Rede beim Johannisempfang der Evangelischen Kirche in Deutschland am 23. Juni 2021 in Berlin
Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland
Meine Damen und Herren,
wie sehr hätten wir uns in diesem zweiten Jahr der Coronapandemie ein Wiedersehen hier auf dem Gendarmenmarkt mit Ihnen gewünscht. Von Angesicht zu Angesicht, ohne Maske und mit einer gelassenen Heiterkeit, die ein lauer Sommerabend mit sich bringt. Doch wir müssen uns noch gedulden, wir sind im Warten auf Wiederermöglichung dieser Art von Erfahrung hoffentlich auf der Zielgeraden angekommen, und nehmen nun diese Einschränkungen noch einmal hin – wohlwissend, dass dies eines der kleineren Opfer ist, gegenüber den vielen anderen Opfern und Einschränkungen, die die Menschen im vergangenen Pandemiejahr auf sich nehmen mussten. Ich freue mich trotzdem, dass wir heute auf diesem uns nun doch schon sehr vertrauten Wege miteinander verbunden sind. Und ich richte gleich zu Beginn meinen Dank an das Berliner Büro des Bevollmächtigten der EKD, Martin Dutzmann, und sein gesamtes Team hier an der Charlottenstraße, die diesen Abend für uns ermöglicht haben.
Vor wenigen Wochen hat die EKD eine Denkschrift mit dem Titel „Freiheit digital. Die Zehn Gebote in Zeiten des digitalen Wandels“ veröffentlicht. Mich begeistert, wie diese Schrift einen der ältesten und prägendsten Texte der jüdisch-christlichen Tradition, die Zehn Gebote, mit den ethischen Herausforderungen der digitalen Revolution verbindet, durch die wir gerade gehen. Sie zeigt, wie hochaktuell das in der Bibel überlieferte Orientierungswissen für heutige Herausforderungen ist.
Dass wir bei der verantwortlichen Gestaltung der Digitalisierung dringend Orientierung brauchen, das haben wir in den letzten Jahren sehr deutlich gemerkt. Was wir gegenwärtig erleben, ist das, was Emile Durkheim, der Nestor der französischen Soziologie, „Anomie“ genannt hat. Bei ihm ging es am Ende des 19. Jahrhunderts um die sozialen Folgen der Industrialisierung und der damit verbundenen sozialen Arbeitsteilung. Mit „Anomie“ meint Durkheim einen Zustand der sozialen Desintegration. Durch neue Technologien, die mit einer unvorstellbaren Schnelligkeit das Leben verändern, geht die alte Ordnung verloren. Der gesellschaftliche Zusammenhalt gerät in Gefahr. Lange gewachsene soziale Regeln finden keine Beachtung mehr. Neue Regeln, die mit der veränderten Situation Schritt zu halten vermögen, müssen sich erst herausbilden. Ethische Traditionen müssen auf die neuen Herausforderungen bezogen und neu ausgelegt werden. Der Zwischenzustand, in dem das noch nicht gelungen ist, ist die Anomie – also das Fehlen von ethischen und gesetzlichen Regeln, die Orientierung für den verantwortlichen Umgang mit den neuen Technologien geben.
In solch einer Situation sind wir auch heute. Die Digitalisierung hat mit einer unfassbaren Geschwindigkeit unser Leben, und insbesondere unsere Kommunikationskultur, verändert. Deswegen ist es so wichtig, dass wir eine öffentliche Diskussion um die Ethik der Digitalisierung führen, die uns helfen kann, diese Anomie zu überwinden. Dazu will unsere Denkschrift einen Beitrag leisten. Und wenn der eine oder die andere nach der Lektüre darüber staunen würde, wie hilfreich das alte Orientierungswissen der Bibel auch für heute ist, würde ich mich freuen.
Digitalisierung und Zehn Gebote – das ist die für mich sehr überzeugende These der Denkschrift - das hat beides, richtig aufeinander bezogen, viel mit Freiheit zu tun.
Denn die 10 Gebote, die der Überlieferung nach Mose auf dem Berg Sinai auf zwei Tafeln von Gott erhalten hat (5. Mose 5,22), kann man aus der hebräischen Originalsprache so übersetzen wie wir es gewohnt sind: „Du sollst nicht stehlen, ehebrechen, falsch Zeugnis reden …usw.“ Man kann aber auch genauso richtig übersetzen: „Du wirst nicht stehlen, ehebrechen, falsch Zeugnis reden …usw.“ Die Zehn Gebote sind also keineswegs nur Verbote, sondern sie sind zugleich Regeln zur Ermöglichung von Freiheit. Die ersten drei, nach reformierter Zählung vier Gebote (Gott ehren, seinen Namen nicht missbrauchen, keine Bilder von ihm haben und den Sabbat feiern) stellen die Gottesbeziehung ins Zentrum. Aus dieser Gottesbeziehung kommt die Freiheit zu einem innerlichen Ja zu den dann folgenden Geboten: „nicht stehlen, nicht ehebrechen, nicht falsch Zeugnis reden …“ usw. Der Mensch hat all dies Tun nicht mehr nötig, er ist befreit von Neid, Egoismus, Gier und Hass.
