„Heilsame Unterbrechung“
Prälatin Anne Gidion, Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union
Predigt am Sonntag Laetare (2.Korinter 1,3-7)
Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth:
3 Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes,
4 der uns tröstet in aller unserer Bedrängnis, damit wir auch trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott.
5 Denn wie die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch Christus.
6 Werden wir aber bedrängt, so geschieht es euch zu Trost und Heil; werden wir getröstet, so geschieht es euch zum Trost, der sich wirksam erweist, wenn ihr mit Geduld dieselben Leiden ertragt, die auch wir leiden.
7 Und unsre Hoffnung steht fest für euch, weil wir wissen: Wie ihr an den Leiden teilhabt, so habt ihr auch am Trost teil.
Am vergangenen Sonntag war Bergfest – Bergfest in der Passionszeit. Halbe Strecke bis Ostern. Dieser Sonntag hat eine besondere Farbe: Rosa. Es mischen sich das Lila der Passion und das Weiß von Ostern. Dinge sind gleichzeitig wahr. Karfreitag steht noch aus. Und zugleich schimmert Ostern schon durch.
Nie werde ich den Sonntag Laetare vor vier Jahren vergessen, Laetare 2020. März 2020. Das Virus breitete sich aus. Und ein Wort breitete sich aus, das vorher nur wenige benutzten: vulnerabel. Verwundbar. Wir sind verwundbar – sagte damals der Bundespräsident. Wir haben geglaubt, wir könnten immer einfach weitermachen, es würde besser werden, sich zum Guten entwickeln – und wie ein übergroßes Stopp-Schild kam der große Stillstand, wie auch immer wir das heute bewerten: Es war einer.
Und darin die Erkenntnis, flächig, für alle: Wir sind verwundbar.
Und das an Laetare. Dem Sonntag: Freut Euch. Einem rosa Sonntag eben.
Auch Paulus sieht in diesem Sinne rosa: mehrdeutig. Eine Vokabel durchzieht diese kleine Textpassage. An keiner Stelle in der ganzen Bibel kommt sie so verdichtet vor wie hier.
Parakaleo. Martin Luther übersetzt parakaleo durchgängig mit Trost. Wir haben es gehört. Der Gott allen Trostes, der uns tröstet, damit auch wir trösten können, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden. Die neue Basisbibel übersetzt anders: Der Gott aller Ermutigung, der uns ermutigt, damit auch wir ermutigen können …
Denn parakaleo heißt vieles: herbeirufen, um Hilfe rufen, einladen, bitten, ermahnen, ermuntern, auffordern, beistehen, zusprechen, und, ja, eben auch: trösten.
Parakaleo bei Paulus: Ein ganzes Programm. Der Gott aller Ermunterung, der uns ermuntert, damit wir ermuntern können. Der Gott aller Aufforderung, der uns auffordert, damit wir auffordern können. Der Gott allen Beistandes, der uns beisteht, damit wir beistehen können. Der Gott allen Zuspruchs, der uns zuspricht, damit wir zusprechen können. Ein Kaleidoskop aus der Praxis der gemeinsamen Wundversorgung für alle, die verwundet sind.
Eine Aufgabenbeschreibung für Kirche und Stadtmission heute mitten in der Gesellschaft.
Im Lichte der Laetare-Erkenntnis von vor vier Jahren verdichtet sich für mich dieser Text auf einen einzigen Satz:
Wir sind verwundbare Kinder eines verwundbaren Gottes in einer verwundbaren Welt.
Wir sind verwundbare Kinder eines verwundbaren Gottes. Das ist das Passions-Lila: Gott wird verwundbar, selbst, denn er kommt als kleines Kind zur Welt. In der Krippe, im Stall. Und er stirbt. Qualvoll am Kreuz. Kommt wieder. Die Wundmale sieht man noch. Thomas, der Zweifler, betastet sie.
Wir sind verwundbare Kinder eines verwundbaren Gottes in einer verwundbaren Welt. Paulus schreibt das an seine Gemeinde in Korinth ein paar Jahrzehnte nach dem Tod von Jesus. Wir erinnern uns: Noch ist das Christentum eine verfolgte Minderheit. Kein Gedanke daran, dass Kirche machtförmig werden könnte. Erst recht kein Gedanke daran, dass Menschen, die an Christus glauben, selbst Macht ausüben anderen gegenüber.
Nein, Paulus schreibt von einem zutiefst ohnmächtigen Gott. Der darin überraschend machtvoll ist. Ein verwundbarer Gott.
Damit konnten die Korinther nicht viel anfangen. Sie wollten einen Sieger als Gott. Einen modernen Glaubenshelden, der durch die Wüste führt, das Meer teilt, Mose 2.0. Paulus, der beeindruckte sie nicht sehr. Zu schwach. Selten da, oft im Gefängnis.
Aber seine Briefe bleiben, und sein besonderer Mix aus Schmerz und Trost, aus Lila und Weiß. Er inspiriert viele – bis heute.
2008 gründet eine junge Pastorin eine Projektgemeinde, das „Haus für alle Sünder und Heilige“. Sie hat ein kaputtes Leben hinter sich, Alkohol, Drogen, und Gott hat sie gefunden. Sie hat gelernt: Menschen sind zum Schrecklichsten und zum Größten in der Lage. Mittlerweile schreibt sie, Nadia Bolz-Weber aus Denver, Colorado, wunderbare, im besten Sinne unverschämte Bücher. Vor ein paar Jahren war sie in Berlin bei einem Predigt-Workshop in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Nadia Bolz-Weber. Eine meiner Heldinnen. Prophetin und Predigerin in einer verwundeten Welt.
Sie hat eine Antwort auf die Frage zur Zukunft der Kirche gefunden. Und was daran rosa, also gleichzeitig ist. Frei übersetzt, sagte sie einmal: So verstehe ich eine christliche Gemeinschaft: Wir helfen einander, den dauernden inneren Ankläger zum Schweigen zu bringen. Wir verbinden einander die Wunden, zeigen uns unsere Narben, erkennen unsere Unzulänglichkeiten und nennen Unrecht Unrecht. Wir weinen miteinander, bringen einander zum Lachen, und halten eisern daran fest, dass Gnade für alle da ist!
Wir sind verwundbare Kinder eines verwundbaren Gottes in einer verwundbaren Welt.
Getröstet, damit wir trösten können. Herausgerufen, damit wir herausrufen können. Ermutigt, damit wir ermutigen können.
In diesem Sinne, in allem Schmerz, in aller Hoffnung: Ich sehe heute ganz deutlich rosa für die Zukunft der Kirche und für die Zukunft unserer verwundeten Gesellschaft. Amen.