Prof. Dr. Lucian Hölscher, Bochum

4. Tagung der 12. Synode der EKD, 12. - 15. November 2017 in Bonn

Impulsvortrag zum Schwerpunktthema

Es gilt das gesprochene Wort 

Impuls

zum Schwerpunktthema – Zukunft auf gutem Grund

„Orientierung für eine Kirche im Säkularen“

Prof. Dr. Lucian Hölscher

Meine Damen und Herren, Ihrer Einladung, "Orientierungen für eine Kirche im Säkularen" vorzutragen, will ich versuchen, in Form von neun Thesen nachzukommen:

1. Die protestantische Kirche in Deutschland führt seit mehr als einem Jahrhundert einen Kampf gegen den Säkularismus, den sie nicht gewinnen kann und auch nicht sollte. Nicht kann, weil statistische Indikatoren wie Kirchenmitgliedschaft, Gottesdienst- und Abendmahlsbesuch, an die sie lange Zeit ihren Erfolg gebunden hat, fast seit Beginn der statistischen Aufzeichnungen vor 150 Jahren einen kontinuierlichen Niedergang aufweisen. Von ihm werden sich die Kirche aller Voraussicht nach auch nicht mehr erholen. Sie sollten es aber auch gar nicht, weil diese Parameter offenbar nur eine sehr begrenzte Aussagekraft besitzen, die Stellung der Kirche innerhalb der Gesellschaft nicht richtig einschätzen und selbst unter den Kirchenmitgliedern nur noch das religiöse Verhalten einer kleinen Minderheit registrieren.

 2. Mit dem Konzept des Säkularismus zieht die Kirche eine falsche Grenze zwischen Innen und Außen. Das Konzept entwirft einen manichäischen Gegensatz zwischen einer gottlosen und einer gottesfürchtigen Welt, der so nicht besteht (was nicht heißt, dass es heute nicht viele gäbe, die sich in ihrem Handeln und Denken nicht mehr auf Gott beziehen). Aber darüber nimmt es die tatsächlichen religiösen Bedürfnisse und Verhaltensweisen der Menschen nicht richtig wahr. Tatsächlich haben sich die kirchlichen Gemeinden spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Verlust ihres volkskirchlichen Anspruchs, als Milieukirche eingerichtet, sie wenden sich mehr nach innen an die kirchliche Gemeinschaft, als an die säkulare Gesellschaft, in der sie leben.

3. Die Kirche hat sich im Kampf gegen den Säkularismus einen Popanz aufgebaut, der sie schwächt. Die Zahl der expliziten Kirchenfeinde ist heute gegenüber früheren Zeiten, etwa der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, deutlich zurückgegangen, explizite Atheisten finden sich seltener. Vermeintliche Feinde wie der Sozialismus haben sich langfristig als religiöse Konkurrenten, wenn nicht gar als Verbündete im Kampf für soziale Gerechtigkeit erwiesen, vermeintliche Freunde wie die Deutschen Christen dagegen, die zeitweise sogar im Zentrum der kirchlichen Gemeinden saßen, als tatsächliche Feinde. Viele, die heute nicht mehr Kirchenmitglieder sind, stehen gleichwohl an der Seite der Kirchen im Kampf gegen Hunger und Krieg, gegen die Zerstörung der Umwelt und für eine humane Gesellschaft. Den Kirchen wird von weiten Teilen der säkularen Gesellschaft eine Kompetenz in ethischen Fragen zugeschrieben, die auf eine hohe gesellschaftliche Anerkennung schließen lässt. All dies nährt Zweifel am Erkenntniswert einer Kategorie wie Säkularismus. Sie überdeckt aber immer noch die tatsächliche Bedeutung des Säkularen, der Säkularität.

4. Die protestantische Kirche thematisiert zu wenig ihr Verhältnis zur säkularen Gesellschaft. Die säkulare Gesellschaft ist weder der geborene Feind des Christentums noch dessen illegitimes Kind. Sie hat viele Ursprünge, nicht nur religiöse im Christentum, Judentum, Islam und sogar im Konfuzianismus, sondern auch im europäischen Humanismus, im römischen Recht, in der Rationalität des Wirtschaftens, der Bürokratie u.a.m.  Gleichwohl gehört Säkularität zu den christlichen Gesellschaften, in nicht-christlichen Kulturen gibt es dieses Konzept gar nicht. Der Kirche stellt sich die säkulare Gesellschaft aber immer noch in erster Linie als passives Handlungsfeld für die kirchliche Mission dar, nicht als selbst aktiven Dialog- und Handlungspartner. Das zeigen schon die gebräuchlichen Missionskonzepte: Früher erschien in ihnen die säkulare Gesellschaft als der >unbestellte Acker<, der sich der >Saat des Evangeliums< öffnen müsse, heute als der >Markt<, auf dem die Kirchen ihre Botschaft wie eine Ware >anbieten<, um >Kunden< für sie zu gewinnen. Was fehlt, ist – analog zum interreligiösen Dialog – ein Konzept für den Dialog mit der säkularen Gesellschaft, in dem diese nicht nur als Empfänger der christlichen Botschaft, sondern auch als ein Gegenüber begriffen wird, das den Kirchen etwas zu geben hat. Das aber wäre dringend nötig, denn:

