Predigt im Einführungsgottesdienst in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin
Prälatin Anne Gidion, Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union
5. Mose 5, 6-21
Beten und leben mit dem Doppelpunkt
Der Friede Gottes sei mit Euch allen!
I
Liebe Gemeinde,
ein Ehrenamt bringe ich mit in meine neue Aufgabe, eins meiner schönsten: Ich bin Mitglied der Kommission für ein neues Evangelisches Gesangbuch, kurz EG. Das soll ein Buch werden, wie viele es kennen und lieben, und zugleich eine kuratierte Datenbank, mit noch viel mehr Liedern und Texten. Die katholischen Geschwister haben so einen Prozess vor einiger Zeit auch durchlaufen, hin zum neuen Gotteslob – das seit neun Jahren im Gebrauch ist. Es singt sich froh daraus.
Ich bin verantwortlich in der Gruppe „Texte“. Wir suchen und prüfen Bekenntnisse, Gebete, erklärende Texte und Andachten, prüfen, ob sie tragen.
Zum Beispiel Luthers Morgen- und Abendsegen:
„Des Morgens, wenn du aufstehst, kannst du dich segnen mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes und sagen: Das walte Gott Vater, Sohn
und Heiliger Geist! Amen. Darauf kniend oder stehend das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser. Willst du, so kannst du dies Gebet dazu sprechen: Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, daß du mich diese Nacht vor allem Schaden und Gefahr behütet hast, und bitte dich, du wollest mich diesen Tag auch behüten vor Sünden und allem Übel, daß dir all mein Tun und Leben gefalle. Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, daß der böse Feind keine Macht an mir finde. Als dann mit Freuden an dein Werk gegangen und etwa ein Lied gesungen oder was dir deine Andacht eingibt.“ Martin Luthers ausführliches Programm vor für den Morgen.
Und für abends ähnlich liturgisch umfassend:
„Des Abends, wenn du zu Bett gehst, kannst du dich segnen mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes und sagen: Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist! Amen. Darauf kniend oder stehend das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser. Willst du, so kannst du dies Gebet dazu sprechen: Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, daß du mich diesen Tag gnädiglich behütet hast, und bitte dich, du wollest mir vergeben alle meine Sünde, wo ich Unrecht getan habe, und mich diese Nacht auch gnädiglich behüten. Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, daß der böse Feind keine Macht an mir finde. Alsdann flugs und fröhlich geschlafen.“
II
Hinter der Arbeit der Gesangbuchkommission steht die Suche nach dem Rahmen, der Norm, der Form. Ein Protestantismus „to go“ soll das neue Gesangbuch sein, eine eiserne Ration für jedes Sterbebett und ein Handlauf für die Erziehung – damit Kinder und andere Menschen am Anfang des Glaubens finden, was klingt und was trägt. Viele Fragen laufen mit: Ist das Aktuelle das Beste? Oder sind Glaubenslieder und -texte vor allem das, was an die eigene Kindheit erinnert? Was schulden wir der Tradition – mehr als wir denken? Wovon werden die Enkel noch profitieren?
Luthers Morgen- und Abendsegen – wie eben gehört – sind weitgehend unstrittig. Aber das Versöhnungsgebet von Coventry – in welcher Fassung soll das hinein? „Father forgive“, wie es da heißt, das sprechen nicht mehr alle einfach so mit. Poetische Texte wünschen sich manche in diesem Glaubensbuch für die Handtasche – Texte zum Beispiel von Christina Brudereck und Hanns Dieter Hüsch. Oder besser QR-Codes zu Podcasts über Glauben ohne Kirche. Was für Texte sind ansprechend für non-binäre Menschen?
Dahinter steht für uns die Suche nach Vergewisserung. Was mal galt, gilt noch. Oder muss es überarbeitet werden – geht Beten ausschließlich in Leichter Sprache? Haben sich alle alten Codes überlebt?
Braucht es überhaupt ein neues Gesangbuch, die alten Lieder sind doch noch gut. Außerdem gibt’s bei jedem Kirchentag ein neues Liederbuch. Und Singen geht doch auch vom ipad.
III
Andererseits: Je schwieriger die Zeiten, desto stärker die Sehnsucht nach starken Trost-Worten. In den Büchern Mose, am Beginn der Bibel, steht einer der zentralen Texte. Es gibt ihn in zwei verschiedenen Varianten an zwei Stellen. Zunächst im zweiten Buch Mose, im Buch Exodus, als Teil der großen Erzählung vom Volk Israel auf dem Weg durch die Wüste hin ins gelobte Land. Und dann noch einmal, im fünften Buch Mose, mit einem etwas anderen Zungenschlag und an anderer historischer Stelle. Das fünfte Buch Mose heißt auch Deuteronomium – das bedeutet: neuer Bund, neues Gesetz. Gott schließt – so das erzählerische Konstrukt – noch einmal einen neuen Bund mit seinem Volk. Obwohl der Tempel in Jerusalem zerstört ist, die Bundeslade weg, die Textrollen verbrannt sind und das Volk im Exil ist. Moses geht wieder auf den Berg und bekommt von Gott wie neu die Gebote – das wird schlicht noch einmal erzählt.