In dieser Spur der Freiheit und Ermöglichung liegt auch die aktuelle Auslegung der Zehn Gebote für den digitalen Raum in der Denkschrift. Es geht nicht nur und zuerst um Verbote, sondern um die Ermöglichung von Freiheit und um die Ermutigung zum verantwortlichen Umgang mit einem zutiefst dynamischen Raum.
Dazu gehört zunächst, wahrzunehmen, wo die Digitalisierung ganz konkrete Freiheitsgewinne gebracht hat. Was digitale Kommunikation in der Zeit der pandemiebedingten physischen Kontaktverbote an Beziehungen und an Gemeinschaft gerettet hat, lässt sich kaum überschätzen. Und es gilt trotz der wohl von uns allen geteilten Erkenntnis, dass digitale Gemeinschaft die physische Gemeinschaft nie ersetzen kann. Aber viele Enkelkinder konnten sich eben mit ihren Großeltern digital auf dem Tablet oder Smartphone sehen und sprechen. Dass ich mit meinem 1-jährigen Enkel am Tag meines 60. Geburtstages vor gut einem Jahr wenigstens auf dem Bildschirm scherzen konnte, hat für mich einen großen Unterschied gemacht. Und die Erzählungen unserer Mitarbeitenden in der Diakonie von dementen Menschen, die auf dem Tablet ihre Lieben erkannten und ihnen lächelnd zuzuwinken begannen, haben mich sehr berührt.
Die Umstellung der Arbeit auf Homeoffice bzw. mobiles Arbeiten und von Schule und Studium auf digitale Kanäle war bei aller Beschwernis ein Weg, ein Mindestmaß an Beschäftigung und Bildungsarbeit sicherzustellen. Wie unzulänglich wir diesen Weg indessen gegangen sind, zeigt sich darin, dass sich ungleiche Bildungschancen verstärkt haben – das nicht hinzunehmen, gehört jetzt zu den dringlichsten Aufgaben der Nachpandemiezeit.
Ich nenne ein Zweites: Als Kirchen haben wir an Ostern 2020, als keine Gottesdienste in den Kirchen mehr möglich waren, blitzschnell auf digitale Kanäle umstellen können und so jedenfalls digital gemeinsam Ostergottesdienste feiern können und dabei so viele Menschen erreicht wie nie zuvor in der jüngeren Vergangenheit. Und dass wir im November 2020 die erste vollkommen digitale Synode der EKD in ihrer über 75jährigen Geschichte erleben durften, souverän geleitet und gesteuert von unserer damaligen Präses Irmgard Schwaetzer, war ein Segen.
Neben solchen Freiheitsgewinnen sind in den letzten Jahren indessen immer deutlicher die Gefährdungen der Freiheit deutlich geworden, die mit der Digitalisierung eben auch verbunden sind. Ich kann in der Kürze der Zeit nur an zwei Beispielen andeuten, wie die Zehn Gebote zu Ankerpunkten der Humanität in diesen Gefährdungen werden können.
Das nach reformierter Zählung, die die Denkschrift verwendet, vierte Gebot, „Du sollst den Feiertag heiligen“, ist ein solcher Ankerpunkt. Der Sabbat, der Ruhetag, den der erste Schöpfungsbericht der Bibel als siebten und letzten Tag der Schöpfung vorstellt, an dem Gott selbst ruht, hat nicht nur religiöse Bedeutung. Er ist auch eine humane Errungenschaft. Nicht der Mensch ist die Krone der Schöpfung, sondern der Sabbat. Schabbat bedeutet aufhören, ausruhen. Wir brauchen den heilsamen Rhythmus von Arbeit und Ruhe. Wie aktuell das in Zeiten des Homeoffice und der für viele Menschen immer mehr zunehmenden Mail- und Zoomkorrespondenz ist, liegt auf der Hand. Zwar hilft die Flexibilität im digitalen Arbeiten, Familienleben und Freizeitverhalten besser in Einklang zu bringen. Der Preis aber ist die allzeitliche und allörtliche Erreichbarkeit. Diese permanente Erreichbarkeit und die Smartphones, die immer und überall mit dabei sind, machen auf Dauer krank. Es braucht klare Offline-Regelungen, die genügend Zeit für Ruhe geben. In Zeiten der Beschleunigung von Kommunikation, in der Fragen und Antworten sich fast zeitgleich ereignen und schnelle Reaktionen und Anpassungsfähigkeit erwartet werden, ist die alte Forderung nach einer heilsamen Unterbrechung, wie sie das vierte Gebote fordert, ein konkreter Weg zur Überwindung von Anomie in der Digitalisierung.
