beiden Bilder zueinander zu passen scheinen, so sehr ist ihnen doch gemeinsam, dass sie auf die unabdingbare Verbindung der durch die Reformation entstandenen Konflikte mit Machtfragen verweisen. Die Verquickung von Kirche und Macht im mittelalterlichen Bischofsamt hat ebenso wie die obrigkeitliche Durchführung der Reformation und die Konfessionalisierung in allen deutschen Territorien, gleich ob unter katholischem oder evangelischem Vorzeichen ein Gefüge geschaffen, das Religion untrennbar mit Gewalt verbunden sein ließ.
Wenn es für diese unheilvolle Geschichte einen Erinnerungsort gibt, so ist dies der Dreißigjährige Krieg 1618-1648. Ausgehend von einem lokalen Konflikt in Böhmen, prallten in ihm die konfessionellen Parteien aufeinander. Die völlige Restituierung der alten Kirche war durchaus auf der einen Seite im Blick, die quasimessianische Erlösung durch Gustav Adolf von Schweden wurde auf der anderen Seite gefeiert. Gerade dass man das Kriegsgeschehen nicht einlinig erklären kann, macht den Erinnerungsort so markant: Es handelte sich offenkundig keineswegs um einen reinen Religionskrieg, sondern die Machtfragen der Herrschenden in Deutschland und ganz Europa wurden bestimmend für den Verlauf, was sich auch in kriegstaktisch motivierten überkonfessionellen Allianzen spiegelte - und doch kann man angesichts der konfessionellen Begleitmusik auch nicht einfach von einer Funktionalisierung der Religion sprechen: Die Vertreter der Konfessionen waren auch Akteure in diesem Geschehen und haben Schuld aufsich geladen. Ob man in Lützen der Erfolge Gustav Adolfs oder in Nördlingen des Sieges der Habsburger gedenkt: die Erinnerungen bleiben präsent - und durch Otfried Preußlers „Kleines Gespenst“ von 1966 wird selbst noch im Kinderbuch die Erinnerung an diese Ereignisse fortgetragen.
Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg schärft das Bewusstsein, wie intensiv sich konfessionelle Unterschiede mit Gewalt verbunden haben. Der Krieg im 17. Jahrhundert war nicht der einzige, der im Namen der Konfessionen geführt wurde: Schon der Schmalkaldische Krieg 1546/47 hatte beide Blöcke aufeinander prallen lassen. Die Durchsetzung einer bestimmten Konfession in einem Territorium hat immer wieder zu Unterdrückungen geführt: Mehrfach wurden bis ins 19. Jahrhundert hinein aus Salzburg die Protestanten vertrieben. Umgekehrt hat der Kulturkampf unter Bismarck zu massiven Beschränkungen des römisch-katholischen Lebens geführt. Wenn bis heute im politischen Horizont konfessionelle Proporze diskutiert werden, steckt dahinter auch immer noch das Bewusstsein, dass sich Religion infolge der Reformation und der katholischen Reaktionen auf sie mit Ansprüchen auf Macht und Umsetzung durch Gewalt verbunden hat. Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit dem spannungsvollen Verhältnis von Religion und Macht angezeigt, bei dem die positiven und negativen Erfahrungen im Verhältnis der christlichen Konfessionen für die neuen Herausforderungen pluralistischer Gesellschaften genutzt werden.
