Datenschutz ist ein Grundrecht − auch bei der Aufarbeitung von Missbrauch
Fragen an den Datenschützer Felix Neumann
Ob Betroffene oder Beschuldigte - der Datenschutzexperte Felix Neumann rät den Kirchen zu einem besonders sorgsamen Umgang mit Daten bei der Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt.
Zur Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt braucht man Informationen über Menschen und Sachverhalte, die dem Datenschutz unterliegen. Welche Konflikte entstehen dadurch in der Praxis nach Ihrer Erfahrung?
Felix Neumann: Die EKD hat vieles richtig gemacht, indem sie in ihr Datenschutzgesetz mit § 50a DSG-EKD eine eigene Norm für die Verarbeitung personenbezogener Daten zur institutionellen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt aufgenommen hat. Damit gibt es eine klare Rechtsgrundlage. Diese Rechtsgrundlage birgt aber auch Konflikte: Aufarbeitung wird als „überragendes kirchliches Interesse“ definiert, hinter dem Rechte der Betroffenen zurückstehen müssen. „Betroffene“ heißt datenschutzrechtlich: die Personen, deren Daten verarbeitet werden – ob Beschuldigte oder Betroffene sexualisierter Gewalt. Gerade bei letzteren halte ich es für nicht angezeigt, Datenschutzrechte einzuschränken. Mit der Regelung können ihre Daten ohne Einwilligung verwendet werden und sie müssen auch nicht darüber informiert werden. Von einer betroffenenzentrierten Handlungsweise, wie sie die ForuM-Studie anmahnt, erwarte ich anderes. Wenn Betroffene erfahren, dass ihre Daten auf dieser Rechtsgrundlage verwendet werden, können sie sich zurecht übergangen fühlen. Konflikte entstehen auch dann, wenn sich die Kirchen zu Herren des Verfahrens machen und entscheiden, was für Betroffene am besten ist, etwa wenn sie unter dem Argument des Schutzes vor Retraumatisierung die Bedingungen festlegen wollen, wie Betroffene Auskunftsrechte geltend machen können.
Beim Großteil der bekannten Fälle handelt es sich um Mehrfachtäter. Um nach der Meldung eines Falls nach weiteren betroffenen Personen zu suchen, müssen Details veröffentlicht werden, die den Täter oft kenntlich machen. Wie ist damit rechtssicher umzugehen?
Neumann: Das ist eine komplizierte rechtliche Frage, die weit über Fragen des Datenschutzes hinausgeht und wohl in jedem Einzelfall Abwägungen erfordert. Abseits der rechtlichen Bewertung empfehle ich, hier die Expertise von Betroffenen sowohl für allgemeine Regelungen wie für konkrete Fälle einzubeziehen. Aufrufe bergen immer die Gefahr, dass Details aus den bekannten Fällen an die Öffentlichkeit kommen und man damit Betroffene unabsichtlich selbst mit in die Öffentlichkeit stellt.
Was ist beim Umgang mit den Namen verstorbener Täter zu beachten? Es gibt ja ein „postmortales Persönlichkeitsrecht“ und die Rechte der Nachkommen ...
Neumann: … dazu kommt, dass verstorbene Täter in vielen Fällen eben keine rechtskräftig verurteilten Täter sind, sondern Beschuldigte, bei denen eine Klärung der Vorwürfe rechtlich nicht mehr möglich ist. Tote können sich nicht verteidigen. Im katholischen Bistum Aachen hat man sich dafür entschieden, sich am Kunsturhebergesetz zu orientieren. Dort wird geregelt, dass Angehörige bis zu zehn Jahre nach dem Tod zustimmen müssen, wenn Bilder des Verstorbenen veröffentlicht werden sollen. Das Bistum veröffentlicht daher die Namen verurteilter und mutmaßlicher Täter erst zehn Jahre nach dem Tod. Dabei ist die Messlatte sehr niedrig gelegt, wann jemand als mutmaßlicher Täter gilt. Schon ein positiv beschiedener Antrag auf Anerkennung des Leids genügt. Dafür braucht es zurecht viel weniger Belege als für eine strafrechtliche Verurteilung. Ob das Aachener Vorgehen rechtlich trägt, wird sich zeigen – erste Angehörige haben schon vor Monaten Klagen angekündigt. Über den aktuellen Stand dieser Klagen ist noch nichts bekannt.
Zu welchem Vorgehen raten Sie, wenn betroffene Menschen mit der weiteren Verwendung vertraulicher Mails oder anderer relevanter Daten nicht einverstanden sind?
Neumann: Den Willen der Betroffenen sexualisierter Gewalt respektieren und akzeptieren. Datenschutz ist ein Grundrecht. Gerade in der Missbrauchsaufarbeitung gilt es, die Rechte der Betroffenen nicht noch einmal zu übergehen. Sehr hilfreich fand ich in diesem Zusammenhang die Stellungnahme des Arbeitskreises der Betroffenenbeiräte in der katholischen Kirche zu genau dieser Frage. Die Betroffenenvertreter*innen fordern, Daten von Betroffenen sexualisierter Gewalt nur mit Einwilligung für die Aufarbeitung zu verwenden. Dabei weisen sie darauf hin, dass bereits jetzt eine große Zahl an Daten vorliegt und Methoden der Sozialwissenschaft nahelegen, dass nicht jeder einzelne Fall mit allen Akten analysiert werden muss, um zu validen Schlussfolgerungen für die institutionelle Aufarbeitung zu kommen.
Dieser Text erschien zuerst im ForuM-Bulletin, das regelmäßig über den aktuellen Stand der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie informiert. Der Newsletter erscheint etwa alle sechs Wochen und kann hier abonniert werden.