Predigt zu Markus 12, 28-34
auf dem Sommerfest der EAzB auf Schwanenwerder
Liebe Schwestern und Brüder,
an diesem Sonntagnachmittag im August haben wir einiges vor: Wie in jedem Jahr haben wir uns auf Schwanenwerder zum Sommerfest der Evangelischen Akademie zu Berlin versammelt. Wir freuen uns auf Begegnungen und Gespräche, auf Essen, Trinken und Musik an diesem wunderbaren Ort. In diesem Jahr feiern wir allerdings nicht nur das Sommerfest, sondern auch Geburtstag: Zwanzig Jahre Evangelische Akademie zu Berlin in ihrer heutigen Form. Im Jahr 9 nach der deutschen Vereinigung wurden auch die beiden seit dem Mauerbau getrennten evangelischen Akademien zusammengeführt: die Evangelische Akademie Berlin-Brandenburg und die Evangelische Akademie Berlin (West). Seit dem 12. September 1999 gestaltet die eine, von den Gesellschaftern EKBO und EKD getragene Hauptstadtakademie das gesellschaftliche Gespräch in der Bundeshauptstadt mit. So ist es auf der Website unter der Überschrift „Auftrag“ nachzulesen und so erlebe ich es als Hausgenosse in der Charlottenstraße Tag für Tag. Manchmal bin auch ich eingeladen, an diesem Gespräch teilzunehmen. Nun sind wir aber hier nicht nur als Sommer- und Geburtstagsfestgesellschaft versammelt, sondern als Teil der Kirche Jesu Christi. Die begeht an diesem 10. Sonntag nach Trinitatis den Israelsonntag und erinnert an die bleibende Verbundenheit von Christen und Juden. Diesem Thema werden wir gerade in diesem Jahr, wo die Zahl antisemitischer Straftaten so deutlich angestiegen ist und nicht wenige Jüdinnen und Juden sich in Deutschland nicht mehr sicher fühlen, nicht ausweichen. Auch und gerade am Geburtstag der Akademie nicht.
Der für den Israelsonntag vorgeschlagene Predigttext enthält erwartungsgemäß manchen Hinweis auf das Verhältnis von Christen und Juden, von Kirche und Israel. Zugleich lässt er uns sehen, was die Aufgabe einer Evangelischen Akademie ist – auch wenn es eine solche zur Zeit Jesu noch nicht gab – oder doch? Hören Sie selbst! Ich lese Verse aus dem 12. Kapitel des Evangeliums nach Markus.
(Lesung des Predigttextes)
„Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.“ Diese Schlussbemerkung ist einigermaßen befremdlich, und ich kann sie auch nach der Lektüre von Kommentaren zur Stelle nicht wirklich deuten. Tatsache ist aber, dass sie sich vorher die Köpfe heiß geredet haben, Jesus und seine jüdischen Zeitgenossen. Zunächst ist es um das Verhältnis von Kirche und Staat, Glauben und Politik gegangen: „Ist’s recht, dass man dem Kaiser Steuern zahlt oder nicht?“ Ausdrücklich heißt es, dass die Fragesteller Jesus damit auf’s Glatteis führen wollen. Jesus merkt das, lässt sich eine Münze bringen, fragt, wessen Bild und Aufschrift darauf zu sehen ist. Aha, des Kaisers. „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.“ Das ist, liebe Akademiegemeinde, ist Diskurskultur vom Feinsten. Nicht Belehrung von oben herab, sondern ein Impuls zum Weiterdenken und Weiterdiskutieren. Denn jetzt geht es ja erst richtig los: Jetzt muss überlegt und diskutiert werden, was denn des Kaisers und was Gottes ist…
Danach stellen sie Jesus eine geistliche Frage, allerdings wieder eine Fangfrage: Sadduzäer, die nicht an die Auferstehung der Toten glauben, tragen Jesus einen konstruierten Fall vor: Sieben Brüder heiraten nacheinander dieselbe Frau. Jedes Mal stirbt der Ehemann nach nur kurzer Ehe. Schließlich stirbt auch die Frau. Und listig fragen sie Jesus: „Nun in der Auferstehung, wenn sie auferstehen: Wessen Frau wird sie sein?“ Wieder ist Jesus nicht um eine Antwort verlegen, und wieder ist es keine einfache Antwort, aber eine, die zum Weiterdenken anregt: „Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden.“
„Und es trat zu ihm einer der Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen?“ Geht es auch ein bisschen kleiner? möchte man fragen. Nein, geht es nicht. Der Schriftgelehrte hat angesichts des vorangegangenen Diskurses Mut gefasst. Mut, die für ihn alles entscheidende Frage zu stellen. Von der Antwort erwartet er nicht weniger als Orientierung für sein ganzes Leben - als Mensch und als Schriftgelehrter: Wenn er weiß, welches der 613 Gebote der Torah das höchste ist, dann kann er sein ganzes Leben danach ausrichten. Vor allem wird ihm das eine Hilfe sein, wenn – was in der Bibel öfter vorkommt – Gebote miteinander konkurrieren oder einander sogar widersprechen. Keine Fangfrage also diesmal, sondern tiefes, existenzielles Bedürfnis.