5. Die säkulare Gesellschaft ist nicht nur der Resonanzraum, in dem sich die Kirchen heute bewegen, sondern auch das Forum, vor dessen Augen sie sich bewähren müssen. Sie ist es – das wissen wir alle –, die den Kirchen bislang, in Anerkennung ihrer Leistungen für die Gesellschaft, ihre verfassungsrechtliche Privilegierung garantiert hat. Seit der Entstehung einer säkularen Gesellschaft in Europa im 18. Jahrhundert hat es immer breite, und gewöhnlich politisch einflussreiche, Bevölkerungsteile gegeben, die sich als Schiedsrichter in religiösen Auseinandersetzungen zwischen die Fronten gestellt haben, um bald für, bald gegen eine Seite Partei zu ergreifen. Zurzeit von Bismarcks sog. >Kulturkampf< unterstützten sie zum Beispiel die katholische Kirche, zur Zeit des Kirchenkampfes im Dritten Reich letztlich die Bekennende Kirche gegen die Deutschen Christen. Denn sie bildeten, bis weit in die kirchlichen Gemeinden hinein, jene schweigende Mehrheit, um die die Pfarrer beider Seiten buhlten und die sie letztlich vor den Repressionsmaßnahmen der Nationalsozialisten schützten. Auch heute reagiert die säkulare Öffentlichkeit äußerst sensibel darauf, wenn religiöse Gruppen, etwa islamische Verbände, den gesellschaftlichen Frieden bedrohen. Die Kirchen sind weniger allein und gefährdet, als es die rückläufigen Mitgliedschafts- und Teilnahmezahlen suggerieren. Viele säkulare Menschen und Institutionen unterstützen sie, wenn es um gemeinsame Anliegen geht, und deren Anzahl ist groß.

6. Die Bedeutung der säkularen Gesellschaft für die Kirchen reicht allerdings noch deutlich darüber hinaus. Denn die säkulare Gesellschaft tritt ihnen auch als Ideenspender und Partner im Streit um die normativen Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gegenüber. Die wesentlichen normativen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens in der Neuzeit, von den Menschen- und Bürgerrechten der Französischen Revolution bis zum Schutz der Umwelt, sind ja nicht in den Kirchen, sondern im Schoß der säkularen Gesellschaft entstanden. Wenn die christlichen Kirchen deren Ursprung heute häufig für sich reklamieren, so nähren sie einen historischen Irrtum: Die >Freiheit<, die Luther forderte, war die Freiheit eines Christenmenschen, nicht die Freiheit aller Menschen, die erst die Aufklärung im 18. Jahrhundert forderte. Die Gotteskindschaft, die das Neue Testament einklagt, zielt auf eine Gleichheit vor Gott, keine Gleichheit vor dem Gesetz. Es waren zwar jeweils wichtige Ergebnisse theologischer Reflexion, neue säkulare Werte wie den selbständigen Gebrauch der menschlichen Vernunft, soziale Gerechtigkeit auch für die Arbeiterklasse, die Gleichheit der Nationen und die Gleichstellung von Mann und Frau, in den biblischen Schriften fundiert zu finden. Aber deshalb waren sie doch nicht aus ihnen erwachsen. Wir stehen heute vor der Aufgabe, neue säkulare Werte wie die Gewinnung ökologischer Gleichgewichte und die Erhaltung von Kultur und Umwelt für kommende Generationen zu formulieren. Auch hier kann die Gesellschaft von theologischen Reflexionen profitieren, wenn die Kirchen umgekehrt bereit sind, sich auf Debatten darüber mit der säkularen Gesellschaft einzulassen.

