Kirchen fordern differenzierte Einzelfallprüfung
Ökumenische Stellungnahme zum Sicherheitspaket der Bundesregierung
Gemeinsame Stellungnahme
des Kommissariats der deutschen Bischöfe
– Katholisches Büro in Berlin –
und
der Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union
zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der inneren Sicherheit und des Asylsystems (BT-Drs. 20/12805) und zum Entwurf eines Gesetzes zur Begrenzung des illegalen Zustroms von Drittstaatsangehörigen nach Deutschland (BT-Drs. 20/12804)
I. Grundsätzliches
Vor dem Hintergrund des schrecklichen Terroranschlags von Solingen am 23. August 2024 haben sowohl die Fraktionen der Regierungskoalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP als auch die CDU/CSU Fraktion Gesetzentwürfe und Anträge in den Bundestag eingebracht, die die innere Sicherheit verbessern und den Zuzug Schutzsuchender Menschen signifikant verringern soll.
Der Gesetzentwurf der Regierungskoalition sieht unter anderem waffenrechtlichen Verschärfungen, strengere Regelungen beim Ausweisungsrecht nach §§ 54 ff. AufenthG, eine Erweiterung zur Aberkennung des Flüchtlingsschutzes nach § 3 Abs. AsylG und einschneidende Änderungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) vor. Der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion enthält eine Änderung des § 36a AufenthG, mit der die Möglichkeit des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte abgeschafft und die Zurückweisung von Schutzsuchenden an den deutschen Grenzen ermöglicht werden soll.
Die beiden großen Kirchen in Deutschland teilen das Anliegen, islamistischen Terrorismus entschieden zu bekämpfen. Neben notwendigen gesetzlichen Änderungen, die dabei helfen, Täter zu identifizieren oder Anschläge zu verhindern, sollten wir als Gesellschaft unter-suchen, wie es zu einer derartigen Radikalisierung kommt und wie es besser gelingen kann, eine solche zu verhindern. Die Verschärfung asyl- und aufenthaltsrechtlicher Regelungen, die alle Schutzsuchenden gleichermaßen trifft, ist aus Sicht der Kirchen ein unverhältnismäßiger Ansatz zu sein, Radikalisierung bzw. terroristische Taten zu verhindern.
II. Bewertung einzelner Regelungen:
Zu BT-Drs. 20/12805
Zu § 1 Abs. 4 AsylbLG-E
Gemäß § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 5 AsylbLG-E haben Ausländer, die vollziehbar ausreisepflichtig sind (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG) und deren Asylantrag vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aufgrund der Zuständigkeit eines anderen europäischen Staates nach der Dublin III-VO als unzulässig abgelehnt und deren Abschiebung in den zuständigen Dublin-Staat angeordnet worden ist, keinen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG. In die-sen Fällen sollen lediglich die in § 1 Abs. 4 AsylbLG-E vorgesehenen Überbrückungsleistungen für einen Zeitraum von zwei Wochen innerhalb von zwei Jahren gewährt werden. Im Fall einer außergewöhnlichen Härte sollen zur Überwindung besonderer Umstände und zur Deckung zeitlich befristeter Bedarfe weitere Grundleistungen und eine medizinische Versorgung nach §§ 3 und 4 AsylbLG gewährt werden. In § 1 Abs. 4 S. 6 AsylbLG-E werden die Voraussetzungen, die für die Feststellung eines Härtefalls vorliegen müssen, erheblich verschärft: Anders als nach geltendem Recht muss nun eine außergewöhnliche Härtefallsitua-tion vorliegen. Eine solche soll nur gegeben sein, wenn sich die individuelle Notlage der jeweiligen Person deutlich von der Situation anderer Personen in gleicher Lage unterscheidet. Auch wurde § 6 AsylbLG aus dem Leistungsumfang im Härtefall gestrichen; das bedeutet, dass beispielsweise die Deckung besonderer Teilhabebedarfe von Menschen mit Behinderungen nicht mehr umfasst sind.
Die Kirchen halten diesen drastischen Leistungsausschluss für verfassungswidrig, da die betroffenen Personen häufig keine Möglichkeit haben, sich der Situation zu entziehen und in dem für sie nach der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaat Unterstützungsleistungen in Anspruch zu nehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass die Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren ist.
