Rede beim Johannisempfang der Evangelischen Kirche in Deutschland

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

Es gilt das gesprochene Wort.

„…und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar“ (Psalm 23).
Identität und Heimat – eine christliche Ortsbestimmung

I.

Meine Damen und Herren,

die vielen Kirchen in den Dörfern und Städten überall im Land stehen für Heimat und Identität! Dass das ein Bischof so empfindet, wird niemanden überraschen. Aber kann man diesen Satz angesichts von Traditionsabbruch und Prognosen über Mitgliederverlust als Bischof heute noch so generell sagen, ohne unter Vollmundigkeitsverdacht zu geraten?

Manchmal wird uns ja erst bewusst, was wir haben, wenn wir es verlieren. Das könnte der Hintergrund dafür sein, dass die Zeitungskommentare nach der Veröffentlichung der Freiburger Kirchenentwicklungsstudie in ihrer überwiegenden Zahl nicht von Häme über den darin prognostizierte Mitgliederrückgang geprägt waren, sondern von erstaunlich wohlwollender Besorgnis: wie wird Deutschland aussehen, wenn die Kirchen mit all ihrer Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt zunehmend geschwächt sein werden?

Wie sehr ein Kirchengebäude Identität und Heimat vermittelt, ist in erstaunlicher Weise deutlich geworden, als eine der bekanntesten Kirchen Europas verloren zu gehen drohte. Als die berühmte Kathedrale Notre Dame in Paris in der Nacht vom 15. auf den 16. April d.J. brannte, war das Entsetzen groß. Es kann nicht sein! Es darf nicht sein! – dachten viele angesichts der hochlodernden Flammen – und zwar unabhängig davon, ob sie gläubig waren oder nicht. Und die Erleichterung war groß, als der Brand gestoppt werden konnte, kurz bevor die Kirche komplett eingestürzt wäre. So schnell wie möglich sollten die Brandschäden behoben werden. Schon am folgenden 17. April waren Spendenzusagen von fast 1 Milliarde Euro öffentlich verkündet, Bereits am Abend des 15. April waren allein in Deutschland knapp 1 Million Wikipedia- und 5 Millionen Google-Abfragen über Notre Dame zu verzeichnen.

Notre Dame – das ist an jenem Tag deutlich geworden - steht weit über Paris hinaus für die Seele des ganzen Landes, vielleicht sogar ein Stück weit für Europa, für die Werte, die die Menschen verbinden, weit jenseits religiöser Grenzen. Vordergründig ging es um einen Riesenverlust an Kunstschätzen und um die massive Beschädigung eines historischen Gebäudes, hintergründig ging es um mehr. In einer Zeit des Wandels und der Unsicherheit gibt ein solch uraltes Gebäude Sicherheit und Stabilität.

Es gibt diese Schätze der Vertrautheit, die unsere Identität gerade in unsicheren Zeiten stärken und stützen. Es sind Schätze, die in Zeiten von Umbrüchen und Traditionsabbrüchen umso wichtiger werden. Aber wie gehen wir mit ihnen um?

Nehmen wir sie als Symbole für das Bollwerk, das wir unter dem Stichwort „christliches Abendland“ gegen andere Religionen und Kulturen und damit ja immer auch gegen die Menschen, für die sie existentiell wichtig sind, zu errichten versuchen? Oder sehen wir sie als sinnlich sichtbare Erinnerung an eine religiöse Tradition, deren Aktualität genau im Gegenteil besteht: nämlich der Menschenwürde die tiefste denkbare Begründung zu geben, indem sie von einem Gott erzählt, der in seiner menschlichen Gestalt als Folteropfer am Kreuz stirbt und uns deswegen an die Seite derer stellt, deren Würde heute gefährdet und verletzt ist?

Für einen Bischof ist die Antwort klar. Wenn wir ernst nehmen, wofür die Kirchen stehen, dann können wir gar nicht anders: Die kulturelle Bedeutung von Kirche liegt genau dort, wo die Humanität und die Menschenfreundlichkeit Gottes zum kritischen Korrektiv und orientierenden Stachel für unsere Gegenwart heute werden. Die Form von Identität und Heimat, die sich aus der christlich-jüdischen Tradition speist, taugt deswegen nicht als Mittel der Ausgrenzung, sondern sie ist Ausstrahlungsquelle einer Liebe, die Grenzen nicht aufrichtet, sondern überwindet. „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“. Gerade wir Deutschen haben die Kraft erfahren, die ein solcher Zuspruch entfalten kann. Und ich sage deutlich: Im Angesicht eines solchen Gottes da kann der in diesen Monaten wieder ertönende Ruf nach Identität durch Abgrenzung nur als Ausdruck einer tiefen inneren Heimatlosigkeit erscheinen. Unsere Heimat ist zu kostbar, als dass wir die Rede über sie denen überlassen, die im Herzen eine tiefe Heimatlosigkeit tragen.