IV
Aus dem fünften Buch Mose im fünften Kapitel:
„Und Mose sprach: Höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich heute vor euren Ohren rede, und lernt sie und bewahrt sie, dass ihr danach tut! Der HERR, unser Gott, hat einen Bund mit uns geschlossen am Horeb. Nicht mit unsern Vätern hat der HERR diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, die wir heute hier sind und alle leben.
Er hat von Angesicht zu Angesicht mit euch aus dem Feuer auf dem Berge geredet.
Und er sprach: Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft.
Du sollst …“
Der Dekalog ist viel zu lange als eine To-do-Liste empfunden worden, um einen strengen Gott bei Laune zu halten. So hielten es die Väter, und deren Väter. Und wohl auch manche Mütter. Und wir?
„Nicht mit unsern Vätern hat der HERR diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, die wir heute hier sind und alle leben.“ Biblisch gesprochen, sind die Gebote je neu. Aktuell, jetzt dran. Und weniger in ihren Ausführungs- und Unterbestimmungen. Sondern in dem Ausdruck der Haltung vor dem Doppelpunkt. Sie bleiben neu. Sie machen neu.
V
Und damit gehören sie an die Schnittstelle von Kirche und Politik und ins Portfolio einer Diplomatin an eben dieser Schnittstelle.
Was meine Agenda sei, werde ich in diesen Tagen viel gefragt. Was sind die Themen, die größten Herausforderungen? Ablösung der Staatsleistungen, Asylgesetzgebung, Suizidprävention, Absenkung des Haushalts für Entwicklungszusammenarbeit, EU-Förderpolitik, Rüstungsexportkontrolle – was bieten Sie für Lösungen an?
Kirche als Werteagentur, als Moralagentur, als Interessenvertretung der Zehn Gebote in der Legion von Rechtsverordnungen – all das wird direkter oder verdeckter erwartet.
Ja, all das, sage ich. Die Themen sind da. Ich bin dabei, mich einzuarbeiten, wunderbarerweise als Kollektivwesen mit den Kolleginnen und Kollegen in den Dienststellen in Berlin und Brüssel. Aber vor all den Themen geht es für mich zentral um etwas anderes. Zentral ist für mich, eine Haltung einzuüben – eine Haltung, die diesem Doppelpunkt aus dem fünften Buch Mose entspricht.
„Und Mose rief ganz Israel zusammen und sprach zu ihnen: Höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich heute vor euren Ohren rede, und lernt sie und bewahrt sie, dass ihr danach tut! Der HERR, unser Gott, hat einen Bund mit uns geschlossen am Horeb. Nicht mit unsern Vätern hat der HERR diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, die wir heute hier sind und alle leben.
Er hat von Angesicht zu Angesicht mit euch geredet.
Und er sprach: …“ (Doppelpunkt)
Dieser Gott redet von Angesicht zu Angesicht zu den Menschen. Aus dem Feuer, auf dem Berg – in Extremsituationen. Die Gebote und Rechte im Zusammenleben der Menschen und im Zusammenleben mit diesem Gott sind ein Bund. Teil einer Beziehung. Keine Norm, über deren Klinge es zu springen gilt. Sondern etwas zum Auswendig- und vor allem zum Inwendiglernen. Zum Leben. Zum Tun.
VI
Luthers Segen hilft dabei: Innehalten am Morgen, und am Abend. Den Tag hinhalten. Keine To-do Liste, sondern: Gott, lass heute noch ein Tag sein, den wir zusammen erleben. Und keine Erfolgsbilanz am Abend. Sondern ein Vergewissern der Beziehung mit Gott: Ich gebe Dir den Tag zurück, Gott. Nimm Du, was nicht geklappt hat. Und freu Dich mit mir an allem, was ging. Ich bin da, Du bist da. Das genügt.
Die Zehn Gebote zum Zusammenleben der Menschen miteinander und der Menschen mit Gott bleiben wichtig. Übernommen von und geteilt mit dem jüdischen Glauben. Grundlegend. Grund(ge)setzlich. Jedenfalls dann, wenn das wichtig bleibt, was diese Worte einleitet.
VII
Lassen sich auch normative Texte so formulieren, dass der Gedanke der Hoffnungsrede, der Beziehung in ihnen erhalten bleibt?
Diplomatin bin ich, will ich sein, sind wir in den Dienststellen in Berlin und Brüssel. Und hinsichtlich der biblischen Tradition: Hermeneutinnen und Hermeneuten, Hebammen für eine Haltung im Text und im Leben. Übersetzende – die über die Deutungsgräben hinweg begleiten mit Worten und Gesten, offenen, wertschätzenden Räumen und Gesprächen.
