Predigt zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 2020

Renke Brahms, Theologischer Direktor der Evangelischen Wittenbergstiftung, Friedensbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Kerzen in langer Reihe aufgestellt

„...und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“ Lukas 1,79
 

Liebe Gemeinde!

Diese Worte stehen im ersten Kapitel des Lukasevangeliums. In der Vorgeschichte der Weihnachtsgeschichte also, die uns dann ja von dem Frieden auf Erden erzählt, wie ihn die Engel besungen haben. Sie kommen aus dem Mund des Tempelpriesters Zacharias, der verstummt, als der Engel ihm die Geburt eines Sohnes im hohen Alter ankündigt. Und dieser Sohn ist Johannes, der Täufer Jesu, der Vorläufer des Mannes aus Nazareth, der uns bis heute die wunderbaren Worte zuruft: „Selig sind, die Frieden stiften!“

Zacharias verstummt – vor Staunen vielleicht, vielleicht, weil das Geheimnis dieser Geburt nur in stillem Schweigen zu bewundern und zu bestaunen ist – wie eigentlich jedes neue Leben.

Uns verschlägt es an diesem Tag, dem 8. Mai, die Sprache eher angesichts der Erinnerung an das Grauen, das mit dem 1. September 1939 und dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen begonnen hat. Am Ende waren es über 50 Millionen Tote und unzählige an Leib

und Seele Verletzte. Heute erinnern wir uns an das Ende des 2. Weltkrieges vor 75 Jahren.

Vielleicht wird solchem Schrecken nur Schweigen gerecht. Eine Minute des Schweigens – oder auch länger. Was haben Menschen einander angetan, was haben Menschen leiden müssen, wie haben Politik und Gesellschaft – und auch Kirche versagt!

Das alles lässt sich ja kaum in Worte fassen. Und deshalb sind das Verstummen und Schweigen vielleicht der einzige Weg: Gerade nicht zu versuchen, Schrecken und Verstrickung in Schuld in Worte zu fassen, sondern ihnen auf andere Weise Ausdruck zu verleihen.

Und ist es nicht, andersherum betrachtet, geradezu atemberaubend, was sich nach dem Ende des 2. Weltkrieges entwickelt hat? Wie Verständigung und Versöhnung möglich wurden und Europa eine unglaublich lange Phase des Friedens erlebte? Auch hier wäre eine Schweigeminute als Ausdruck der Dankbarkeit für das Geschenk des Friedens angebracht und angemessen.

In diesen Tagen, Wochen und vielleicht Monaten erleben wir mit der Corona-Pandemie die vielleicht größte Herausforderung nach dem 2. Weltkrieg. Es ist eine Herausforderung der Demokratie insgesamt wie jeder und jedes Einzelnen. Das soziale Leben wird auf ein Minimum heruntergefahren, Konflikte in Familien, die auf engem Raum leben, werden wachsen, Angst und Unsicherheit belasten viele Menschen. Aber: es ist kein Krieg! Ich bin froh, dass die Politik in Deutschland diesen Vergleich nicht zieht. Wir haben es mit unserem Verhalten selbst in der Hand, die Zahl der Infizierten und der Toten zu verlangsamen und die Krise zu überwinden. Ja, wir mögen verstummen und angemessen schweigen angesichts der vielen Opfer des Virus weltweit. Dass aber gesungen wird, die Kerzen in den Fenstern stehen und für die, die helfen, geklatscht wird, durchbricht das Verstummen und Schweigen.

Denn beim Verstummen und Schweigen dürfen wir nicht stehen bleiben! Wer dauerhaft schweigt, verdrängt und verlernt das Reden. Nur das Reden – und sei es noch so mühsam – hilft weiter. Das wissen alle, die damals und danach und bis heute in Kriegen Schreckliches erlebt haben. Das mussten die Kriegsgeneration wie die Nachkriegsgeneration lernen. Denn ohne das Reden über die Geschichte und die vielen einzelnen Geschichten, aus denen sie besteht, wird nichts verarbeitet, können wir nichts lernen aus der Geschichte. Deshalb müssen wir sprechen über die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass ein totalitäres System solche Macht bekam, warum Menschen nicht widerstanden haben, warum so viele verfolgt und vertrieben wurden, warum so viele sterben mussten.

