Gott will im Dunkel wohnen

Predigt zu Hiob 23 am 80. Jahrestag des Beginns des 2. Weltkriegs am 1. September 2019

Mond über einer Wiese im Schattenriss

Predigt
Kathrin Oxen/Uwe Birnstein


Dunkel. Nichts als Dunkel. Kein Licht, nirgends. Sogar Gott: verschwunden irgendwo im Dunkel. Wenn er überhaupt da ist. Oder ganz woanders? Hiob geht durch dunkle – nein: durch die schwärzesten Tage seines Lebens. Noch nicht einmal bei Gott findet er Halt. Das Licht scheint in der Finsternis? Hätte Hiob diesen Spruch von einem Tröster zugesprochen bekommen – er hätte ihn von sich gewiesen. Gott hat ja nicht für Trost gesorgt. Im Gegenteil: „Gott ist’s, der mein Herz mutlos gemacht hat“, sagt Hiob, und: „Ich erschrecke vor Gottes Angesicht, und wenn ich darüber nachdenke, so fürchte ich mich vor ihm.“ 
Kein Licht, nirgends. Auch nicht bei Gott. Nur schwarz. Nur Nacht. Armer, ehrlicher Hiob. 

In der Nacht des 1. September 1939 ist es nicht ganz dunkel. Der Mond leuchtet, vor zwei Nächten war er noch voll. Die Ostsee vor Danzig liegt ruhig. Es ist viertel vor fünf. Die Nacht ist schon am Schwinden. Der Morgen graut und verheißt einen weiteren lauen Spätsommertag.
Da schrecken Schüsse die Bewohner Danzigs aus dem Schlaf. Sie kommen von einem deutschen Kriegsschiff, das zu einem vermeintlichen Freundschaftsbesuch im Danziger Hafen liegt. Sie treffen Munitionsdepots des polnischen Heeres auf der sogenannten Westerplatte. Es brennt. Durchs friedliche Morgengrauen ziehen Rauchsäulen gen Himmel.

In Deutschland sitzen die Menschen fünf Stunden danach vor ihren Radios, den Volksempfängern. Sie hören die Stimme des Mannes, den sie zum Führer gewählt haben. Adolf Hitler spricht vor dem Reichstag. Seine Stimme überschlägt sich vor Erregung. 
„Polen hat nun heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!“

Heute haben wir eine eigene Bezeichnung für Lügen wie die, die Hitler dem Volk zumutete: „Fake News“. Es lohnt sich, einen „Faktencheck“ zu machen. 
Erstens: Von „Zurückschießen“, von einer deutschen Verteidigung als Reaktion auf einen Angriff Polens kann keine Rede sein.
Zweitens: Die morgendlichen Schüsse von Danzig waren gar nicht der Kriegsbeginn. Zwölf Minuten zuvor hatten 29 deutsche Sturzkampfbomber die polnische Kleinstadt Wielun bombardiert. 1.200 Menschen waren gestorben – die meisten von ihnen Zivilsten. Auch in einem Hospital.
Drittens – aber das ist nur ein unbedeutender Fake: Hitler verlegte die Schüsse in Danzig auf eine Stunde später.
Viertens: Was sich in Hitlers Worten wie eine relativ spontane Verteidigungsaktion anhört, war als Angriffskrieg von langer Hand geplant.
 
Eine Hiobsbotschaft war diese Nachricht also wirklich nicht. Keine überraschende Katastrophe aus heiterem Himmel, wie sie in der Bibel Hiob ereilt. Denn Kriege brechen nicht aus wie eine Krankheit. Sie werden begonnen.
Die Menschen, die am Morgen des 1. September 1939 der Übertragung der Rede an ihren Volksempfängern lauschten, konnten vom Kriegsbeginn nicht völlig überrascht sein. Die Ziele von Hitlers Expansionspolitik waren mit dem „Anschluss“ Österreichs und der Zerschlagung der damaligen Tschechoslowakei überdeutlich geworden. Und: Ende August waren wieder Lebensmittel rationiert worden. Eine ungute Erinnerung an den letzten Krieg kam hoch. Schon damals waren die Lebensmittelkarten in jedem deutschen Haushalt gegenwärtig, sie lagen auf dem Küchentisch oder auf dem Buffet, mussten zum Einkaufen mitgenommen und sorgfältig im Portemonnaie verwahrt werden. Nun gab es sie wieder. Schon deshalb konnte eigentlich niemand behaupten, er habe nichts gewusst oder zumindest geahnt.

Die Nachricht vom Kriegsbeginn am 1. September war also weiß Gott keine Hiobsbotschaft. Das Dunkel des Krieges hatte Schatten vorausgeworfen. Für die nächsten sechs Jahre legte es sich schwarz über ganz Europa, ja sogar über weite Teile der Welt. 
Dunkel. Kein Licht. Nirgends. 