In der Gesetzesbegründung wird dagegen dargelegt, dass ein Leistungsausschluss für die betroffene Personengruppe verhältnismäßig sei, da die Annahme gerechtfertigt sei, dass es für sie im Regelfall mit keinem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden ist, Deutschland kurzfristig wieder zu verlassen und in das Land zurückzukehren, das […] für die Durchführung ihres Asylverfahrens zuständig ist“. Allerdings ist es den Betroffenen in der Regel nicht möglich, freiwillig bzw. ohne Mitwirkung staatlicher Stellen in den zuständigen „Dublin-Staat“ zurückzukehren. So sieht Art. 7 Abs. 1a) und b) Dublindurchführungs-VO eine Überstellung auf Initiative des Asylbewerbers innerhalb einer vorgegebenen Frist bzw. eine kontrollierte Ausreise vor. Hierbei ist in beiden Fällen die Mitwirkung staatlicher Stellen erforderlich, so muss der überstellende Mitgliedstaat in beiden Fällen die für die Reise zuständigen Papiere ausstellen und der zuständige „Dublin-Staat“ muss im Fall der kontrollierten Ausreise über Ort, Datum und Uhrzeit der Ankunft informiert und der Asylbewerber bis zum Besteigen des Beförderungsmittels begleitet werden. Der zuständige „Dublin-Staat“ muss die Ankunft des Asylbewerbers bestätigen. Aufgrund dessen sieht die Dienstanweisung-Dublin des BAMF eine behördlich organisierte Überstellung als Regelfall vor.
Zu §§ 3 Abs. 4 AsylG-E und 60 Abs. 8, 8a und 8b AufenthG-E
Gem. § 3 Abs. 4 AsylG-E kann ein Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft erfolgen, wenn die Voraussetzungen des mit dem Entwurf ebenfalls geänderten § 60 Abs. 8, 8a und 8b AufenthG-E vorliegen. Der Gesetzesentwurf sieht dort wesentliche Änderungen vor, die in § 60 Abs. 8a und Abs. 8b AufenthG-E zu einem abgestuften Ermessen führen. §60 Abs. 8a AufenthG-E sieht die Regelung eines gebundenen Ermessens vor, bei dem der Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft erfolgen soll, wenn die betroffene Person eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil sie wegen einer der dort gelisteten Katalogtaten zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist. Damit kann vom Ausschluss nur bei atypischen Fällen und Ausnahmen abgesehen werden. § 60 Abs. 8b AufenthG-E sieht wiederum vor, dass ein Ausschluss dann erfolgen kann, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig wegen einer der in Nr. 1 bis 3 aufgeführten Taten zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist.
Die beiden Kirchen sehen diese vorgenommenen abgestuften Ermessensregelungen als unionsrechtswidrig an. Die in § 60 Abs 8aAufenthG-E vorgesehene „Soll“ Regelung erlaubt nur ein gebundenes Ermessen und somit keine vollständige Prüfung der Einzelfallumstände innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung, was aus Sicht der beiden Kirchen der Rechtsprechung des EuGH widerspricht, und angesichts des hohen Schutzgutes, in welches dadurch eingegriffen wird, auch als sehr bedenklich anzusehen ist. Der EuGH entschied, dass der Ausschluss von einem Schutzstatus nur nach einer vollständigen Prüfung sämtlicher Einzelfallumstände erfolgen darf und das selbst bei einer Verurteilung zu einer Mindeststrafe von fünf Jahren . Eine solche Einzelfallprüfung ist bei einer „Soll“-Vorschrift im Sinne des § 60 Abs. 8a AufenthG-E nicht möglich, denn diese erlaubt ja gerade keine Einzelfallprüfung, sondern sieht bei Vorliegen der Voraussetzungen den Ausschluss als zwingend notwendig vor. Davon kann nur in Ausnahmen oder atypischen Fällen abgewichen werden.
Die beiden Kirchen erinnern daran, dass diese Einschränkung bereits im früheren Ausweisungsrecht bestand und aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG geändert wurde. Das Gericht hatte die damalige Regelung in §§ 53 ff. AufenthG a.F., die eine Ist-, Regel- und Ermessensausweisung vorsah, nicht für verfassungswidrig erklärt, aber deutlich gemacht, dass die schematisierende Anwendung dieser Regeln nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Demnach verlangt die Rechtsprechung des BVerfG eine ergebnisoffene Abwägung des Interesses an der Ausreise mit dem Interesse des Ausländers am weiteren Verbleib im Bundesgebiet. Die Grundsätze dieser Rechtsprechung sind auch auf den § 60 Abs. 8a und 8b AufenthG-E übertragbar. Es liegt eine vergleichbare Sachlage vor, denn beide Regelungen haben weitreichende Folgen für die betroffenen Ausländer. Sowohl die Ausweisungsnormen §§ 53 ff. AufenthG a.F. als auch § 60 Abs 8a und Abs. 8b AufenthG-E sehen ein gebundenes und abgestuftes Ermessen vor, die wenig Raum für eine solche Interessenabwägung lässt.