Was bieten wir in den Dienststellen in Berlin und Brüssel als Kirche dicht dran am Parlamentsgeschehen? Expertise natürlich. Und Empathie, Möglichkeiten zum Atemholen, Zwischenräume. In all dem Schaffen und Strampeln einen Moment Sendepause. Menschen sind ja auch da, wenn sie nicht auf Sendung sind.
Einerseits. Zugleich sind wir auch Vertretende aus und mit Interesse. Im politischen Geschäft treffen wir auf Menschen mit Überzeugungen, und diese Überzeugungen sind mir nicht egal. Das geht im Detail für mich quer durch die Parteien. Und das werde ich auch sagen und zeigen, in größerer und kleinerer Runde. Zugleich trägt uns Christenmenschen die Trennung von Person und Werk, also: Wir sind mehr als das, was wir tun und sagen. Wir sind Beziehungswesen. Wenn eine Idee von Gott eingebunden ist in das Beziehungsgeschehen, verändert es sich.
Nicht nur damals und in alter Zeit und mit unseren Vätern und Müttern. Sondern mit uns. Die wir heute hier sind und leben.
VIII
Denn: Das beste Gesangbuch nutzt nichts, wenn es nicht mit dem Herzen gesungen wird.
Der Kontext macht es. Es bringt wenig, wenn jede Landeskirche ihre 30 Kernlieder formuliert und wir die dann in einem Buch zusammenfassen. Die besten Gesetze und Verordnungen helfen nicht, wenn sie nicht im Geist der Präambel des Grundgesetzes umgesetzt und gelebt werden.
Immer neu. In jeder Legislaturperiode. In jeder Synode und jedem Rat.
Das Volk Israel im Exil bekommt seine Gebote neu und interpretiert sie neu. Gerade als die Leute sich darauf einstellen, unbedeutend zu bleiben. Just dann spielt die Haltung vor dem Doppelpunkt eine neue Rolle, weil Gott an ihnen dranbleibt. In neuer Form, im neuen Bund, neu relevant, mit alt-neuem Auftrag. Auch als kleiner werdende Schar, als Minderheit.
Das gilt immer neu und im neuen Bund: Aus dem je aktuellen Jetzt die Geschichte mit Gott neu zu erzählen. Nicht als nostalgische Heldengeschichte von damals, als alles besser war und die Welt noch geordnet. Sondern als je neue Verbundenheit. Zwischen dem Gott, der immer neu liebt. Der die schwierigste Variante gewählt hat, um mit Menschen in Beziehung zu sein: Mensch zu werden.
Für die Kirche im politischen Leben geht es nicht darum, die wichtigsten christlichen Positionen ins Parlament zu bekommen. Sondern darum, deutlich zu machen: Was ist unsere Haltung? Und für welches System ist das relevant?
Wenn Menschen das, was vor dem Doppelpunkt steht, so wichtig wird, wie das, was dahinter ist - nur dann richten diese Texte etwas aus. Wenn es ein „Vor dem Doppelpunkt“ gibt.
IX
Dudenregel D35: Der Doppelpunkt ist ein ganz besonderes Satzzeichen. Während die meisten anderen Zeichen – Punkt, Komma, Fragezeichen, Semikolon und Ausrufezeichen – zwei Sätze oder Satzteile voneinander trennen, verbindet der Doppelpunkt Inhalte miteinander.
Das „Du sollst …“ der Gebote, wie die Kirche sie lange genutzt hat - wie viele Menschen haben darunter gelitten. Das Christentum hat aus der Hoffnungsrede der Gottesbeziehung eine abgrenzende Hassrede werden lassen, immer wieder. Das Gesetz kann Evangelium sein – aber es kann auch in sein Gegenteil verkehrt werden. Kann knebeln und klein machen. Töten, ausgrenzen.
Aber die Präambel vor dem Doppelpunkt macht die Gebote weit: Ich bin der Gott, der dich in die Freiheit geführt hat – Doppelpunkt, dann/deshalb musst und brauchst und wirst Du: nicht töten, wirst Deine Eltern ehren, nicht stehlen, nicht begehren, was dir nicht gehört.
Alles was dahinter kommt, steht in dem einen Anfang. Ist Hoffnungssprache eines liebenden Gottes.
Was vor dem Doppelpunkt steht, lässt sich nicht erzwingen. Dafür kann man nur beten und das kann man nur beherzigen. Es ist mit der Autorität der Bitte zu verkündigen.
Das ist Teil meiner Aufgabe, jeweils neu und jeweils jetzt zu fragen: Was hält uns zusammen? Mit Gott und miteinander?
Ich bin dankbar für die Doppelpunkte - im Himmel und auf Erden.
Und der Friede Gottes, höher als alle unsere Vernunft, segne und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
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