Als dann alle Schlachten geschlagen und die deutschen Truppen auf dem Rückzug waren oder in Gefangenschaft kamen, offenbarte sich den Siegern in den von ihnen befreiten Konzentrationslagern erst das allerdunkelste Kapitel der deutschen Geschichte: die planmäßige Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden, die Ermordung von Menschen wegen ihres Glaubens, wegen ihrer politischen Meinung, wegen ihrer Herkunft und ethnischen Zugehörigkeit, wie Sinti und Roma, wegen ihrer sexuellen Orientierung, wegen Behinderungen oder psychischer Krankheit. In ganz Europa gab es 60 Millionen Tote, 12 Millionen Flüchtlinge allein aus den damaligen deutschen Ostgebieten, zerstörte Städte und lebenslang traumatisierte Menschen. Der Krieg bekam Kinder und sogar noch Enkel. Ein Scherbenhaufen – .
dunkelste Kapitel, bis heute. 

Auch für Hiob hatte, zunächst noch unmerklich, das dunkelste Kapitel seines Lebens begonnen. Auf eine Hiobsbotschaft folgte die nächste. Eben noch pflügten seine Kinder mit seinen Knechten friedlich den Acker. Aber schon eine nächste Ernte wird es nicht mehr geben. Alles wurde zerstört und geplündert. Feuer fiel vom Himmel. Seine Kinder wurden unter den Trümmern eines Hauses begraben. Am Ende sitzt Hiob dann auf einem Aschehaufen und kratzt seine wunde Haut mit den Scherben seines Glücks.

Dann kommen seine Freunde zu ihm. Am Anfang tun sie genau das Richtige: mit Hiob schweigen und seinen Schmerz aushalten. Leider nicht sehr lange. In mehreren Anläufen versuchen sie danach, Hiob sein Leid wegzureden. Sie sagen: „Es wird schon einen Grund dafür geben, dass es dir jetzt so geht – Gott ist ja schließlich nicht ungerecht!“ Oder: „Dein Leid ist die Strafe für etwas, was du falsch gemacht hast.“ Oder: „Hiob, sieh es als eine Prüfung für deinen Glauben!“ 

Hiob antwortete und sprach: Auch heute lehnt sich meine Klage auf;
seine Hand drückt schwer, dass ich seufzen muss.
Ach dass ich wüsste, wie ich ihn finden und zu seiner Stätte kommen könnte!
So würde ich ihm das Recht darlegen und meinen Mund mit Beweisen füllen
und erfahren die Reden, die er mir antworten,
und vernehmen, was er mir sagen würde. (Hiob 23, 1-5)

Hiob ist bereit, mit Gott in Streit zu gehen. Er protestiert. „Hier bin ich“, sagt er, „ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen. Ich war am Anfang dieser Geschichte fromm und rechtschaffen und gottesfürchtig (Hiob 1,1). Und ich bin es immer noch. Was mir geschehen ist, ist nicht gerecht. In meinem Leiden ist kein Sinn. Ich sehe nicht, was das alles mit Gott zu tun hat. Ich suche Gott überall.“ In diesem dunkelsten Kapitel von Hiobs Geschichte ist Gott nicht zu finden. In keiner Richtung.

Aber gehe ich nach Osten, so ist er nicht da;
gehe ich nach Westen, so spüre ich ihn nicht.
Wirkt er im Norden, so schaue ich ihn nicht;
verbirgt er sich im Süden, so sehe ich ihn nicht. (Hiob 23, 8f.)

Auch der Zweite Weltkrieg hat sich in alle Himmelsrichtungen ausgebreitet. Begonnen hat er am 1. September 1939 im Osten mit dem Überfall auf Polen. Im Frühsommer 1940 startete der Westfeldzug.  Im Herbst und Winter 1939 wurden die skandinavischen Länder besetzt und im Sommer 1940 reichte die Front schon bis nach Nordafrika. Ein Jahr nach Kriegsbeginn wütete der Krieg in Europa, im Osten, im Westen, im Norden und im Süden. Er hat sich ausgebreitet auf der Landkarte wie die Geschwüre auf Hiobs Haut.

Und wie jeder Krieg offenbarte auch der Zweite Weltkrieg sehr schnell seine Sinnlosigkeit, in fast jedem Haus. Es kamen Briefe mit schwarzem Rand. Sie lagen mittags neben den Lebensmittelkarten auf dem Küchentisch. Die Mütter mussten sie öffnen und es den Kindern sagen. Mit den Worten Tapferkeit und Heldentod konnten sie sie nicht trösten. Denn gestorben war kein tapferer Soldat, sondern der Vater. Doch da am Küchentisch wussten sie gar nicht, was er wirklich gesehen und getan hatte, ihr liebevoller Papa, im Osten, im Westen, im Norden und im Süden.

