Kirche und Menschenrechte: Vernunftehe oder Liebesheirat?
Die Unrechts- und Gewalterfahrungen des 2. Weltkriegs und seine Folgen führten 1948 zur Proklamation der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen. Menschenrechte sollen unteilbar sein und universelle Geltung haben. Die Kirchen gehören heute zu den zivilgesellschaftlichen Akteuren, die in vielen ihrer Arbeitsfelder die Menschenrechte verteidigen und zu ihrer Verwirklichung beitragen.
Dies war jedoch nicht immer so.
Ähnlich wie in ihrer Haltung zur Demokratie haben die Kirchen hierbei einen langen und konfliktreichen Lernprozess durchlaufen. So ist die Erkenntnis, dass der Einsatz und die Verteidigung von Menschenrechten auch eine kirchliche Aufgabe ist und bleibt u.a. den Bürgerrechtsbewegungen in den USA und in Südafrika in den 1960er und -70er Jahren zu verdanken, wie auch der Befreiungstheologie Lateinamerikas. Als Teil der Ökumenischen Bewegung hat die Kirche gerade im Kampf für die Menschenrechte viel von den ökumenischen Partnern gelernt.
Sicher liegen den Menschenrechten Vorstellungen zugrunde, die in der Botschaft der Bibel und christlichen Inhalte deutliche Bezugspunkte haben. Ihre Wurzeln haben sie jedoch in philosophischen und politischen Konzepten, die sich historisch oft gegen kirchliche Machtansprüche durchsetzen mussten.
Ideengeschichtlich gibt es Verbindungen zu Rechtsvorstellungen der antiken Philosophie, wie z.B. der Stoa und des antiken römischen Rechts, die dann im Humanismus der Renaissance wiederbelebt wurden. In der antiken und mittelalterlichen Theologie finden sich zwei Strömungen, die entweder mit den Gedanken der Menschenrechte in Konflikt standen oder auch positiv zu späteren Konzepten beitrugen. Prägend für die massive Opposition der Kirchen war, ausgehend von Augustin, die Lehre von der Erbsünde, wonach die Ebenbildlichkeit des Menschen als zerstört angesehen wurde. Eine menschliche Würde, die göttlicher und kirchlicher Macht entzogen ist, war nicht denkbar. [1] Wenn überhaupt, so kam ausschließlich den Christen eine Würde zu, der Gedanke eines gemeinsamen Menschengeschlechts war mit der Einteilung der Menschheit in Christen und Nichtchristen (Heiden, Juden) und Häretikern obsolet geworden. [2]
Eine zweite Strömung im christlichen Denken war das Naturrecht, wie es in der mittelalterlichen Scholastik entwickelt und theologisch im Humanismus und in der Renaissance weitergedacht wurde.
Entscheidend im reformatorischen Denken war der Gedanke der Rechtfertigung des Menschen: Wird der Mensch als Person nicht durch eigene Leistungen definiert, sondern allein durch Gottes Beziehung zu ihm und durch seine Gnade, so ist die einzige wahre Antwort des Menschen der freie Glaube, woraus wiederum die Gewissensfreiheit resultiert. [3]
Die Gewissensfreiheit, wie sie in der Reformation formuliert wurde, wie auch die Forderung nach Religionsfreiheit, waren wichtige Bausteine, wenn auch ihre Einbindung in den Glauben an Gott bzw. ihre Begrenzung auf die eigene Konfession sich deutlich von allgemeinen und für alle Menschen gültigen Rechten unterschieden. Die Reformation trug jedoch maßgeblich dazu bei, dass dem Gewissen des Einzelnen ein hoher Stellenwert eingeräumt wurde und wurde damit auf lange Sicht zur Wegbereiterin des modernen Individualismus.
