Handeln für den Frieden
Bischof Ralf Meister zur Jahreslosung 2019 „Suche Frieden und jage ihm nach!“ (Psalm 34,15)
Im vergangenen Jahr war ich mit meinen Kindern, sie sind 17 und 18 Jahre alt, in der zentralen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Nach zwei Stunden schweigendem Gang durch die Ausstellung fragte meine Tochter: „Und Oma hat da schon gelebt?“ Wir spürten alle sofort, dass die Erinnerung an dieses Grauen des 2. Weltkriegs keine historische Erinnerung ist, sondern einen unmittelbaren Ort in allen deutschen Familien hat. Haben muss. Seit 74 Jahren ist Frieden in unserem Land. Für unsere Kinder ist das eine Welt, die sie – Gott sei Dank – nicht anders kennen.
Aber ihre Großeltern, unsere Eltern, haben den Krieg hautnah erlebt. Sie wissen noch zu gut, dass menschlicher Friede immer temporär und brüchig ist. Wir sind in der Zwischenzeit gefährlich abgestumpft bei den vielen Nachrichten, in denen ständig von neuen Krisenherden berichtet wird oder von alten Konfliktfeldern, die auch nach Jahren nicht beigelegt sind. Und wissen doch, dass es auch auf einer kleineren Skala Bereiche voller Spannungen gibt: In der Familie, am Arbeitsplatz, in der Gemeinde. Wo Menschen zusammenkommen, entstehen Konfliktfelder.
Das Jahr 2019 steht unter dem Bibelwort „Suche Frieden und jage ihm nach!“ (Psalm 34,15). Ich habe mich über die Wahl dieses Psalmverses gefreut. Es ist eine Aufforderung an alle Christinnen und Christen und ein Mahnwort an ganz Europa. Suchet den Frieden! Wer vor fast 3000 Jahren diese Worte geschrieben hat, der wusste: Frieden ist nicht etwas, das sich einfach einstellt, wenn der Krieg vorbei ist. Frieden braucht Energie, Mut, Überzeugung. Frieden braucht Leidenschaft. Frieden ist kein Traumbild, sondern eine konkrete Handlungsoption. Es gibt viele Verben für das Kämpfen in unserer Sprache, aber kein Verb für den Frieden.
Frieden machen, Frieden gestalten, das kann heißen: Einander besser kennen lernen, im kleinen Freundeskreis und in der Begegnung der Nationen. Frieden kann heißen, einander zu verstehen, auch wenn Unterschiede bestehen bleiben. Frieden heißt, aushalten, dass wir verschieden sind und uns dennoch in Liebe begegnen. Frieden heißt Vergeben, ohne eine Gegenleistung. Als Kind hießen Verben Tätigkeitsworte. Wir brauchen Wörter der Tätigkeit, des Handelns für den Frieden. Action for peace!
Friede meint nach biblischem Verständnis weit mehr als nur die Abwesenheit von Streit und Krieg. Friede, Schalom meint eine tiefe Sehnsucht nach einer heilen, unversehrten Welt. Schalom ist die unverbrüchliche Hoffnung auf ein gerechtes und alle Feindschaft überwindendes Miteinander der ganzen Schöpfung: „Doch ist ja Gottes Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Land Ehre wohne; dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen; dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue“. (Psalm 85,10-12)
Ich wünsche Ihnen ein friedvolles Jahr!
Ralf Meister
Die biblischen Leitworte der Jahreslosungen werden von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB) bereits mehrere Jahre im Voraus ausgewählt. Die Praxis der Losungen stammt von der Herrnhuter Brüdergemeine in der sächsischen Oberlausitz. 1728 wählte der Begründer dieser geistlichen Gemeinschaft, Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1760), zum ersten Mal einen Bibelspruch für die Mitglieder der Herrnhuter aus. Nach dem Vorbild Zinzendorfs zieht bis heute ein Mitglied dieser Glaubensgemeinschaft – ähnlich einer Lotterie – ein Bibelwort für jeden Tag aus einer silbernen Schale. Die so ermittelten Bibelworte werden als „Tageslosungen“ in einem Sammelband veröffentlicht.
Die Jahreslosung folgt zwar der Praxis der Herrnhuter, geht aber zurück auf den Kirchenkampf im Dritten Reich. Initiator war der württembergische Pfarrer und Liederdichter Otto Riethmüller (1889-1939), der Mitglied der Bekennenden Kirche war. Er wollte den NS-Schlagworten Bibelverse entgegenstellen. Deshalb begründete er 1930 die Tradition der Jahreslosungen. Die erste Jahreslosung 1930 war „Ich schäme mich des Evangeliums von Jesus Christus nicht“ (Römer 1,16).