Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn aus dem Jahr 1965
I. Umfang und Zusammenhänge der Probleme
Jede Betrachtung zur Lage der Vertriebenen und zum künftigen Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn muß damit beginnen, den Umfang der menschlichen Seite der Katastrophe des deutschen Ostens bewußtzumachen. In Millionen von Einzelschicksalen wiederholte sich mit dem Verlust der Heimat der Verlust beinahe jeglichen äußeren Besitzes und in den meisten Fällen auch der Verlust von nahen Angehörigen. Millionenfach wiederholte sich mit den Strapazen der Vertreibung und mit dem Kampf um die nackte Selbsterhaltung eine totale Lebenskrise, die auch die seelische, geistige und geistliche Substanz erfaßte.
Den geschichtlichen Hintergrund der Vertreibung und aller Einzelschicksale aber bilden die Vorgänge, durch die ein Viertel des Deutschen Reiches von 1937 unter fremde Verwaltung gestellt worden und der deutsche Siedlungsraum in der Tschechoslowakei sowie in anderen Ländern Ost- und Südosteuropas verlorengegangen ist. Damit hat nicht nur das Geschichtsbewußtsein des deutschen Volkes einen empfindlichen Schlag erlitten, es bedeutet auch den Verlust großer kultureller Kraftfelder, von denen eine starke Wirkung auf das deutsche und europäische Geistesleben einschließlich seiner religiösen und kirchlichen Elemente ausgegangen ist. Kirchlich gesehen, empfindet es der deutsche Protestantismus bis heute als einen tiefgebenden Eingriff in seine Substanz, daß ihm mehrere große Landeskirchen ganz verlorengegangen und die Kirchen von Berlin-Brandenburg, Pommern und Schlesien in ihrem Bestand erheblich geschmälert worden sind.
Die Vorgänge wären unangemessen verkürzt dargestellt, würde nicht von Anfang an auch das menschliche und geschichtliche Schicksal der östlichen Nachbarn Deutschlands mit ins Auge gefaßt. Sie haben den Krieg und den Kriegsausgang ebenfalls als menschliche und nationale Katastrophe erfahren. Dabei hatte das deutsche Volk schwere politische und moralische Schuld gegenüber seinen Nachbarn auf sich geladen. Die den Deutschen angetanen Unrechtstaten können nicht aus dem Zusammenhang mit der politischen und moralischen Verirrung herausgelöst werden, in die sich das deutsche Volk vom Nationalsozialismus hat führen lassen.
Diese im einzelnen und im ganzen erschütternden und die Struktur ganz Europas berührenden Katastrophen sind bis heute weder menschlich noch geistig, weder als geschichtlicher Vorgang noch als politische Aufgabe ausreichend verarbeitet worden. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie und aus anderen Nachbarländern hat die notwendige sittliche und rechtliche Bewältigung bisher nicht erfahren. Die vorläufigen Entscheidungen des Potsdamer Protokolls vom 2. August 1945 zur Gebietshoheit über deutsche Ostprovinzen sind immer noch nicht durch eine völkerrechtliche Dauerregelung abgelöst worden. Als besonders belastend muß es bezeichnet werden, daß sich zwanzig Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges kaum die Möglichkeit abzeichnet, die schwerwiegenden Fragen der Schuld und des Rechtes zwischen den beteiligten Völkern in sachlicher Offenheit zu erörtern. Das ist nicht nur eine Folge der ideologischen Gegensätzlichkeit. Das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn ist so tief zerrüttet worden, daß der frühere reiche menschliche, geistige und kulturelle Austausch völlig zum Erliegen kam und bis heute noch kaum wieder aufgenommen ist.
Solange dieser Zustand einer noch ausstehenden Versöhnung besteht, bildet er einen Herd der Unruhe, weil ohne Lösung der deutschen Frage alle Bemühungen um eine politische Entspannung in Mitteleuropa und um eine neue tragfähige Friedensordnung zwischen den Völkern erfolglos bleiben müssen.
Auch innerhalb des deutschen Volkes hat der Zeitablauf allein noch nicht wahrhaft heilend und beschwichtigend auf die menschlichen Wunden und auf die politische Unruhe gewirkt, die durch die Vertreibung entstanden sind. Je mehr die Eingliederung der Vertriebenen in Gesellschaft und Kirche dem äußeren Bilde nach fortzuschreiten scheint, desto mehr kommen die tieferliegenden Zusammenhänge und Folgen des Vertreibungsproblems zur Geltung. Darum darf man sich über die kritische innere Verfassung vieler Vertriebener nicht hinwegtäuschen lassen. Mit Recht empfinden es die Vertriebenen selbst als eine unzulässige Vereinfachung der Probleme, wenn diese mit der wirtschaftlichen Eingliederung als erledigt angesehen werden. Man muß deshalb Verständnis für den Umfang und die Leidenschaft haben, mit denen die Diskussion um das „Recht auf Heimat“, im Sinne der ursprünglichen und angestammten Heimat, geführt wird („Recht auf Heimat“). Die Vorgänge um die deutschen Ostgebiete und das Vertreibungsschicksal anderer Völker rufen in der Tat nach einer umfassenden internationalen Erörterung der Frage, wie weit künftig durch eine völkerrechtliche und politische Verwirklichung eines neu zu formulierenden Menschenrechtes derartige Massenkatastrophen verhindert werden können. Es ist auch verständlich, daß führende Kreise der Vertriebenen zur Lösung der noch offenen menschlichen Fragen und zur Erfüllung ihrer politischen Hoffnungen die Hilfe von möglichst vielen zwingenden rechtlichen und ethischen, auch theologischen Argumenten in Anspruch nehmen möchten. So betrachtet ist der Begriff „Recht auf Heimat“, um den es sich dabei in erster Linie handelt, über den engeren Wortsinn hinaus oft nur ein Hinweis auf ein Bündel weiterreichender Probleme und Aufgaben.
Zu einer ersten Übersicht über Umfang und Zusammenhänge des Vertriebenenproblems gehört auch die Feststellung, daß die Diskussion innerhalb und außerhalb Deutschlands mit Reizbarkeit und Ungeduld geführt wird. Je weiter wir uns von den Ereignissen des Kriegsendes entfernen, desto mehr verschieben sich offenbar im Erinnerungsbild vieler die tatsächlichen politischen und geschichtlichen Zusammenhänge zugunsten einer einseitigen Sicht der Dinge. Je stärker die prinzipiellen rechtlichen und sittlichen Gesichtspunkte die Urteilsbildung bestimmen, desto mehr scheinen die tatsächlichen politischen Möglichkeiten und Aufgaben zu verblassen. Auf diese Weise gerät die deutsche Seite in die Gefahr, mit ihren politischen Vorstellungen neben die weltpolitische Wirklichkeit zu geraten und über unbestimmten Zukunftserwartungen gegenwärtige Aufgaben zu versäumen. In Wahrheit stehen wir unausweichlich vor der Aufgabe, gegenwärtige reale menschliche, ethische, rechtliche und politische Probleme zu bewältigen, die durch den Zweiten Weltkrieg und seinen Ausgang in unserem Volk und in seinem Verhältnis zu den östlichen Nachbarvölkern geschaffen wurden.