3.3. Konfessionskarte - das Problem der Konfessionalisierung
Aus der Verbindung von Religion und Politik resultiert auch der bis heute nachwirkende Erinnerungsort der deutschen Konfessionskarte. Trotz der starken Veränderungen, die die Migrationsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg mit sich gebracht haben, lässt sich an der Konfessionsverteilung in Deutschland immer noch ablesen, wo die Herrscher welcher Konfession früher regiert haben. Das Muster folgt der Regelung des Augsburger Reichstages 1555, nach der die Territorialherrscher über die Konfession ihrer Untertanen zu bestimmen hatten (später: cuius regio eius religio), diese Regelung wurde nach dem Dreißigjährigen Krieg durch den Westfälischen Frieden bestätigt. Ihre Wirksamkeit zeigt sich auch dann, wenn die Landstände dem Religionswechsel ihres Herrn nicht folgen wollten, wie beim Wechsel des brandenburgischen Kurfürsten zum reformierten Bekenntnis 1613 und Augusts des Starken von Sachsen zum Katholizismus 1697 - in Dresden musste man sogar mit der Architektur der Hofkirche Rücksicht darauf nehmen, dass die Untertanen wie in Brandenburg lutherisch blieben. Welche Schwierigkeiten daraus resultierten, dass man in der Frühen Neuzeit außerhalb der Reichsstädte die Existenz zweier Konfessionen nur als territoriales Nebeneinander, nicht aber als soziales Miteinander regeln konnte, zeigte sich noch im 19. Jahrhundert, als infolge der Napoleonischen Kriege und des Wiener Kongresses konfessionell gemischte Territorien entstanden. Nun tauchten - deutlich im sogenannten Kölner Mischehenstreit - die Fragen auf, die bis heute im konfessionellen Miteinander nachschwingen: Welche Möglichkeiten geben wir Menschen, die aus unterschiedlichen Konfessionen kommend die Ehe eingehen, ihr Christentum gemeinsam zu leben? Wenigstens für mit der Kirche verbundene Paare greift diese Spannung tief in den Alltag ein.
Damit verweist die bis heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen spürbare historische Prägung Deutschlands durch die Folgen der Reformation auch auf den Kern des konfessionellen Konflikts: die Spaltung der Kirche, die durch die komplementären Erinnerungsorte des Banns über Luther einerseits und der Verwerfung des Papsttums als Antichrist durch weite Teile der Reformation andererseits markiert ist. Die Bannandrohungsbulle „Exsurge Domine“ vom 15. Juni 1520, auf deren Grundlage Luther schließlich am 3. Januar 1521 aus der Kirche ausgeschlossen wurde, befindet sich bis heute im so genannten „Denzinger“, einer Sammlung kirchlicher Lehrentscheidungen, und die Frage, ob dieser Bann aufgehoben werden soll oder überhaupt aufgehoben werden kann (weil der Betroffene verstorben und vor seinen himmlischen Richter getreten ist), ist im Vorfeld von 2017 neu aufgelebt. Der Umstand, dass sich Evangelische von vielen der in der Bulle enthaltenen Verurteilungen getroffen fühlen müssen, bleibt aber ebenso wie die Erinnerung an Luthers Antwort wach: Am 10. Dezember 1520 hat er die Bulle und das gesamte mittelalterliche Kirchenrecht vor dem Wittenberger Elstertor verbrannt - noch heute erinnert eine 1830 gepflanzte „Luthereiche“ an dieses Ereignis. Der Reformator selbst hat sich auch mit einer Schrift „Wider die Bulle des Endchrists“ gewandt - und damit eine Bezeichnung verwendet, die er seit der Leipziger Disputation von 1519 für angemessen zur Benennung des Papstes hielt: Antichrist. Durch seine „Schmalkaldischen Artikel“ ist diese Bezeichnung bis heute Teil der Lutherischen Bekenntnisschriften. Die in die Übersetzungsausgabe der Bekenntnisschriften eingegangene Einsicht, dass das Papsttum durch diese Bezeichnung sachlich nicht getroffen ist, ist, wie die diesbezügliche Debatte nach „Lehrverurteilungen - kirchentrennend?“ gezeigt hat, im evangelischen Raum noch keineswegs selbstverständlich. Die hier geschlagene Wunde ist so wie die anderen genannten, schon weitgehend zusammengewachsen - und doch noch immer nicht völlig geheilt. Desto wichtiger sind sowohl eine kritische Auseinandersetzung mit der Konfes- sionalisierung als auch eine Klärung in der Sache bei den nach wie vor strittigen Fragen.