Predigt zum Reformationstag 2021 in Wittenberg
Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm, am Reformationstag 2021 in der Wittenberger Schlosskirche
Die Predigt zum Reformationstag 2021 in Wittenberg zum Nachhören
Ratsvorsitzender der EKD, Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Es gilt das gesprochene Wort
Gal 5, 1-6: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“
Liebe Gemeinde,
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ - welch starke Worte an diesem Reformationstag des Jahres 2021! Wir brauchen solche Worte als Land nach 1½ Jahren Pandemie! Nach so vielen Monaten der Verzagtheit und der Verunsicherung durch ein Ereignis, das uns wie kaum etwas anderes in der jüngeren Vergangenheit unsere Grenzen aufgezeigt hat. Die Grenzen des Machbaren, des Kontrollierbaren aufgezeigt hat.
Wir brauchen solche Worte als Kirche angesichts der Mutlosigkeit, die sich immer
wieder in unserer Kirche breitzumachen droht, die auf zurückgehende Kirchenmitgliedschaftszahlen starrt und manchmal schon fast in eine Verliebtheit in den Niedergang zu münden droht. Warum leben wir bei einer Zahl von über 40 Millionen Kirchenmitgliedern, die nicht - wie allzu oft früher - aus Konvention oder gar sozialem Zwang der Kirche angehören, sondern aus Freiheit, trotzdem immer wieder in dem Gefühl, dass wir als Kirche kurz vor dem Aussterben sind! Lasst uns dankbar und erhobenen Hauptes nicht nur aus der stärksten Botschaft der Welt leben, sondern sie auch voll des Geistes und deswegen begeistert weitergeben! Denn „zur Freiheit hat uns Christus befreit. So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“
Wo könnte diese Botschaft uns mehr in den Ohren klingen als an dem Ort, an dem vor 500 Jahren Martin Luther und Philipp Melanchthon, die hier vor unseren Augen begraben liegen, zu einem neuen Aufbruch der Kirche geblasen haben! Wie Mehltau hat die geistliche Kraftlosigkeit auf ihrer Zeit gelegen. Geschäfte hat man gemacht mit der Angst der Menschen vor der Hölle. Die hohen geistlichen Ämter waren nicht Orte, von denen Kraft und Vollmacht ausging, sondern eine Ware, die zur Sicherung von Macht erworben werden konnte. Nicht mehr Christus stand im Zentrum, sondern eine klerikale Ordnung, die den Weg zu Christus nicht öffnete, sondern verbaute.
Und dann war es genau dieser Ruf, der den großen Unterschied gemacht hat. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Immer wieder fasziniert es mich, dass es schon damals die Freiheit war, die den Ton für den neuen Aufbruch der Kirche gesetzt hat. Die Freiheit, die doch auch heute, 500 Jahre später, ein Megathema unserer Zeit ist. Die vielleicht das Megathema der modernen Welt ist.
Man muss nur einmal in die jüngste Geschichte schauen. Der letzte Satz der Rede, die Martin Luther King jr. in Washington vor Millionen von Menschen gehalten hat, die berühmte „I have a dream“-Rede, endet mit den Worten: „Free at last, free at last - „endlich frei“. Die Biographie über den südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela hat den Titel: „Long walk to freedom“ - „Langer Weg zur Freiheit“. Wieder das Thema „Freiheit“ als ein Thema, das eine eindrucksvolle Biographie beschreibt, das aber auch das Ringen eines ganzen Volkes, des südafrikanischen Volkes, um Freiheit mit anklingen lässt.
Und schließlich brauchen wir nur auf unsere eigene Geschichte schauen: Ich selber bin 10 km von der sogenannten Zonengrenze in Oberfranken aufgewachsen, in Coburg. Jeden Nachmittag am Sonntag sind wir spazieren gegangen und haben über den Stacheldraht auf die andere Seite geblickt. Und ich habe mir nie träumen lassen, dass ich eines Tages noch selbst erleben würde, dass diese Stacheldrahtanlagen nicht mehr da sind. Dass ich je an einem Reformationstag in der Schlosskirche zu Wittenberg, am Grab Martin Luthers predigen könnte!
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Es ist eine innere und eine äußere Freiheit; von der Paulus da spricht. Und für Martin Luther war sie die große Befreiung des Lebens. Er ist an dem, was er als das Gesetz Gottes erlebt hat, verzweifelt. Er hat sich gegeißelt, er hat gefastet; er hat alles versucht, was er konnte, um Gottes Gebote zu erfüllen. Und er hat gemerkt, dass er nur daran scheitern kann. Hat weiter in der Bibel gelesen. Und ist dann auf diesen Satz gestoßen, der erst einmal so nüchtern und strohern klingt: „Der Mensch ist allein gerechtfertigt aus dem Glauben und nicht aus den Werken.“
Und hat gemerkt: Ich muss gar nicht einem Anspruch hinterherjagen, sondern Gott liebt mich allein aus Gnade! Ich darf mich einfach in die Arme Gottes werfen. Alles Andere kommt daraus von allein. Alle Werke gründen darauf, dass ich mich in Gott geborgen weiß. Und Luther hat es in der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ in dem wunderbaren Bild von der Braut und dem Bräutigam zum Ausdruck gebracht. Es ist ein „fröhlicher Wechsel“. Der Christ als Braut streift seine Sünden mit dem Brautring auf den Bräutigam Christus. Christus ersäuft die Sünden und gibt als Tausch dem Gläubigen die Gerechtigkeit zurück. Und wer das erfährt, weiß: jetzt bin ich frei, jetzt darf ich neu anfangen, jetzt darf ich leben!