Deshalb ist es so wichtig, an diesem Tag zu erinnern an die Opfer des Krieges: an über sechs Millionen Juden, an die Sinti und Roma, an die politisch anders Denkenden, an Soldaten und Zivilisten. Sie nicht zu vergessen und ihrer zu gedenken, ist auch an diesem Tag eine wichtige Aufgabe.

Zu erinnern ist auch an das weitgehende Versagen der Kirche. Im Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 heißt es: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Schärfer und klarer noch hat es das Darmstädter Wort von 1947 formuliert:

„Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, den Traum einer besonderen deutschen Sendung zu träumen, als ob am deutschen Wesen die Welt genesen könne. Dadurch haben wir dem schrankenlosen Gebrauch der politischen Macht den Weg bereitet und unsere Nation auf den Thron Gottes gesetzt. - Es war verhängnisvoll, daß wir begannen, unseren Staat nach innen allein auf eine starke Regierung, nach außen allein auf militärische Machtentfaltung zu begründen. Damit haben wir unsere Berufung verleugnet, mit den uns Deutschen verliehenen Gaben mitzuarbeiten im Dienst an den gemeinsamen Aufgaben der Völker.“

An das Versagen der Kirche zu erinnern, heißt vor allem, zu jeder Zeit sensibel, wachsam und aufmerksam zu sein für die Gefährdung und die Förderung des Friedens.

„...und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“

Was Zacharias sich von dem erhofft, dessen Weg Johannes der Täufer vorbereiten soll, haben sich Menschen Gott sei Dank nach dem 2. Weltkrieg zu Herzen genommen.

Denn auch daran ist zu erinnern: an die Versöhnungs- und Friedensgeschichte Europas. Zu erinnern und dankbar im Gedächtnis zu halten ist die Aussöhnung mit den europäischen Nachbarn, mit Polen, Frankreich, England und anderen Staaten. Zu erinnern ist an die unzähligen Begegnungen von jungen Menschen aus allen Ländern der Welt, den Aufbau der zerstörten Länder – und dann eben auch an die friedliche Revolution und den Mauerfall, die Wiedervereinigung Deutschlands nach Jahren der Trennung infolge des 2. Weltkrieges. Das kann man gar nicht hoch genug schätzen. Und für Deutschland liegt darin auch eine Verpflichtung, für Frieden und Versöhnung, für gewaltfreie Lösungen von Konflikten einzutreten und zu arbeiten.

Und heute?

Wieder beten und hoffen wir mit den Worten des Zacharias: dass dieser Mann aus Nazareth, der Christus Gottes, unsere Füße auf den Weg des Friedens richte, dass wir aus seinem Geist des Friedens Kraft schöpfen, für den Frieden zu sorgen. Deshalb feiern wir Gottesdienst und beten. Das Gebet um den Frieden lässt uns aufmerksam und wachsam bleiben, es schenkt uns Kraft in Situationen, in denen wir erschrecken vor der Grausamkeit von Menschen und dem unendlichen Leid, das die Verfolgten, Vertriebenen, Gefolterten und Flüchtenden trifft. Das Gebet lässt uns nicht verzweifeln, auch wenn wir kaum einen Ausweg erkennen können. Und das Gebet ist Ausdruck unserer Solidarität mit den Leidtragenden der Konflikte und Kriege – zusammen natürlich mit der konkreten Hilfe.

Was aber ist zu sagen und zu tun angesichts der vielen Krisenherde dieser Erde – in der Ukraine, in Syrien, im Irak, in Israel und Palästina – und den vielen anderen Orten dieser Erde, die aus dem Gesichtsfeld entschwinden – an denen aber gelitten, getötet und gestorben wird?