Einen wichtigen Akzent bringt die reformierte Tradition in diese Entwicklung ein: Mit dem Gedanken von Gottes Erwählung und der Heiligung des christlichen Lebens verbindet sich auch die Forderung nach Religionsfreiheit. Der Mensch lebt in dem durch Gott gestifteten Bund in einer wechselseitigen Verpflichtung. Die Aufnahme der geflüchteten Hugenotten in Genf zur Zeit Calvins gab dem Gedanken der Religionsfreiheit eine konkrete Bedeutung. Die presbyterianische Kirchenordnung war ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung von Demokratie und Partizipation. [4]
Mit der anthropologischen Wende, die im Prozess der Aufklärung vollzogen wurde, entstand die Verknüpfung von menschlicher Würde und Vernunft. Daraus entwickelt sich ein Konzept der Gleichheit aller Menschen, das besonders für die amerikanische Menschenrechtserklärung von 1776 wichtig wurde. [5]
In der Moderne waren für die politische Durchsetzung der Menschenrechte zwei Entwicklungen von entscheidender Bedeutung: Dies war zum einen die Französische Revolution, die gleichzeitig extrem antikirchlich und antireligiös war. Die Befreiung von kirchlicher Macht und Bevormundung und die Trennung von Kirche und Staat waren zentrale Forderungen der französischen Revolution, die Verwehrung des kirchlichen Zugriffs auf das Leben der Menschen, u.a. durch Einführung der Zivilehe, ein Grundzug der Gesetzgebung. Eine weitere Quelle war mit der „Bill of Rights „in den USA gegeben, die jedoch einen anderen Ansatz verfolgte. Hier war gerade die Religionsfreiheit ein wichtiger Aspekt und Ausgangspunkt für die Formulierung weiterer Freiheitsrechte.
Die christlichen Kirchen richteten sich lange auch aus theologischen Erwägungen gegen den Gedanken des freien und gleichen Individuums, da darin eine Hybris des Menschen gesehen wurde, der als ein sündiges und von Gottes Gnade abhängiges Geschöpf betrachtet wurde.6 Gegenüber einem als verwerflich angesehen Individualismus wurde die Verantwortung und Bindung des Einzelnen an die Gemeinschaft betont. [7]
Wichtig ist jedoch zu betonen, dass es nicht die Idee der Menschenrechte war, die sich durchgesetzt hat, sondern letztlich war der Auslöser das Entsetzen über die Verbrechen des Holocaust sowie die Verbrechen totalitärer Regime, die in der Völkergemeinschaft zur Erklärung der Menschenrechte und der Gründung von Organisationen wie den Vereinten Nationen führten. [8]
Auch die Kirchen begannen ihre Opposition erst unter diesem Eindruck schrittweise aufzugeben. Die zunehmende Anerkennung der Menschenrechte und der Einsatz für ihre Durchsetzung sind nicht zu trennen von gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, mit denen die Kirchen sich theologisch auseinandersetzten und die auch ihre eigenen Positionen veränderten. Hier ist auch eine eigene Schuldgeschichte als Befreiungsgeschichte anzunehmen.
Anmerkungen:
[1] vgl. Huber, 1992, S 578f.
[2] vgl. ebd.
[3] vgl. Huber, 1992, S. 579
[4] vgl. Huber, 1992, S. 580
[5] vgl. ebd.
[6] Peter Müller, 2017, S. 182, Anm. 15: „Karl Barth z.B. sprach von einer ‚heillose(n) Verwirrung und Blasphemie’ wenn man die Würde des menschlichen Ich an ihm selbst festmache (Die kirchliche Dogmatik I/2, Zürich 1948, 444f)“
[7] vgl. Gräb-Schmidt, 2017, S. 27f.
[8] vgl. Boschki, 2017, S. 200ff.
Verwendete Literatur:
- Huber, Wolfgang, Art. Menschenrechte/Menschenwürde, in : TRE 22, 1992, S. 577-602.
- Müller, Peter, Würde und Rechte des Menschen. Biblische Perspektiven, in: Altmeyer, Stefan/Eglert, Rudolf u.a. (Hrg.) Menschenrechte und Religionsunterricht. Jahrbuch der Religionspädagogik 33, Neukirchen 2017, S. 180-193.
- Gräb-Schmidt, Elisabeth, Menschenrechte und Christentum, in: Altmeyer, Stefan/Eglert, Rudolf u.a. (Hrg.) Menschenrechte und Religionsunterricht. Jahrbuch der Religionspädagogik 33, Neukirchen 2017, S. 26-37.
- Boschki, Reinhold, Menschrechtsbildung im Kontext einer „Culture of Rememberence“, in: Pirner, Manfred L./Lähnemann, Johannes/Bielefeldt, Heiner (Hrg.) Menschrechte und interreligiöse Bildung, Berlin 2015, S. 200-209.
Dieser Text wurde zuerst im August 2019 in der Broschüre „frei und gleich. Menschen. Rechte. Leben. – Zum biblisch-theologischen Hintergrund“ veröffentlicht, die im Rahmen der EKD-Menschenrechtsinitiative #freiundgleich vom Referat für Menschenrechte, Migration und Integration der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) herausgegeben wurde.