Religiöse Bildung bleibt unverzichtbar – Religionsunterricht in der Corona-Krise

Die Corona-Krise stellt alle Schulen vor die enorme Aufgabe, trotz steigender Infektionszahlen und angesichts unvorhersehbarer Entwicklungen einen angemessenen Schul- und Unterrichtsbetrieb zu gewährleisten. Dabei stellen die klassenübergreifenden Lerngruppen eine besondere Herausforderung dar. Das betrifft auch den Bereich der religiösen und ethischen Bildung und Erziehung. Hier ist daran zu erinnern, dass der Religionsunterricht gerade in solchen Krisenzeiten wichtig und unverzichtbar ist.

Religiöse Bildung fördert Selbstreflexion, existentielle Auseinandersetzung und die Suche nach dem, was trägt. Sie stärkt Resilienz, Wertschätzung für Andere und Sensibilität für einen globalen Horizont.

Religiöse Bildung ermöglicht Selbstreflexion und Auseinandersetzung mit dem, was existenziell bedrängt. Sie dient nicht nur der Vermittlung von Wissen und ist mehr als Instruktion und lineares Lernen durch Lehren. Als existenzbezogene Bildung stellt sie Fragen nach dem Leben selbst, nach Lebenssinn, nach Verantwortung und nach sozialen ebenso wie religiösen Lebensformen. Solche Fragen zu bearbeiten, ist eine Kernaufgabe von Bildung.

In Zeiten gesellschaftlicher Krisen wird dies noch bedeutsamer: Sie müssen reflexiv und emotional bearbeitet werden, um trotz Angst und Unsicherheit auch Vertrauen, Zuversicht und Hoffnung zu eröffnen. Religiöse Bildung fördert Resilienz – gerade auch zur Bewältigung von Krisen. Sie ermöglicht die Suche nach dem, was trägt, und sie hilft, Ambivalenzen auszuhalten. Sie fördert die seelische Gesundheit und erschließt Quellen der Zuversicht.

Religiöse Bildung lenkt den Blick jedoch auch über das Individuum hinaus: Sie sensibilisiert für die Opfer von Krisen hier und im Globalen Süden. Sie fragt danach, wie die ökumenische Solidarität von Menschen über Grenzen der Konfession, der Religion, der Weltanschauung, der Sprache, der Region und der Generationen hinweg gestärkt werden kann. Sie zielt auf die Übernahme von Verantwortung für den „Erdkreis und die darin wohnen“ (Ps 24,1).

Nicht zuletzt sucht sie vor der Flucht in Irrationalismus und fundamentalistische Selbstabschottung zu schützen. Sie bringt Glauben und Denken, Beten und Verstehen, Gewissheit und Toleranz zusammen. Religiöse Bildung ist Aufgabe und Ausdruck einer aufgeklärten Religion, die den Menschen und ihrem Zusammenleben in Freiheit und Verantwortung nützlich ist.

Diese religiöse Bildung ist das zentrale Ziel des Religionsunterrichts. Darum darf er gerade in der Krise nicht ausfallen.

Religiöse Bildung ist ein Grundrecht – auch in der Krise.

Die immer wieder geforderte Konzentration auf die Kernfächer, die für die Berufsausbildung bzw. das Studium von besonderer Wichtigkeit seien, führt dazu, dass in Schulen der Fokus auf die Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch ebenso wie die Naturwissenschaften gelegt wird, und der konfessionelle Religionsunterricht demgegenüber oft nachrangig behandelt wird. In der Corona-Krise war das insbesondere zu Anfang häufig zu beobachten. Dennoch darf das eine nicht gegen das andere ausgespielt werden. Religiöse Bildung ist eine unverzichtbare Dimension humaner Bildung. Aus gutem Grund garantiert Artikel 7 Absatz 3 GG das Recht auf religiöse Bildung, dem an den Schulen Rechnung zu tragen ist.

Religiöse Bildung umfasst mehr als den Religionsunterricht. In der Krise gewinnt Schulseelsorge eine besondere Bedeutung.

Krisen hinterlassen Spuren. Die bildungsbiografischen ebenso wie die sozialen und emotionalen Auswirkungen der gegenwärtigen Krisen auf die einzelnen Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind noch in keiner Weise absehbar. Kinder und Jugendliche vermissen vielfach die frühere Normalität und nicht wenige haben erhebliche Schwierigkeiten, sich unter den bestehenden Corona-Bedingungen und den daraus resultierenden Unsicherheiten in der veränderten und derzeit instabilen Schulwirklichkeit zurechtzufinden.

Über den Religionsunterricht hinaus können darum insbesondere Angebote der Schulseelsorge dazu beitragen, Schülerinnen und Schüler in persönlichen und schulischen Notlagen zu begleiten. Darum sollten – mit entsprechenden Hygienekonzepten – Einzelgespräche ebenso wie Andachten, Meditationen oder Gottesdienste möglich bleiben und stattfinden.

Religiöse Bildung in Zeiten von Krisen aufrechtzuerhalten, erfordert die Erprobung unkonventioneller Lernarrangements.

Im Zeichen der Corona-Pandemie musste sich das Bildungssystem umstellen: Binnen kurzer Zeit galt es, digitales Lehren und Lernen zu ermöglichen, ungewohnte organisatorische Wege zu beschreiten sowie Themen und Methoden an dem auszurichten, was nottut und realisiert werden kann.

