Missbrauch als Thema in der Literatur

Interview mit dem Schriftsteller Bodo Kirchhoff

Bodo Kirchhoff (76), einer der bekanntesten deutschen Schriftsteller, wurde als 12-Jähriger in einer evangelischen Internatsschule von einem Kantor und Lehrer mehrfach sexuell missbraucht. Eine Erfahrung, für die er in seinen Romanen eine Sprache fand.

Bodo Kirchhoff auf der Frankfurter Buschmesse 2016

Bodo Kirchhoff hat seine eigene Missbrauchserfahrung in mehreren Büchern verarbeitet.

Herr Kirchhoff, Sie haben bereits 1993 über Ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt berichtet. Aber erst 2010 nach einem Spiegel-Artikel interessierte sich eine größere Öffentlichkeit dafür.

Bodo Kirchhoff: Ja, es hat sich zweifellos etwas verändert. Als ich davon das erste Mal erzählte, gab es überhaupt keine Reaktion darauf. Was mich zu dem Spiegel-Artikel veranlasst hat, war, dass man eigentlich nie genau wusste, was mit dem Wort „Missbrauch“ gemeint war – natürlich bedeutet das für jeden Betroffenen etwas anderes, manchmal können dazu noch Blicke genügen und ein falsches „Tätscheln“, ich wollte es allerdings, was mich betraf, sehr genau formulieren und deutlich machen, dass in dem Begriff eine große Bandbreite liegt, die von plumper Gewalt bis zu einer hilflos erwiderten Liebe reichen kann. Ich wollte mit dem Artikel und mit dem autobiografischen Roman „Dämmer und Aufruhr“ klar machen, wovon die Rede ist. Inzwischen ist die Sensibilisierung ungleich größer geworden.

Sie sind auch deshalb Schriftsteller geworden, weil Sie eine Sprache für Ihre Erfahrungen finden wollten – ein Problem, vor dem viele betroffene Menschen stehen. Muss jeder seine eigene Sprache finden?

Kirchhoff: Ich habe immer versucht, überhaupt eine Sprache für Sexualität zu finden. Das hat immer auch mit Scham zu tun. Ich hatte damit später keine Probleme, habe unter anderem Psychologie studiert und ich bin sozusagen mit der Psychoanalyse groß geworden und hatte jede Gelegenheit über mich selbst nachzudenken. Etwas, was vielen Missbrauchsopfern fehlt. Aber die meisten Menschen haben eine Schamschranke. Wenn die überwunden ist, findet man auch Worte dafür.

Die Einrichtung, in der Sie als Kind missbraucht wurden, das Internat in Gaienhofen, wurde von der Evangelischen Kirche betrieben. Haben Sie auch ein institutionelles Versagen erlebt? Was hätten Sie sich für eine bestmögliche Aufarbeitung noch gewünscht?

Kirchhoff: Ja, selbstverständlich. Damals waren sicher etliche betroffen, eine Zahl wäre hier aber reine Spekulation. Es war niemand da, der das auch nur annähernd erfassen konnte. Es wurde auch viel unter den Teppich gekehrt. Und am schlimmsten war, dass wir regelrecht verhört wurden und über die Vorfälle reden mussten, nachdem der Typ weg war. Ich habe jahrelang versucht – und versuche noch heute – ein Foto von diesem Mann zu bekommen. Ich würde gern mein inneres Bild, das so Richtung Winnetou geht, zurechtrücken. Vielleicht kann mir dabei die Kirche helfen.

Hat das auch Ihr Verhältnis zur Kirche beeinflusst?

Kirchhoff: Teilweise. Schwerer wog, dass meine Schwester wegen Belanglosigkeiten wie Cola trinken und Händchen halten aus dem Internat rausgeschmissen wurde. Ich bin aus der evangelischen Kirche ausgetreten, aber meine Kinder sind getauft. Ich bin nicht völlig kirchenfern.

 

Das Motiv sexualisierte Gewalt greift Kirchhoff unter anderem in seinen Werken Parlando, Die Liebe in groben Zügen und insbesondere in dem autobiografischen Roman Dämmer und Aufruhr auf. Für Widerfahrnis erhielt er den Deutschen Buchpreis, sein neuestes Werk heißt Seit er sein Leben mit einem Tier teilt. In seinen Schreibkursen am Gardasee helfen er und die Lektorin Ulrike Bauer auch anderen, eine Sprache für ihre Erfahrungen zu finden.


Dieser Text erschien zuerst im ForuM-Bulletin, das regelmäßig über den aktuellen Stand der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie informiert. Der Newsletter erscheint etwa alle sechs Wochen und kann hier abonniert werden.

Zum gesamten ForuM-Bulletin vom 20.09.2024