„Nie wieder Krieg“ hieß es und: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!“ Und doch gibt es sie. Und einfach zu beurteilen ist keiner der Krisenherde. Und zu beantworten schon gar nicht. Leicht machen kann es sich niemand, einfache Parolen jedenfalls werden der Komplexität der jeweiligen Situationen nicht gerecht. Und keiner, der in diesen Tagen politisch Verantwortung trägt, macht es sich leicht.

Aber klar ist: Für keinen Konflikt dieser Erde gibt es eine Lösung mit Mitteln der Gewalt.

Lernen lässt sich aus der Geschichte doch wohl vor allem dies: In keinem Konflikt kann und darf sich die eine oder andere Seite auf Gott berufen. Das hat noch immer zu fürchterlichem Fanatismus und unfassbarer Grausamkeit geführt. Zu sagen ist doch wohl dies: Einen gerechten Krieg gibt es nicht – nur einen gerechten Frieden. Und wer den Frieden will, muss ihn vorbereiten. Deshalb gilt es zuallererst, Menschen Gerechtigkeit zu verschaffen, ihre Lebensverhältnisse zu sichern, Konflikten vorzubeugen, Konflikte mit gewaltfreien Mitteln zu begegnen – und diesem Denken und Handeln den absoluten Vorrang einzuräumen. Damit wir nicht immer zu spät kommen.

Ich werde mich nicht daran hindern lassen, mir vorzustellen, dass es gelingen kann, Konflikten anders zu begegnen als mit Gegengewalt. Ich will mich nicht durch eine vermeintliche Realpolitik behindern lassen, mir hier bei uns eine Debatte zu erhoffen, die von der besonderen Verantwortung Deutschlands für Krisenprävention und für die Stärkung der zivilen und gewaltfreien Konfliktlösung dominiert wird – statt vom ständigen Reden über mehr militärische Verantwortung.

Und ich will mit vielen anderen in diesem Land nie wieder dem Hass und der Ausgrenzung von Menschen Raum geben. Heilfroh können wir sein, dass so viele auf die Straße gehen gegen Fremdenfeindlichkeit und für ein gemeinsames Leben mit den vielfältigen Menschen in unserem Land. Nie wieder dürfen rechtsradikales Gedankengut und Antisemitismus Politik dominieren und unsere Gesellschaft bestimmen. Auch die Toten von Halle, Kassel und Hanau mahnen uns, dem Gift des Hasses, der Gewalt der Worte und der daraus geborenen Taten entgegenzutreten. „Nie wieder!“ gilt heute auch für diese Bedrohung und für den Krieg der Worte.

Ich will mich mitten in der Corona-Krise nicht daran hindern lassen, mir vorzustellen, dass diese Situation Menschen, Gesellschaften und Völker näher zusammenbringt, dass Gräben überwunden werden und Frieden wachsen kann. Denn eins ist uns doch durch diese weltumspannende Bedrohung schon jetzt klargeworden: Wir leben in einer Welt, die für uns alle Platz hat und in der wir nur gemeinsam überleben können.

Das Darmstädter Wort sagte es angesichts des Krieges damals so: „Wir haben es bezeugt und bezeugen es heute aufs neue: ‚Durch Jesus Christus widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.‘ Darum bitten wir inständig: Lasst die Verzweiflung nicht über euch Herr werden, denn Christus ist der Herr. Gebt aller glaubenslosen Gleichgültigkeit den Abschied, lasst euch nicht verführen durch Träume von einer besseren Vergangenheit oder durch Spekulationen um einen kommenden Krieg, sondern werdet euch in dieser Freiheit und in großer Nüchternheit der Verantwortung bewusst, die alle und jeder einzelne von uns für den Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens und ich füge hinzu: einer friedlichen Weltordnung – tragen, das dem Recht, der Wohlfahrt und dem inneren Frieden und der Versöhnung der Völker dient.

 

Dazu gebe uns Gott seine Weisheit und seinen Frieden, der höher ist als alle unsere Vernunft und der unsere Herzen und Sinne bewahre in Jesus Christus.

 

Amen.

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