Die „Ostdenkschrift“ der Evangelischen Kirche in Deutschland

Hintergrundinformationen

Am 1. Oktober 1965 erschien die später als „Ostdenkschrift“ bezeichnete Denkschrift der EKD mit dem Titel „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“. Diese Denkschrift zählt zu den wichtigsten Initiativen, die die Wende innerhalb der deutschen Ostpolitik den Weg beförderte. Diese Wende führte 1970 zum Gewaltverzichtsabkommen zwischen Polen und der Bundesrepublik und zu einer ersten Annäherung der beiden Staaten.

Mit dem Papier bezog die evangelische Kirche Stellung zu dem Anspruch auf die früheren deutschen Ostgebiete und brach so mit einem parteiübergreifenden Tabu bundesdeutscher Politik. In dem Text wurde das Unrecht gegenüber den deutschen Vertriebenen beklagt, zugleich jedoch empfohlen, das Heimatrecht der polnischen Bevölkerung in den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie anzuerkennen. Im Klartext plädierten die Verfasser, unter ihnen der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, dafür, sich von Positionen zu lösen, die auf eine Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 beharrten.

War Aussöhnung mit Polen das Motiv der EKD-Denkschrift, so wirkte sie in der damaligen bundesdeutschen Öffentlichkeit stark polarisierend. Die Empörung fiel heftig aus. Verrat und Verzicht waren Vorwürfe, denen sich die evangelische Kirche konfrontiert sah. Neben den Vertriebenenverbänden waren es vor allem konservative Kreise in Politik, Gesellschaft und Kirche, die mit Ablehnung auf die kirchliche Einmischung reagierten.

Kritikern des Textes hielt Vizepräsident Erwin Wilckens von der EKD-Kirchenkanzlei, der als „Vater der Ostdenkschrift“ gilt, entgegen, es habe sich um einen seelsorgerlichen Beitrag in einer heiklen historischen Situation gehandelt. Der Kirche sei es darum gegangen, „ohne Hass die Vergangenheit auch mit anderen Augen zu sehen. Ohne Verkürzungen die ganze Wirklichkeit zu erfassen und ohne Illusionen die Aufgaben der deutschen Politik in den Rahmen der weltpolitischen Möglichkeiten von heute und morgen hineinzustellen“.

Unter Historikern ist die politische Wirkung der Ostdenkschrift weithin unbestritten. Auch wenn sich die offizielle Politik mit Reaktionen zurückhielt, so gab es doch indirekt Signale, dass man auf ein solches Wort gewartet habe. Für die neue Ostpolitik, die ab 1969 von sozialliberalen Regierung Willy Brandt forciert wurde, gilt sie neben den Briefen der katholischen Bischöfe Polens vom November 1965 als auslösendes Moment. Am Gedenktag der Vertreibung sagte Bundespräsident Joachim Gauck im Juni 2014, der Perspektivwechsel im Blick nach Osten habe erst Mitte der 1960er-Jahre eingesetzt – „wesentlich vorangetrieben durch die Ostdenkschrift der evangelischen Kirche und den Brief der polnischen katholischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder“. 


Aufbau und Auszüge  

 Vorwort

1. Umfang und Zusammenhänge der Probleme 

„Jede Betrachtung zur Lage der Vertriebenen und zum künftigen Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn muß damit beginnen, den Umfang der menschlichen Seite der Katastrophe des deutschen Ostens bewußt zu machen […]. Die Vorgänge wären unangemessen verkürzt dargestellt, würde nicht von Anfang an auch das menschliche und geschichtliche Schicksal der östlichen Nachbarn Deutschlands mit ins Auge gefaßt […]. Dabei hatte das deutsche Volk schwere politische und moralische Schuld gegenüber seinen Nachbarn auf sich geladen.“ (7)

2. Die Vertriebenen in Gesellschaft und Kirche

3. Zur gegenwärtigen Lage jenseits der Oder-Neiße-Linie

4. Völkerrechtliche Fragen

5. Theologische und ethische Erwägungen 

„In unserem Zusammenhang geht es um Fragen einer politischen Neuordnung im Verhältnis zwischen den Völkern […] Die hier anzustrebende internationale Friedensordnung ist ohne Wahrheit und Gerechtigkeit, ohne gegenseitige Berücksichtigung berechtigter Interessen und ohne den Willen zum Neuanfang auf der Grundlage der Versöhnung nicht denkbar.“ (34) Im Blick auf die Situation der Vertriebenen nannte die Ostdenkschrift die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten ein „Unrecht“. „Vom Unrecht der Vertreibung kann aber nicht gesprochen werden, ohne daß die Frage nach der Schuld gestellt wird. Im Namen des deutschen Volkes wurde der Zweite Weltkrieg ausgelöst und in viele fremde Länder getragen. Seine ganze Zerstörungsgewalt hat sich schließlich gegen den Urheber selbst gekehrt. Die Vertreibung der deutschen Ostbevölkerung und das Schicksal der deutschen Ostgebiete ist ein Teil des schweren Unglücks, das das deutsche Volk schuldhaft über sich selbst und andere Völker gebracht hat.“ (40)

6. Die deutschen Ostgrenzen als politische Aufgabe 

„Eine künftige haltbare Friedensordnung kann im Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn nur im Zeichen eines neuen Anfanges verwirklicht werden. Über den gegenwärtigen Zustand einer so gut wie völligen Entfremdung und gegenseitiger Furcht- und Haßgefühle hinaus muß es zu einer Versöhnung kommen, die auch zwischen Völkern möglich ist. Dem Frieden der Welt und einer Neuordnung Europas sind die beteiligten Völker ein äußerstes Maß an Anstrengung […] Die vorliegende Denkschrift maßt sich also nicht an, den zum politischen Handeln berufenen Instanzen die Handlungswege vorzuzeichnen. Aber sie sieht eine Aufgabe der Kirche darin, dem deutschen Volk die Ziele, auf die es ankommt, deutlicher bewußt zu machen […] und die in dieser Diskussion so oft zutage tretenden Widerstände gegen diese Ziele auszuräumen.“ (43-44) 
 
(Vgl. den Text der „Ostdenkschrift“ unter https://archiv.ekd.de/EKD-Texte/45952.html sowie den Beitrag zur Entstehungsgeschichte, Rezeption und Bedeutung der Ostdenkschrift von Prof. Martin Greschat unter https://www.nordkirche-nach45.de/fileadmin/user_upload/baukaesten/Baukasten_Neue_Anfaenge/NA_Luebeck_Prof_Greschat_Europa.pdf