7. Dabei ist die säkulare Gesellschaft keine Wertegemeinschaft an sich – darin lag ein Missverständnis älterer Säkularismus-Konzepte. Säkularität ist heute in Europa ein Partei ergreifendes, aber kein autonomes normatives Prinzip mehr. Sie regelt das gewaltfreie Miteinander der Religionen, verdrängt sie aber nicht aus der Gesellschaft. Indem die säkulare Gesellschaft die in ihr lebendigen Erfahrungen und Traditionen mit einander in Beziehung setzt, bringt sie aber auch neue, oft universelle Normen hervor. Säkularität besteht so nicht in einem Bausatz von unveränderlichen Werten, sie wirkt aber gleichwohl wert-produktiv. Doch dies gilt, genau besehen, auch für das Christentum und andere Religionen. Denn auch Religionen transportieren keine ewig konstanten Werte über die Zeiten hinweg, sondern sie halten dazu an, die gegenwärtige Welt im Lichte ihrer überlieferten Schriften und Riten immer wieder neu zu begreifen und zu bewerten. Ebenso wie die säkulare Gesellschaft bieten sie daher eher Bilder und Verfahrensregeln zur Wahrheitsgewinnung als unveränderliche Einsichten und ethische Anweisungen zum gegenwärtigen Handeln.

8. Religion und Säkularität widersprechen einander nicht, sondern beziehen sich wechselseitig auf einander. Zwar unterscheidet sich die religiöse Sprache und Denkweise der Christen oft von der säkularen Sprache und Denkweise, doch darauf, sie wechselseitig auf einander zu beziehen, sind beide angewiesen. Da zeigt sich dann, ob es sich etwa bei religiösen Redewendungen um leere, bloß milieu-konstitutive Floskeln oder um erfahrungsgesättigte Beschreibungen der Wirklichkeit handelt. Noch wichtiger ist es aber bei zentralen gesellschaftlichen Leitbegriffen, religiöse und säkulare Konzepte mit einander abzugleichen und eventuell sogar mit einander zu verschmelzen: Nehmen wir nur z.B. das Konzept der >Umwelt<, das, theologisch als >Gottes Schöpfung< verstanden, eine verantwortungsethische Dimension gewonnen hat, die es als systemtheoretisches Konzept nie hätte gewinnen können. Oder das Konzept der >Frömmigkeit<, das im religiösen Sprachgebrauch seit langem auf den Hund gekommen ist. Wer will schon fromm sein, wenn Frömmigkeit als ein Zeichen von engem und beschränktem Verstand gilt?

9. Was es bedeutet, im Lichte säkularer Diskurse an religiösen Diskursen zu arbeiten, lässt sich am Beispiel der >Frömmigkeit< vielleicht am besten zeigen. Dabei geht es nämlich um etwas, das auch säkulare Menschen dringend benötigen: Sie bezeichnen es zwar mit anderen Ausdrücken: Weitsicht, Verantwortungsbewusstsein, Menschlichkeit, Integrität ... Aber all diese Bedeutungen hatte der Begriff der >Frömmigkeit< einst auch, etwa bei Luther und in protestantischen Kirchenliedern des 17. Jahrhunderts – wenn dort etwa vom >frommen Gott< die Rede ist. Sie sind nur im 18. Jahrhundert verloren gegangen, als sich der Begriff zur Bezeichnung einer spezifisch religiösen Tugend verengte, die dann nur noch von kirchlichen und pietistischen Kreisen hochgehalten wurde. Eine neue säkulare Lesart könnte helfen, das Konzept der >Frömmigkeit< wieder zustimmungsfähiger zu machen.

Säkulare Kontextualisierung ist für alle Religionen lebenswichtig, ebenso wichtig, wie für säkulare Gesellschaften, ihre eigenen Normen im Lichte religiöser Traditionen zu reflektieren. Daraus lassen sich keine schnellen Handlungsanweisungen, kein Sofortprogramm für die nächste "Dekade" ableiten. Aber es lohnt sich, nicht zuletzt deshalb, weil sich >Religion< damit wieder aus dem Ghetto befreien könnte, das ihr als eigengesetzlichem Gesellschaftsbereich von der säkularistischen Systemtheorie zugewiesen worden ist. Es geht beim Verhältnis von Kirche und säkularer Gesellschaft um die geistige und kulturelle Selbstverortung einer religiös geprägten Gesellschaft, und dazu bedarf eines langen Atems, intensiver Besinnung und einer neuen inneren Bereitschaft. Die Wissenschaften können dabei helfen, aber der Wille dazu muss aus den Menschen und Institutionen selbst kommen. 

„Orientierung für eine Kirche im Säkularen“

Prof. Dr. Lucian Hölscher, Bochum