Und aus dieser Freiheit gehe ich auch mit meiner Mitwelt anders um. Ich muss keine Angst mehr haben. Ich kann mich mutig den Autoritäten entgegenstellen, wenn sie Unrecht tun. Denn: Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan.
Und weil ich innerlich nicht mehr aus der Angst lebe, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit in meinem Herzen spüre, deswegen kann ich aus Freiheit dem Nächsten dienen, meinen Egoismus überwinden und mich für das Gemeinwesen engagieren. Denn: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan!
Genau diesen Geist brauchen wir heute auch! Es ist ein Geist der Liebe. „Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“ – sagt Paulus. Und Martin Luther hat wieder und wieder deutlich gemacht, dass es genau dieser Geist der Liebe ist, der die Freiheit eines Christenmenschen ausmacht. Mit Worten aus der gleichnamigen Schrift, die man nur immer und immer wieder in Erinnerung rufen kann, hat er glasklar deutlich gemacht, dass der Glaube und die Liebe nie voneinander zu trennen sind: „Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen.“
Damals konnten diese Sätze die Kirchenspaltung nicht verhindern. Heute sind sie zentral für ihre Überwindung. Es war die Liebe, es war die Beziehung, es war die Freundschaft, die uns in den letzten Jahren geholfen hat, als katholische und evangelische Kirche wieder so viel näher zusammenzukommen. Und sie wird uns helfen, diesen Weg über allen Hürden hinweg weiterzugehen.
Keiner glaubt uns unsere Glaubensbotschaft, wenn wir die Liebe, die mit ihr untrennbar verbunden ist, nicht selbst ausstrahlen. Keiner hört unsere Appelle an die Welt, die Spaltungen zu überwinden, wenn wir als christliche Kirchen nicht unsere eigenen Spaltungen überwinden. Keiner bringt all unseren kirchlichen Regelungen den notwendigen Respekt entgegen, wenn sie nichts mehr von dem Geist der Liebe ausstrahlen, auf dessen Autorität sie sich doch eigentlich berufen.
Würden wir als Konfessionen an unseren jeweils vermeintlichen theologischen Richtigkeiten festhalten und hätten der Liebe nicht, so wären wir ein tönendes Erz. Würden wir alle unsere kirchenrechtlichen Regeln befolgen und hätten der Liebe nicht, so wären wir eine klingende Schelle.
Lasst uns eine einladende Kirche sein! Lasst uns unsere konfessionellen Traditionen achten und ehren und hochhalten, aber lasst sie uns nicht länger zur Basis von Abgrenzung und Trennung werden! „Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist!“
Für unser ökumenisches Zusammenleben auf der Spitzenebene in Bayern, das nun bald wieder meine Hauptenergie haben wird, habe ich es immer als geheimen Wink des Heiligen Geistes verstanden, dass Kardinal Marx und ich uns – völlig unabhängig voneinander – das gleiche Bischofsmotto ausgesucht haben. Bei mir ist es der letzte Satz meiner Habilitationsschrift gewesen und auch ein Wort, das mir bei meiner Ordination zugesprochen worden ist. Es ist ein Satz über die Freiheit: „Der Herr ist der Geist. Und wo der Geist des Herrn ist da ist Freiheit.“ (2. Kor 3,17).
Dieser Geist macht für jeden und jede unter uns den großen Unterschied, denn: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“.
Und natürlich hat die damit verbundene persönliche Befreiung auch Konsequenzen für die Welt, für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Für Martin Luther war das selbstverständlich. Er hat aus diesem Geist der Freiheit heraus im sich herausbildenden Frühkapitalismus des 16. Jahrhunderts die immer größer werdende Ungleichheit zwischen Arm und Reich mit scharfen Worten gebrandmarkt und dem Missbrauch wirtschaftlicher Macht das Liebesgebot und die Goldene Regel entgegengestellt: „Alles was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“ Er ist im Sinne der biblischen Option für die Armen leidenschaftlich eingetreten für die Opfer wirtschaftlicher Ungerechtigkeit.
Wenn wir dem Zeugnis des Paulus und seiner Aufnahme durch die Reformation treu bleiben wollen, können wir deswegen gar nicht anders als die skandalöse Missachtung der Lebensinteressen von Menschen überall auf der Welt, die wir heute erleben, in aller Klarheit anzusprechen. Wenn die lebensrettenden Impfstoffe in den reichen Ländern gehortet werden. Wenn der von uns verursachte Klimawandel weltweit und nun auch hier so viele Menschenleben kostet und unendliches Leid anrichtet. Wenn im Jahr 2020 1,65 Billionen Euro in die Rüstung investiert werden, während das Geld für die Bekämpfung des Hungers fehlt.
Aus Treue zu Schrift und Bekenntnis können wir gar nicht anders als das alles immer wieder anzusprechen und uns nie und nimmer mit den Zuständen zufriedengeben.
Aber wir wollen das nicht aus Verbissenheit tun, aus Angst, aus Feindschaft, sondern aus Freiheit und der darin gegründeten Liebe. Und: aus einer tiefen Hoffnung für diese Welt. Auch lähmende apokalyptische Weltprognosen können zum Joch werden. Frei sein kann nur, wer aus der Hoffnung lebt.
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit“. Diese Worte des Paulus sind eine leidenschaftliche Einladung zu dem, was den Kern einer christlichen Existenz ausmacht, nämlich: aus Glaube, Liebe und Hoffnung zu leben.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesu.
AMEN