Volkssprachen
minderheitlich werden – eine Denkfigur zur Kirchenentwicklung
Mit historischen Veränderungen der lateinisch-sprachigen Kulturen änderte sich auch die Sprache selbst. Das Lateinische wurde weniger „antikisch“ (Auerbach). Das zog Veränderungen des
christlichen Sprachgebrauchs nach sich. Zu Beginn des sechsten Jahrhunderts begann eine Entwicklung, die um 1300 virulent wurde.
Die Gesellschaften hatten sich diversifiziert und individualisiert. Die Volkssprachen drängten in die dem Lateinischen angestammten Bereiche wie Gerichte, Universitäten und setzten ein weiteres minderheitlich-werden in Gang. Dieser Prozess lief in mehreren Sprachgebieten fast gleichzeitig: Raimundus Lulus (gest. 1316) bewirkte ihn fürs Katalanische wie Meister Eckhart (gest. 1328) fürs Deutsche, Dante (gest. 1321) fürs Italienische.
Der Philosophiehistoriker Kurt Flasch folgt in Bezug auf die genannten Autoren der sermo-humilis-Spur Auerbachs: „Sie formulierten einen neuen, nicht mehr feudalen, nicht mehr benediktinisch-monastischen Weltbegriff, einen neuen Begriff des Menschen und der Religion. Sie griffen die Armuts- und die Frauenbewegung auf, die seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts die kulturelle und kirchliche Gesamtsituation umgestaltet hatten. Eckharts Predigten drücken eine neue, nicht mehr hierarchisch fixierte Sichtweise aus, die Stadtbürger und Frauen als die ihre anerkennen konnten. Gleichzeitig mit Dante und Lull erklärte ihnen Eckhart, dass Adel nicht an Blut, Familienbesitz und feudales Lebensgefühl gebunden sei; es lag jetzt an jedem selbst, ob er ‚edel‘ war. Eckhart radikalisierte die Armutsidee, um einer neuen Autonomie zu Wort und Realität zu verhelfen: Der Mensch soll verzichten, nicht nur auf Macht und Geld, nicht nur auf kollektives und privates Eigentum, sondern auf alle äußeren Rücksichten, auf Herkommen und Ansehen, aber auch auf jenseitige Belohnungen. Er soll nicht um Lohnes, aber auch nicht um Gottes willen tun, was er tut. Er soll alles lassen, die Welt, sich und Gott.“
Mit der Verurteilung von Meister Eckhart (1329) erlitt die deutsche Entwicklung einen deutlichen Rückschlag. Erst Martin Luther gelang der Durchbruch mit seiner Bibelübersetzung und einer nachhaltigen Prägung der deutschen Sprache.
Dietrich Sagert