Auch das nach reformierter Zählung neunte Gebot, „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, ist ein solcher Ankerpunkt der Humanität.
Ursprünglich meint das Gebot den Schutz vor falschen Zeugen, die die Wahrheit manipulieren und dem Angeklagten zu Unrecht die Lebensgrundlage entziehen. Heute ist es eine durch bestimmte Mechanismen in den sozialen Netzwerken verursachte Dynamik, die unsere private und politische Kommunikation immer mehr vergiftet und den demokratischen Diskurs sabotiert. Es ist immer noch viel zu wenig im Bewusstsein, dass das mit der Digitalisierung verbundene systemische Gründe hat. Sie liegen in der kommerziellen Logik der Algorithmen: Je länger sich die User auf einer Internetseite aufhalten, desto mehr Geld kann mit Werbung verdient werden. Die Algorithmen spülen deswegen die Inhalte verstärkt auf die Bildschirme, die am meisten Werbeeinnahmen versprechen. Studien haben inzwischen gezeigt, dass dieser Mechanismus extreme Inhalte, Hassbotschaften oder schlicht Unsinn in besonderer Weise ins Zentrum rückt. Nicht die Logik von Argumenten, an dem sich – jedenfalls prinzipiell – der demokratische Diskurs orientiert, steuert die Kommunikation, sondern kommerziell gesteuerte Algorithmen, denen solche Maßstäbe völlig egal sind, und zwar aus systemischen Gründen. Der digitale Tribalismus ist die direkte Konsequenz des Geschäftsmodells der Netz-Ökonomie.
Gegen diese fatale Verbindung gehört eine Selbstverpflichtung aller in der Öffentlichkeit agierenden demokratischen Organisationen, Institutionen und Parteien zur Wahrhaftigkeit und Redlichkeit – gerade jetzt, da der Wahlkampf unmittelbar bevorsteht. Bei allen parteipolitischen Auseinandersetzungen immer wieder die Sachebene ins Zentrum zu rücken und die eigenen Positionierungen offen zu halten für einen ergebnisoffenen Diskurs, sollte das Anliegen aller politisch Agierenden sein.
Und es gehört eine digitale Infrastruktur dazu, die dafür sorgt, dass Algorithmen sich am Maßstab der Menschenwürde orientieren anstatt ihn aktiv zu sabotieren. Auch die Modellierung von Algorithmen muss öffentlicher Verantwortung zugänglich gemacht werden, so dass wir zu einem Zustand kommen, in dem die Algorithmen der großen Plattformen qualitativ hochwertigen und journalistisch sauber recherchierten Inhalt zugänglich machen und hoch priorisieren. Ob das mit den bestehenden Plattformen gelingen kann oder ob ein großer politischer Wurf für demokratisch-pluralistische Alternativen notwendig ist, wird sich zeigen müssen.
Die beiden Beispiele haben gezeigt: Die Zehn Gebote rufen auf zur Bewährung der Freiheit, sie sind eine Schule der Verantwortung. Sie sind 2500 Jahre alt. Sie sind nicht direkt auf heutige Fragestellungen anwendbar. Aber sie erweisen sich als hochrelevant für solche heutigen Fragestellungen. Sie schärfen ein, dass eine maßgebliche Dimension menschlicher Freiheit die Fähigkeit zur Verantwortung ist. Der markanteste Unterschied zwischen einem Menschen und einem humanoiden Roboter, so menschenähnlich auch immer er mit der weiteren Entwicklung künstlicher Intelligenz werden mag, ist genau diese Fähigkeit zur Verantwortung. Ein Roboter kann keine Verantwortung übernehmen. Ein Mensch schon. Das ist heute so. Und das wird auch in hundert Jahren so sein.
Wo wir diese Verantwortung wahrnehmen, da werden wir die Digitalisierung weder als Heilsweg feiern noch angstvoll auf sie starren und sie verdammen. Sondern wir werden von unserer Freiheit Gebrauch machen und sie verantwortlich gestalten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Zehn Gebote in Zeiten des digitalen Wandels – eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland