Karfreitag
Als Kind – ich war neun oder zehn Jahre alt – wollte ich einmal richtig Karfreitag feiern. Ich hatte den Eindruck, dass die Erwachsenen den Anlass nicht ernst genug nehmen. Nach der Passionsandacht setzten sie sich zum Nachmittagskaffee, wie an einem normalen Sonntag. Das fand ich überhaupt nicht in Ordnung. Direkt nach der Geschichte, wie Jesus gestorben ist, konnte man doch nicht einfach wieder so zur Tagesordnung übergehen!
Ich wollte das Gefühl von Trauer und Verzweiflung nicht so schnell loslassen. Der Eindruck vom pechschwarzen Himmel über dem Hügel von Golgotha, vom Kreuz, auf das man sich gar nicht genau hinzusehen traut, weil man weiß: Dort leidet einer, bis er nicht mehr kann, verlassen von seinen Freunden, dem Tod preisgegeben – das stand mir sehr lebendig vor Augen. Kinder kennen die heimliche Faszination des Traurigen.
Wie konnte ich dieses Gefühl aufbewahren? Am besten allein. Ich machte mich auf einen einsamen Weg, hoch in die Weinberge über unserem Dorf. Die Sonne schien warm, und zwischen den Reben blühte es überall: Steinkraut, Narzissen, Perlhyazinthen. Ich erinnere mich, dass mich das erst ziemlich störte. Es schien irgendwie nicht zu passen, dass die Erde überall neues Leben atmet – gerade dann, wenn am Karfreitag in Gedanken das ganze menschliche Leid so präsent ist.
Ich weiß nicht mehr genau: Habe ich damals schon meinen Frieden gemacht damit, wie die Erwachsenen Karfreitag feiern? Heute finde ich das Gefühl, das sich mit dem Leiden und Sterben von Jesus verbindet, am ehesten in der Musik wieder. Im c-Moll, mit dem Johann Sebastian Bach die Matthäuspassion beschließt, in dieser einzigartigen Seelenruhe, die meine „Tränen“ nicht verleugnet und trotzdem schon wieder „höchst vergnügt“ sein kann.
Als Erwachsener habe ich gelernt: Unsere „richtigen“ Karfreitage haben ganz andere Daten. Sie kommen oft unvorhergesehen. Wenn mir persönlich Leid und Schrecken begegnet, bin ich machtlos und kann nur hoffen, dass mich das Verständnis und das Mitgefühl anderer Menschen durch meine dunklen Stunden tragen. Vielleicht ist der Karfreitag ein guter Zeitpunkt, an dem ich mich an die Krisen meines Lebens erinnere. Aber auch daran, wie und mit wessen Hilfe ich sie durchgestanden habe! Denn dieser eine Tag im Kirchenjahr – ein Tag, der in diesem Jahr noch stiller und für manche noch einsamer sein wird als sonst –, er ist ein Symbol dafür, dass Gott im Leiden zu uns steht. Dass seine Liebe und sein Lebensimpuls durch menschliche Abgründe hindurch tragen. Nicht einfach darüber hinweg.
Johannes Wischmeyer-Janzarik