II.

Natürlich – christliche Identität hat mit den Geschichten und Texten der Bibel zu tun – und man soll sich nicht wundern, wie viele Menschen – ob Mitglied der Kirchen oder nicht - diesen Psalm 23 oder das Vater Unser noch auswendig und inwendig können, wenn es darauf ankommt: „Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar“  – diese Worte strahlen eine Gewissheit von Beheimatung im Glauben aus, die sich nicht von radikalen Veränderungsnotwendigkeiten und schon gar nicht von nationalistischen oder rassistischen Tönen irritieren oder verunsichern lässt. Wer diese Heimat kennt und auf sie hofft, der kann mit jeder Identitätsangabe, mit jeder Beheimatungsansage souverän und frei umgehen, weil er sie alle als relativ und vorläufig erkennt.

 „…und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar“ (Psalm 23) – gibt es diese identitätsstiftende Beheimatung auch jenseits des christlichen Glaubens? Beschreibt dieser Glaube etwas, was jedem Menschen dienlich sein kann? Vaclav Havel, der große Europäer, formulierte 1997: „Europa sollte viel deutlicher zur Heimat unserer gemeinsamen Werte werden, so wie sie aus unseren besten geistigen Traditionen und den erworbenen geschichtlichen Erfahrungen erwachsen. Wir alle wissen, um welche Werte es geht: Respekt für die Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Bürgergesellschaft, Marktwirtschaft, Sinn für soziale Gerechtigkeit, Achtung vor der Natur und vor unserer Umwelt.“

Heimat und Identität entstehen aus Geschichten, die wir wichtig nehmen, aus Erzählungen der Familie, der Herkunft, der Nachbarn, aus der Geschichte, die wir zu der Unseren machen, aus Erzählungen derer, die uns fremd waren und so vertraut werden. Identität entsteht nicht allein aus Begriffen, sondern aus einer Vielzahl von Erzählungen und Begebenheiten, die uns berühren, die Resonanz bei uns finden. Identität gibt es daher nur im Plural. Jeder Mensch erzählt sich selbst anders und entfaltet daraus seine Zukunft, seine Hoffnung, seinen Glauben.

Identität speist sich aus vielen Quellen und ist immer im Wandel. Selbst eine so deutsche Eigenschaft wie das Kaffeetrinken haben wir von den Türken übernommen, die urdeutsche Marschmusik geht auf die türkische Janitscharenmusik zurück. Mathematik, Chemie und Kosmetik kamen von dnr Mauren nach Europa. Der Deutschen liebste „Sättigungsbeilage“, die Kartoffel, wurde von Kolumbus aus dem fernen Südamerika eingeführt. Wenn wir jetzt alle unsere Lieblingsgerichte nennen würden, wäre – vielleicht abgesehen von Grönland mit seinem Lebertran - vermutlich die halbe Welt kulturell vertreten.

Es ist richtig, Heimat und Identitäten zu schätzen. Wir Menschen brauchen das. Aber schief wird es, wenn wir einen bestimmten Zustand von Heimat und Identität verabsolutieren, als wäre nicht auch er aus vielen Quellen entstanden und als müsse nicht auch er mit der Zeit sich verändern.

Mit einem engen und homogenen Heimatbegriff, dessen Horizont nur bis zum Gartenzaun des Nachbarn reicht, hat das das offene Heimatverständnis, das wir heute brauchen, nichts zu tun.

III.

Ich habe ein solches offenes Heimatverständnis erlebt, als wir als Bayerisches Bündnis für Toleranz, ein Bündnis von 75 Organisationen aus der Mitte der bayerischen Gesellschaft, die Aktion „Maibaum für Toleranz veranstaltet haben.“ Bei den traditionellen Maibaumaufrichtungen überall in Bayern wurde eine Erklärung gegen Rechtsextremismus und für Toleranz und Weltoffenheit verlesen. Die Menschen, die an ihr teilnahmen, viele von ihnen Geflüchtete, kamen aus allen Teilen der Welt und freuten sich an dieser bayerischen Tradition.

