Luther minor

minderheitlich werden – eine Denkfigur zur Kirchenentwicklung

Dabei könnte gerade eine minderheitliche Lesart seiner Schriften einen Martin Luther vorstellen, der behutsam, aber deutlich aus dem Schatten seines augustinischen Pessimismus hervortritt. Was bedeutet eine mindere Lesart, eine lecture mineure? Sie bedeutet eine Variabilität von Perspektivwechseln.

Hierzu müsste man zuerst einen Autor, „der als groß angesehen“ wird, wie in unserem Falle Martin Luther, „als kleinen Autoren behandeln“, um seine „Möglichkeiten des Werdens wieder zu entdecken“, wie Deleuze derartige Prozesse in seinem „Kleinen Schriften“ beschreibt. Denn zu Größe wird man erhoben: „Aus einem Denken macht man eine Doktrin, aus einer Lebensweise eine Kultur, aus einem Ereignis eine Geschichte“. Auf diese Weise „täuscht man Anerkennung und Bewunderung vor“, in Wirklichkeit „normiert man“ jedoch den Autor, unterwirft ihn einer Norm. Es geht also darum, sich diesem Vorgang der Normierung durch „Geschichtsschreiberei“ zu widersetzen. „Operation für Operation“ in einem geradezu chirurgischen Sinne kann man sich den Vorgang des Großmachens auch umgekehrt vorstellen: „Depotenzieren (französisch minorer), ein von Mathematikern angewandter Begriff“. Man müsste also dem jeweiligen Autor entsprechend eine Methode des minderheitlich-werdens entwickeln, um die „Prozesse des Werdens gegen die Geschichte freizusetzen. Leben gegen Kultur, Gedanken gegen Doktrin, Wohlwollen oder Ablehnung gegen das Dogma“ mit dem Ziel, „jene aktive minderheitliche Kraft wieder zu finden.“

Vor diesem Hintergrund hat Martin Luther ausdrücklich Anlass gegeben, ihn als kleinen Autor zu lesen. Und vieles spricht dafür, ihm als solchem sogar den Vorzug zu geben. Als Erfinder des sermo humilis in deutscher Sprache mit seiner Übersetzung zunächst des Neuen Testamentes, dann der gesamten Bibel, stellt sich Luther als kleiner bzw. minderheitlicher Autor vor: Er übersetzte die Bibel, mit dem Ziel, dass alle, jede und jeder, die Heilige Schrift lesen könne. Auch seine Choräle und Choralbearbeitungen gehören hier her. Dann hat er selbst minderheitliche, ausdrücklich kleine Schriften wie den „Kleine[n] Katechismus“ oder „Ein[en] kleine[n] Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten solle“ verfasst. Hier liegt der Zugang zu einem Luther minor versteckt.


Dietrich Sagert