Die beiden Kirchen möchten zudem hervorheben, dass ein Ausschluss von dem Flüchtlingsstatus sowohl aus Sicht der Genfer Flüchtlingskonvention als auch aus unions- und verfassungsrechtlicher Perspektive als ultima ratio anzusehen ist . Ein Ausschluss führt zu einem schwerwiegenden Eingriff in die Rechte der betroffenen Person, welche auch nicht unerhebliche rechtliche und faktische Konsequenzen mit sich bringt. Die beiden Kirchen betonen daher, dass eine Einzelfallprüfung bezüglich der Ausschlussgründe, welche auch voll gerichtlich überprüfbar sein müssen, unabdingbar ist. Gleiches gilt auch für den nachträglichen Entzug der Flüchtlingseigenschaft, die nun durch § 73 Abs. 1a S. 1 und Abs. 3a S. 1 AufenthG-E den gleichen Voraussetzungen unterworfen wird.
Zu BT-Drs. 20/12804 - § 36a AufenthG-E
Gemäß § 36a AufenthG-E wird Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten ab Inkrafttreten des Gesetzes nicht mehr gewährt. Laut Gesetzesbegründung ist dies erforderlich, da „[…] die Integrationskapazitäten in Deutschland auf absehbare Zeit in einem Maße erschöpft [sind], dass der Familiennachzug zu Personen mit subsidiärem Schutz bis auf weiteres zu beenden ist.“
Die Kirchen haben bereits in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass die Familie ein sehr hohes Gut darstellt, das es zu schützen gilt. Familie bietet den Raum, in dem Vertrauen wächst und in der dauerhaften Verantwortung füreinander übernommen wird. In diesem Zusammenhang haben die Kirchen auch darauf aufmerksam gemacht, dass das tatsächliche Zusammenleben als Familie zu den sozialen Grundbedürfnissen der individuell betroffenen Familienmitglieder zählt. Dies gilt auch und besonders unter den Bedingungen von Flucht und Vertreibung. Darüber hinaus dient der Schutz von Ehe und Familie auch den Interessen der Gesellschaft als Ganzer. Die Integration drittstaatsangehöriger Personen wird erheblich erschwert, wenn sie sich um die Sicherheit und das Wohlergehen ihrer zurückgebliebenen Familienangehörigen sorgen müssen.
Aus Sicht der beiden Kirchen ist es rechtlich unerlässlich, den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigen unter erfüllbaren Bedingungen zuzulassen, da Art. 6 Abs. 1 GG auch das tatsächliche Zusammenleben der Familienmitglieder schützt und es sich nicht um ein Deutschengrundrecht handelt. Auch Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben als grundlegenden Bestandteil des Familienlebens. Der unbefristete Ausschluss des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten widerspricht diesen rechtlichen Vorgaben deutlich. Schließ-lich verletzt die Regelung aus Sicht der Kirchen auch die unionsrechtlichen Vorgaben der Familiennachzugsrichtlinie, die die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten (Art. 1 FamZ-RL) regelt. Sie findet Anwendung, wenn der Zusammenführende, der im Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Aufenthaltstitels mit mindestens einjähriger Gültigkeit ist, begründete Aussicht darauf hat, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erlangen (Art. 3 Abs. 1 FamZ-RL). Auch wenn der Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Art. 15 ff. Qualifikations-RL zeitlich nach Inkrafttreten eingeführt wurde, macht die Famili-enzusammenführungsrichtlinie deutlich, dass niemand, dem ein unionsrechtlicher Aufenthaltstitel erteilt wurde, dauerhaft vom Familiennachzug ausgeschlossen werden darf.
Subsidiär schutzberechtigt sind nach § 4 AsylG Personen, denen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Hierzu zählen die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Dieser Personengruppe ist es ebenso wie anerkannten Flüchtlingen nicht möglich, die Familieneinheit in ihrem Herkunftsland zu leben oder wiederherzustellen. In aller Regel ist dies auch in einem Drittstaat nicht möglich, da hierfür meist ein dauerhafter legaler Aufenthalt der Familienangehörigen erforderlich wäre. Ein Familiennachzug soll auch dann nicht möglich sein, wenn die Voraussetzungen der Lebensunterhalts- und Wohnraumsicherung sowie die sonstigen Voraussetzungen nach §§ 27, 29 Abs. 1 AufenthG erfüllt sind.
Die nun vorgeschlagene Regelung würde für subsidiär Schutzberechtigte somit eine langjährige bis dauerhafte Trennung bedeuten, weil ein Antrag auf Familienzusammenführung häufig erst mit Erlangung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG und damit frühestens fünf Jahre nach Zuerkennung des subsidiären Schutzes möglich wäre.
Berlin, den 17. September 2024