„Im Spiegel der Angst“
Oratorium zum Reformationsjubiläum wird uraufgeführt
„Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war ich verloren. Mein Sünd mich quälte Nacht und Tag, darin ich war geboren“, dichtete Martin Luther. Mit Worten aus seinem Lied „Nun freut euch, liebe Christengmein“ beginnen Sänger eine packende musikalische Auseinandersetzung. „Im Spiegel der Angst – Auf der Suche nach Entängstigung“ lautet der Titel des Oratoriums, das der Frankfurter Komponist und Dirigent Gerhard Müller-Hornbach zum 500. Reformationsjubiläum komponiert hat.
Eineinhalb Jahre lang hat der gerade emeritierte Musikhochschulprofessor im Auftrag der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau an dem Thema gearbeitet. Bei der Lektüre von Luthers Leben und Schriften sei ihm das Leitmotiv der Angst aufgefallen, erzählt Müller-Hornbach. Der Reformator habe sich sein Leben lang Ängsten ausgeliefert gefühlt, die sich auch in der Abwehr von Fremden wie den Türken oder den Juden geäußert hätten.
„Im Spiegel der Angst erscheint uns die Welt vielfach verzerrt und deformiert“, erklärt Müller-Hornbach. „Das Fremde, das Andersartige, das Unerklärliche empfinden wir als bedrohlich, als beängstigend.“ Den Bezug zur Gegenwart sieht der Komponist beim Umgang mit Flüchtlingen.
Jedoch hat Luther nach den Worten von Müller-Hornbach die Angst auch immer wieder überwunden, etwa als er vor dem Wormser Reichstag 1521 dem Kaiser als übermächtigem Gegner widerstand oder als er am Lebensende mit großer Gelassenheit und Zuversicht dem Sterben entgegensah. Der Komponist resümiert: „Nicht Angstfreiheit ist es, sondern die Bereitschaft, im Angesicht der Angst unseren Lebensimpuls aufrechtzuerhalten, unseren Überzeugungen zu folgen.“
Existenzielles Thema auch in der Gegenwart
Fündig geworden „auf der Suche nach Entängstigung“ ist der Komponist nicht nur bei dem Reformator, auch bei Autoren wie Ingeborg Bachmann, Henrik Ibsen, Hannah Arendt, Erich Fried oder Khalil Gibran. Martin Luther King zitiert er in dem Oratorium mit dem Satz: „Männer hassen sich oft, weil sie Angst voreinander haben; sie haben Angst voreinander, weil sie sich nicht kennen; sie kennen sich nicht, weil sie nicht kommunizieren können; sie können nicht kommunizieren, weil sie getrennt werden.“
„Wenn wir es riskieren, die Ambivalenz von Glück und Leid in der menschlichen Existenz als Erfahrungsvielfalt und -tiefe zu akzeptieren, werden wir gerade dort Bereicherung und Erweiterung finden“, sagt Müller-Hornbach.
Die hessen-nassauische Landeskirche habe die kirchenmusikalische Komposition beauftragt, damit nicht nur Pop-Musicals Luther aufgreifen, sondern die Kirche auch einen Beitrag im Bereich der Neuen Musik leistet, erklärt die frühere Leiterin des Dezernats Kirchliche Dienste, Christine Noschka. Dabei sollte die Komposition nicht rückwärtsgewandt sein, sondern ein existenzielles Thema bearbeiten, das Menschen auch in der Gegenwart beschäftigt.
„Die Komposition ist ein Appell, dass wir ein mutiges Zeugnis mit ganzer Macht gegen Luthers Ausbrüche geben“
Die Angst spiele auch heute eine Rolle in der Debatte um die Aufnahme von Flüchtlingen und das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft, stimmt Noschka dem Komponisten zu. Populistische Kräfte operierten mit solchen Ängsten. In diesem Zusammenhang „berührt es mich tief, dass in der Komposition auch der schwierige Schatten Luthers vorkommt“, sagt die Theologin.
Die Zitate Luthers gegen die Juden und Türken seien „eine große Provokation“, sagt Noschka. „Die Zuhörer erleben die Abgründe emotional.“ Protestanten müssten sich aber den hetzerischen Sätzen stellen. „Die Komposition ist ein Appell, dass wir ein mutiges Zeugnis mit ganzer Macht gegen Luthers Ausbrüche geben.“ Um dies deutlich zu machen, werde Müller-Hornbach in sein Werk einführen und am Vorabend ein hochkarätig besetztes Symposium unter anderen mit dem Schriftsteller Feridun Zaimoglu sich mit dem Thema auseinandersetzen.
„Wenn Zuhörer hellhörig werden und Anstöße mitnehmen, ist es ein Erfolg“
Musikalisch führen drei Vokalsolisten, Maren Schwier (Sopran), Christian Rathgeber (Tenor) und Hans Christoph Begemann (Bariton), zusammen mit einem achtstimmigen gemischten Chor und drei Instrumentalensembles das Oratorium auf. Streicher, Bläser, Gitarre, Akkordeon und Schlagzeug kommen zum Einsatz. Die 40 Chorsänger stammen vom Bachchor Mainz, die 24 Instrumentalisten von Müller-Hornbachs Mutare-Ensemble Frankfurt.
In der Aufführung können die Zuhörer sich mit der „Suche nach Entängstigung“ emotional auseinandersetzen, hofft der Komponist. „Ich möchte, dass sie in sich hineinhören und sich fragen, wo Angst und Entängstigung bei ihnen und in ihrem Handeln wirken“, wünscht Müller-Hornbach. „Wenn Zuhörer hellhörig werden und Anstöße mitnehmen, ist es ein Erfolg.“
Jens Bayer-Gimm (epd)