Auch Hiob kann dem dunklen Kapitel seines Lebens keinen Sinn abgewinnen. Er muss sich beugen vor dem, was mit ihm geschieht. Es bleibt sinnlos. Selbst auf Gott kann er sich nicht verlassen:

Und er macht's, wie er will.
Ja, er wird vollenden, was mir bestimmt ist, und hat noch mehr derart im Sinn.
Darum erschrecke ich vor seinem Angesicht,
und wenn ich darüber nachdenke, so fürchte ich mich vor ihm.
Gott ist's, der mein Herz mutlos gemacht, und der Allmächtige, der mich erschreckt hat;
denn nicht der Finsternis wegen muss ich schweigen,
und nicht, weil Dunkel mein Angesicht deckt (Hiob 23, 13b-17)

Hiobs Geschichte geht weiter. An dem Ende, das er noch nicht kennt, wird es ihm wieder gut gehen. Ein neues Kapitel in seinem Leben beginnt. Doch das dunkle Kapitel voller Schmerz und Sinnlosigkeit bleibt ein Teil seines Lebens. Und auch sein Erschrecken vor Gott, der in all dem unsichtbar bleibt.

Heute, 80 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, wissen wir, wie es endete mit diesem Krieg. Dass nach sechs schwarzen Jahren der Frieden kam, im Mai, und der Neuanfang, der Wiederaufbau. Und dass die dunklen Kapitel in vielen Lebensgeschichten nicht die einzigen blieben. Was viele nicht ahnten: dass die dunklen Jahre über Jahrzehnte Schatten werfen würden. 
Der Schmerz, der über Millionen Menschen und Familien kam, hat Wunden hinterlassen. Die Fragen, die auftauchten: „Wieso konntet ihr einstimmen in den Kriegstaumel?“ „Habt ihr nicht gewusst, was da an den Fronten und in den Konzentrationslagern geschah?“ „Warum habt ihr nicht lauter ‚Nein!‘ geschrien?““ Wie konntet ihr, obwohl ihr Christen wart, mitdrehen an der Spirale der Gewalt?“ – diese Fragen suchten nach Antworten. Auch die Kirchen waren erschrocken. Drei Jahre nach Kriegsende bekannten Verantwortliche von 147 Kirchen ihren „sündigen Nationalstolz“ und machten sich zum Vorsatz: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“. Der Ökumenische Rat der Kirchen, der sich damals gründete, tritt bis heute weltweit für Frieden und Gerechtigkeit ein. 

Aber die Fragen, der der Zweite Weltkrieg hinterließ, bohren weiter in uns und fordern Antworten, mindestens Erklärungsversuche. Es geht ja nicht darum, das Geschehen von damals nur immer wieder anzuschauen wie im Museum oder wie bei einem Dokumentarfilm im History-Channel. Es geht auch nicht darum, die eigene Schuld immer wieder neu zu bekennen. Wir als nachfolgende Generation stehen nicht in der Schuld. Wohl aber in der Verantwortung. Es geht nicht nur darum, zurückzublicken, sondern auch nach vorne. Es geht darum, Lehren aus dem Dunkel des Krieges zu ziehen. Gerade wir Christen haben die Verantwortlichen immer wieder daran zu erinnern: Die Wahrheit macht frei – Fake News führen ins Unglück. Konflikte dürfen nicht mit Waffengewalt ausgetragen werden. Wir haben Menschen, die vor Kriegen fliehen, eine sichere Bleibe zu geben. Jene, die wieder von einem vermeintlich reinen Deutschland träumen, sind auf dem Irrweg.

Wir Christen kennen das Dunkel. Es gehört sogar zu unserem Grundbekenntnis: Christus ist hinabgestiegen in das Reich des Todes. Auch die Gottlosigkeit gehört zu unserem Bekenntnis. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Der Schrei Jesu am Kreuz schallte über den Schlachtfeldern der Weltkriege. Heute ist er zu hören auf den Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer. Bei den Menschen in den syrischen Städten, die Bomben und Giftgasangriffe ertragen müssen. Bei den Geflüchteten, die an der Grenze zu den USA wie in Käfigen gehalten werden. Dunkel. Viel Dunkel. Das geht einfach nicht vorbei.

Wir in Deutschland leben – zumindest in großen Teilen – nicht mehr im Dunkel. Wir leben im Frieden, seit 74 Jahren. Wir leben im Licht. Und haben die Kraft, denen beizustehen, die im Dunkel sind. Wir können helfen. Denn wir haben erfahren: Gott will im Dunkel wohnen, und hat es doch erhellt. 

Amen

(Liedvorschlag:  EG 16 Die Nacht ist vorgedrungen, Strophen 1, 4-5)