Dass Heimat etwas Offenes und nicht Abgeschlossenes ist, hat aber auch politische Implikationen. Das aktuelle Thema der Seenotrettung im Mittelmeer ist dafür ein dringliches Bewährungsfeld. Das tatenlose Zuschauen oder Verdrängen des Ertrinkens von 3000 Menschen im Mittelmeer in den vergangenen achtzehn Monaten, ist eine Herausforderung für unsere Identität. Wer sind wir, dass wir das geschehen lassen? Ja, Europa droht nicht nur ein Stück Seele zu verlieren, wenn eine Kathedrale brennt, sondern es verliert erst recht seine Seele, wenn das Doppelgebot der Liebe, auf das diese Kathedrale mit ihren hohen Türmen hinzuweisen versucht, im Meer versinkt. Verbrecherische Schlepperbanden darf man nicht dadurch bekämpfen, dass man unterlassene Hilfe beim Ertrinken von Menschen als Abschreckungsmittel einsetzt oder gerettete Flüchtlinge in menschenverachtende Lager ins Bürgerkriegsland Libyen zurückschickt.

Die Liebe und das daraus erwachsende Mitgefühl ist das eine wichtige Thema, das eine öffentliche Kirche in die Kultur der Zivilgesellschaft und, in angemessener Weise, auch in die Politik einbringen kann und muss.

Ein anderes Thema speist sich aus einem Kernaspekt ihrer Botschaft: der befreienden Kraft der Vergebung. Dass Fehlverhalten ohne Beschönigung als „Sünde“ benannt, dann aber auch vergeben werden kann, ist eine Vorstellung, die in ihrer Relevanz weit über den individuellen Bereich hinausgeht. In der Perspektive der Aussicht auf Vergebung ist Selbstkritik nicht Selbstdemontage, sondern Selbstkonsolidierung. Ich wünsche mir eine politische Kultur, die das Einräumen von Fehlern nicht als Zeichen von Schwäche, sondern als ein Zeichen von Stärke sieht. Dass Menschen dazulernen, gehört schon im persönlichen Leben zu den wichtigsten Zutaten eines gelingenden Beziehungslebens. Für die Politik ist es angesichts der Komplexität der Herausforderungen spielentscheidend.

Ob eine solche politische Kultur wachsen kann, hängt im hohen Maße auch von Medien und Öffentlichkeit ab. Nachdenklichkeit, Selbstdistanz und Besinnung auf die Grundorientierungen, die uns tragen, müssen in den Kommentarspalten wieder als das benannt werden, was sie sind: politische Grundtugenden.

Dass die Verrohung der Sprache gestoppt wird und die gegenwärtige Kultur der Erregung, Anprangerung und persönlichen Herabsetzung sich nicht verfestigt, ist eine Aufgabe für uns alle. Wenn eine Nachrichtmorgens um acht über den Ticker kommt, dann wird spätestens um zehn eine Antwort darauf erwartet. Und wenn in dieser Antwort nur ein missverständliches Wort enthalten ist, bricht um 12 Uhr in den sozialen Netzwerken ein Sturm der Häme und der Gehässigkeit los.

Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ist ein Ereignis, das uns aufrütteln muss. Niemand kann jetzt mehr den Rechtsextremismus verharmlosen. Und niemand kann mehr den Zusammenhang zwischen verbaler Gewalt in den sozialen Netzwerken und verbrecherischer physischer Gewalt leugnen.

Das ist auch deswegen eine Gefahr für die Demokratie, weil das Risiko besteht, dass die Besten sich die Übernahme eines politischen Amtes irgendwann nicht mehr antun. Wir brauchen aber die Besten in der Politik. Ich möchte heute all denen einmal ausdrücklich danken, die in diesen Zeiten dazu bereit sind, politische Verantwortung zu übernehmen und sich damit den heute nicht einfachen Bedingungen einer öffentlichen Existenz auszusetzen. Danke dafür!

Es ist Zeit für Deutschland, sich zu besinnen. Und christliche Grundorientierungen, die unserem Land gutgetan haben, neu zu entdecken. Gegen die Verrohung der öffentlichen Diskurskultur, gegen den Teufelskreislauf, in dem aus Worten brutale Mordtaten erwachsen, stellen wir Christen die Predigt von Gottes barmherziger Zugewandtheit zum Menschen und das darauf abgeleitete klare öffentliche Wort der Kirche.

IV.