Da sehen wir, liebe Schwestern und Brüder, in welcher Tradition die Evangelischen Akademien stehen – auch die, deren zwanzigsten Geburtstag wir heute feiern. Wie Jesus selbst halten sie den Diskursraum offen – für gesellschaftspolitische, religiöse und existenzielle Themen. Fangfragen halten sie aus und parieren sie, für echte Fragen werden gemeinsam tragfähige Antworten gesucht – idealer Weise solche, die zum Weiterfragen ermutigen. Gut, dass es sie gibt, die Evangelische Akademie zu Berlin! Gott segne alle, die unter ihrem Dach das gesellschaftliche Gespräch in der Bundeshauptstadt mitgestalten!
Und was bekommt nun der Schriftgelehrte für eine Antwort auf seine Lebensfrage? „Das höchste Gebot ist das: ‚Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft‘. Das andere ist dies: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘. Es ist kein anderes Gebot größer als diese.“
Lassen Sie uns, liebe Schwestern und Brüder, zunächst einmal festhalten: Das „Doppelgebot der Liebe“ ist keine christliche Erfindung! Jesus hat viele originelle Predigten gehalten und überraschende Gleichnisse ersonnen, die existenzielle Frage des Schriftgelehrten aber – und es ist sicher nicht nur seine Frage – beantwortet er allein mit Worten aus der Heiligen Schrift der Juden. Die wurde erst viel später auch zu unserer Heiligen Schrift. Das Gebot der Gottesliebe steht im fünften, das Gebot der Nächstenliebe im dritten Buch Mose. Wie konnten Christen nur auf den Gedanken kommen, erst das Christentum predige die Liebe, während Jüdinnen und Juden in der Furcht vor einem rachsüchtigen und grausamen Gott ängstlich und peinlich genau dessen Gesetze befolgten? Was für ein Irrtum, dem sich andere Irrtümer zugesellten, zum Beispiel der, dass der Bund Gottes mit Israel hinfällig geworden und die Kirche an die Stelle Israels getreten sei. Wie viele Tränen und wie viel Blut sind geflossen, bis wir Christen unsere Irrtümer als solche erkannten und schließlich auch die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vor wenigen Monaten offiziell jeglicher Judenmission eine Absage erteilte. Dahinter gibt es kein Zurück! Die Antwort Jesu auf die Frage des Schriftgelehrten zeigt: Wer Jüdinnen und Juden angreift, der zieht auch der Kirche den Boden unter den Füßen weg. Auch aus diesem Grunde können und werden wir Christen den wieder erstarkenden Antisemitismus nicht hinnehmen.
Jesus hat also die Liebe nicht erfunden. So viel ist sicher. Und doch setzt er in Sachen Liebe zwei entscheidende Akzente. Den ersten Akzent setzt er, indem er die beiden biblischen Gebote, die sich in der Heiligen Schrift in unterschiedlichen Kontexten finden, zusammenfasst. Genau genommen macht er aus zwei Geboten eines: „Es ist kein anderes Gebot größer als diese.“ Damit ist klar: Gottesliebe und Nächstenliebe sind zwei Seiten einer Medaille. Wer fordert, die Kirche solle ihre Gottesdienste feiern und gefälligst die Finger von der Politik lassen, kann sich folglich nicht auf Jesus berufen. Nächstenliebe hat es nämlich immer auch mit den Lebensverhältnissen des Nächsten zu tun, und die sind Gegenstand von Politik. Umgekehrt will Jesus, dass alles Tun der Nächstenliebe in der Liebe zu Gott wurzelt und dort seine Kraftquelle findet. Das beugt der Erschöpfung und der Resignation vor.
Der zweite Akzent in Sachen Liebe ist für uns Christen mehr als nur ein Akzent. Er besteht darin, dass Jesus beides, Gottes- und Nächstenliebe, nicht nur gepredigt, sondern konsequent gelebt hat – so konsequent, dass wir Christen in ihm Gott selbst erkennen, von dessen Liebe uns nichts trennen kann. Der Apostel Paulus bringt es in seinem Brief an die Römer auf den Punkt: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Dieser Glaube unterscheidet uns von dem unserer jüdischen Geschwister. Er erhebt uns Christen aber nicht über die Juden. Und wenn wir ihn im christlich-jüdischen Gespräch thematisieren, dann nicht, um Jüdinnen und Juden auf unsere Seite zu ziehen, sondern um das Verständnis füreinander zu vertiefen.
Der Schriftgelehrte ist beeindruckt: „Ja, Meister, du hast recht geredet!“ Und wiederholt sogar die Antwort, die Jesus ihm auf seine Lebensfrage gegeben hat. Auch Jesus ist offenbar sehr angetan von seinem Gesprächspartner: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“
Schwanenwerder ist trotz seiner Schönheit nicht das Reich Gottes. Aber die harmonische Stimmung am Ende des Dialogs über das höchste Gebot, die wollen wir mit in diesen Tag und in das Sommer- und Geburtstagsfest der Evangelischen Akademie zu Berlin nehmen.