In derartigen Krisen brauchen Religionsunterricht und Religion im Schulleben ein besonderes Maß an Offenheit und Beweglichkeit:

  • thematische Flexibilität, um die Fragen aufzugreifen, die Kinder und Jugendliche nun bedrängen: Was heißt Freundschaft, wenn Möglichkeiten der Gemeinschaft beschränkt sind? Wie umgehen mit der eigenen Verantwortung im Zeitalter der kollektiven Lebensgefahr? Wer bin ich in der digitalen Welt? 
  • organisatorische Elastizität, um Religionsunterricht unter Wahrung der positiven und negativen Religionsfreiheit so zu erteilen, wie es möglich ist, sei es durch zeitweise Neuzusammensetzung von Lerngruppen, sei es in Blockveranstaltungen, sei es im Klassenverband, sei es online im Verbund mit der Partnerschule in einem anderen Land. Dazu bedarf es des Austauschs untereinander, der Entwicklung und Distribution neuer Modelle sowie einer intensiven Zusammenarbeit der Fachgruppen unter Lehrkräften für evangelische und katholische Religion, islamische Religion und Ethikunterricht (vgl. „Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule“, EKD-Denkschrift 2014, S. 95-102). 
  • digitale Aufgeschlossenheit, um auch für den Religionsunterricht die Chancen zu nutzen, die digitale Technik bereithält: der Chat erlaubt vertraulichen Austausch, die „geteilten Notizen“ ermöglichen gemeinsame Textproduktion, Computerspiele mit religiösen Inhalten transzendieren den unterrichtlichen Rahmen, Breakout-Räume erlauben Diskussion und dezentrale, subjektorientierte Meinungsbildung. Vieles davon wird bereits genutzt.

Digitales Lehren und Lernen ist eine Chance – auch im Bereich religiöser Bil-dung. Dabei geht religiöse Bildung nicht in digitalen Formaten auf.

Die evangelische Kirche unterstützt Wege digitalen Lehrens und Lernens und ermutigt Lehrerinnen und Lehrer, diese zu nutzen. Es geht dabei um den sinnvollen Gebrauch der Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen. „Prüfet alles, das Gute aber behaltet!“ (1. Thess 5,21) – dieses Paulus-Wort lässt sich im Blick auf digitale Medien und Lernprozesse so adaptieren, dass sie unter dem Primat des Pädagogischen, unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher und medienethischer Kriterien und im Wissen um ihre Grenzen genutzt werden dürfen, können und sollen. Religionspädagogisch reflektiertes Handeln ist kritisch, aber auch mutig und innovationsbereit.

Mit „rpi-virtuell“ unterhält die evangelische Kirche im Comenius-Institut in Münster bereits seit Jahren ein Tool für das digitale Lehren und Lernen für den Religionsunterricht; landeskirchliche religionspädagogische Institute stellen Material bereit, virtuelle Räume, digitale Fortbildungen u. a. m. Viele Religionslehrkräfte sind hier kreativ, haben in der Krise selbst Modelle und Lernmaterial für einen digitalen Unterricht entwickelt, adaptieren Materialien, Methoden und Anregungen anderer Fachkulturen, experimentieren und motivieren. Das tut gut – dem Fach, den Schülerinnen und Schülern wie auch den Lehrenden.

Allerdings gehen Schule und Unterricht nicht in digitalen Formaten und Instruktionen auf, sondern sie leben von der Interaktion aller Beteiligten vor Ort und sind der Lebensraum Heranwachsender. Deshalb muss Bildung so viel wie möglich mit persönlicher Begegnung in leiblicher Präsenz stattfinden.

Religiöse Bildung bleibt unverzichtbar – gerade auch in dieser Zeit der Krise.

Es ist dafür zu danken, dass Lehrerinnen und Lehrer mit großem Engagement und trotz persönlicher Gesundheitsrisiken dazu beitragen, dass Schule und Unterricht weiterhin stattfinden. Ein besonderer Dank gilt allen Verantwortlichen in Schule und Schulaufsicht, die sich von den allgemeinen Rahmenbedingungen der Bundesländer bis hin zur Stundenplangestaltung der einzelnen Schule bereits darum bemühen, dass der Religionsunterricht auch unter Corona-Bedingungen erteilt wird.

Wo das nicht geschieht, sind deutliche Anstrengungen erforderlich, religiöse Bildung – Religionsunterricht wie Schulseelsorge – auch in dieser schwierigen Situation wertzuschätzen, aufrecht zu erhalten und in thematischer Flexibilität, organisatorischer Elastizität und digitaler Aufgeschlossenheit weiterzuentwickeln.

 


 

Mitglieder der Arbeitsgruppe:

  • Oberlandeskirchenrätin Dr. Kerstin Gäfgen-Track, Hannover
  • Direktor Stefan Hermann, Stuttgart
  • Oberlandeskirchenrätin Prof. Dr. Gudrun Neebe, Kassel
  • Oberkirchenrat Matthias Otte, Hannover
  • Prof. Dr. Annette Scheunpflug, Bamberg
  • Prof. Dr. Bernd Schröder, Göttingen


Herausgegeben von der
Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
Herrenhäuser Straße 12 | 30419 Hannover
www.ekd.de

November 2020

Cover 'Religiöse Bildung bleibt unverzichtbar – Religionsunterricht in der Corona-Krise'

Die Corona-Krise stellt alle Schulen vor die enorme Aufgabe, trotz steigender Infektionszahlen und angesichts unvorhersehbarer Entwicklungen einen angemessenen Schul- und Unterrichtsbetrieb zu gewährleisten. Dabei stellen die klassenübergreifenden Lerngruppen eine besondere Herausforderung dar. Das betrifft auch den Bereich der religiösen und ethischen Bildung und Erziehung. Hier ist daran zu erinnern, dass der Religionsunterricht gerade in solchen Krisenzeiten wichtig und unverzichtbar ist.

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