Es ist wesentliches Charakteristikum für ein Verständnis von Heimat und Identität, dass wir unsere eigenen Grundorientierungen wirklich ernst nehmen. Denn echte Identität gründet sich nicht aus der Abgrenzung gegenüber den Anderen oder gar aus ihrer Herabsetzung. Echte Identität lebt aus ihrem positiven Inhalt: „Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“

Das ist auch für uns als Kirche eine wichtige Einsicht. Ausstrahlungskraft gewinnt die Kirche nur dann zurück, wenn sie sich der Kraft öffnet, die aus ihren eigenen Quellen kommt, wenn sie ihre geistlichen Quellen neu entdeckt und genau aus dieser Grundlage heraus die öffentliche Relevanz ihrer Botschaft selbstbewusst zum Ausdruck bringt. Zerknirschte Beschäftigung mit sich selbst taugt jedenfalls nicht als Antwort der Kirche auf zurückgehende Mitgliederzahlen. Als öffentliche und engagierte Kirche in der Zivilgesellschaft sichtbar zu werden, ist heute dagegen Ausdruck der Fülle, aus der wir leben dürfen und die Psalm 23 so eindrucksvoll beschreibt: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser… Du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich.“

30 Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR beschäftigt auch uns als Kirche die Frage, worauf eine gemeinsame deutsch-deutsche Identität eigentlich gründet. Die Wahlprognosen für den Herbst sehen wir mit einiger Sorge, obwohl wir alle wissen: mehr als dreiviertel aller Bürger/innen wählen nicht die nationalistischen Parteien. Zugleich ist nicht zu bestreiten: Die vielen Wählerinnen und Wähler, die damit liebäugeln, sind auch in unseren Gemeinden beheimatet, sie sind keineswegs nur da draußen bei den anderen. Umso wichtiger ist es, ins Gespräch zu kommen und zu klären, welche Enttäuschungen, welche Belastungen, welche Geschichten der Identität sie zu erzählen haben. „Unerhört“, so lautet eine Kampagne der Diakonie in den Jahren 2018 - 2020, die zuhören will. Denn es liegt ja auf der Hand, dass es gerade im Osten Identitätsgeschichten gibt, die die Friedliche Revolution und insbesondere die Nachwendezeit als Niederlage, als Vergessens- und Verdrängungsgeschichte, als Überstülpungs- und Missbrauchsgeschichte erzählen. Und leider gilt: Hinter diesen Geschichten stehen oft reale Erfahrungen. Wir haben sie uns auch 30 Jahre nach der Revolution noch viel zu wenig erzählt.

Der Rat der EKD hat deswegen Begegnungen verabredet im Osten Deutschland - von Chemnitz über Bautzen, Cottbus und Anhalt bis Neustrelitz -, um diese enttäuschten Erzählungen vom Verlust der Heimat und der Identität kennenzulernen und zu verstehen.

Schon jetzt ist deutlich, wie sehr uns die Erfahrungen der Gemeinden im Osten in ganz Deutschland weiterhelfen können. Mich jedenfalls inspiriert es immer wieder, wie stark das Bewusstsein für die Bedeutung der Kirchen auch in Regionen mit Kirchenmitgliedschaftszahlen von 10 oder 15 Prozent lebt. „Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar“ – dieser Satz aus dem Psalm 23 gewinnt hier eine ganz neue Bedeutung. Ungezählte Menschen – viele von ihnen nicht formell Mitglieder der Kirche – engagieren sich für die Kirche im Dorf, für den Erhalt der Orgel, für die Sicherung der Friedhofsmauern usw. Sie spüren, dass ihr Dorf eine Seele braucht, will es seine Identität nicht verlieren. Und deswegen engagieren sie sich dafür, dass die Kirche erhalten bleibt. Die Kirchen werden auf eine neue Weise zur Seele eines Dorfes oder einer Stadt, ganz ähnlich wie bei der Kathedrale Notre Dame.

Meine Damen und Herren,

wir Christinnen und Christen wollen dazu helfen, dass wir in unserem Land 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution aus einer Identität leben dürfen, die auch von Verletzungen und Enttäuschungen zu sprechen wagt und die genau dadurch Vergebung und Neuanfang ermöglicht. Einer Identität, die dankbar auf das Gelungene schaut und den Segen spürt, der darin zum Ausdruck kommt. Die aber auch das Liegengebliebene, Unvollendete, Übersehene thematisiert und genau daraus die Kraft zur Veränderung gewinnt. Einer Identität, die die Menschenfreundlichkeit Gottes in der Welt sichtbar werden lässt, weil sie weiß: „Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar“ (Psalm 23).

Danke für die Aufmerksamkeit!